Im Kontinuum des Lärms

von
Franz Schandl

Lärm
dokumentiert die industrielle Bewaffnung der Gesellschaften, zeigt
welche Schlachten der Alltag so schlägt. Wir sind befangen im Sound
des Kapitals.

Wird
es wirklich lauter oder werden wir bloß älter? Sind wir gar
wehleidig? Vielleicht ist es ja ein Zeichen fortschreitender
Mieselsüchtigkeit, solch ein Schwerpunktthema zu setzen. Auch für
mich gab es Zeiten, da hat mich der Lärm wenig gestört, ja er wurde
gesucht und gemacht. Lärm stand für Bewegung, für Aktion. Da war
was los. Sich in Bewegung zu setzen, hieß alarmieren. Auffällig war
der Lärm und auffallen hieß lärmen. Lärm imponiert. Den Lärmenden
sowieso, aber auch den Belärmten. Jede Demonstration war nötiger
Lärm, und so demonstrierten wir als Megaphone der Kritik und
Verstärker der Umwälzung unsere Anliegen. Gelegentlich tun wir es
jetzt auch noch, aber zumeist wollen wir unsere Ruhe haben, kommt mir
vor.

Was
gestern noch beeindruckte, kann morgen schon verärgern:
Lärmempfindungen sind nicht nur
abhängig von Schalldruck, Tonhöhe, Toninhalt, Impulsgehalt. Lärm
wirkt unterschiedlich auf Personen und in Situationen. Beim
jeweiligen Subjekt geht es um Bereitschaft, Verfassung, Form, Alter,
Umgebung, Kondition, Gesundheit, Gewohnheit, Gereiztheit,
Begehrlichkeiten oder Unterwürfigkeiten. Lärm ist kein
physikalischer Zustand, sondern erst psychische Prozesse lassen
Geräusche zum Lärm werden. Die implizite Frage ist, ob das Laute
inadäquat, ob es sekkant ist. Erst dann, wenn es so wirkt, ist von
Lärm zu sprechen. Eine Messung in Dezibel hilft hier nur beschränkt
weiter. Dass Lärm ist, ist offensichtlich, bloß ab wann etwas Lärm
ist, ist um einiges schwieriger zu beantworten. Belästigung und
Belastung sind ebenfalls nicht eins.

Maschinen
und Automaten

Urformen
des Hörbaren sind etwa der Atem, der Schritt, der Laut, der Wind,
der Regen, das Gewitter, der Schrei der Tiere, später dann die
Sprache der Menschen. Diese Geräusche sind sehr divers, während der
heutige Lärm extensiv wie intensiv dimensioniert ist. Auch der Lärm
ist zu historisieren, keineswegs an objektiven und gültigen
Grenzwerten zu katalogisieren.

Die
kapitalistische Gesellschaft ist viel entschiedener vom Lärm
beeinflusst, ja kontaminiert als alle menschlichen Zusammenhänge
zuvor. Erst in der Moderne ist es so richtig laut geworden. Das Leben
der Subjekte ist vom Lärm geprägt. Er ist eine strukturelle
Konstante. Lärm ist nicht mehr sporadisch, sondern beständig. Er
ist eine chronischen Größe, die zwar Schwankungen kennt, aber eben
nie ganz aussetzt. In keinem anderen sozialen Verhältnis spielte die
Stringenz des Lärm eine solche Rolle. Der Kapitalismus setzt nicht
nur seine eigenen akustischen Akzente, er hat vielmehr ein
einzigartiges Kontinuum des Lärms
geschaffen.

Die
moderne Lautstärke ist Folge von Maschinisierung und Motorisierung,
Resultat der Industrialisierung des Lebens. Maschinen und Motoren
machen unnatürlichen und
unerhörten
Lärm. Straße und
Fabrik sind Wirkung und Ursache zugleich. Die Fabrik ist als Hölle
des Lärms entstanden. In ihren ungezügelten Kindheitstagen gab es
da keine Rücksichtnahme. Ganze Generationen wurden den frühen
Exzessen der Industrie geopfert. Im Kapital
heißt es dazu: „Wir deuten nur hin auf die materiellen
Bedingungen, unter denen die Fabrikarbeit verrichtet wird. Alle
Sinnesorgane werden gleichmäßig verletzt durch die künstlich
gesteigerte Temperatur, die mit Abfällen des Rohmaterials
geschwängerte Atmosphäre, den betäubenden Lärm usw., abgesehn von
der Lebensgefahr unter dicht gehäufter Maschinerie, die mit der
Regelmäßigkeit der Jahreszeiten ihre industriellen
Schlachtbulletins produziert.“ (MEW 23, S. 448 f.)

Industrielle
Laute generieren Lautstärken, die wir so früher nicht gekannt
haben. Maschinen aller Art bevölkern den Planeten. Selten sind sie
zurückhaltend, meist sind sie aufdringlich in ihrem Blasen, Brummen,
Burren, Surren, Summen, Schneiden, Schlagen, Sprengen, Fräsen,
Sägen, Hämmern, Plärren, Klappern, Sausen, Saugen, Dröhnen,
Quietschen. Der Lärm weidet im Dasein. Erst im Kapitalismus geht der
Lärm in Serie. Kein Rajon, den er nicht okkupieren will.

Der
den Maschinen inhärente Lärm wird als unliebsames Nebenprodukt, als
Kollateralschaden bagatellisiert, dezidiert nicht als zentrale
Destruktivkraft gesehen. Sein Rhythmus ist jedoch der Rhythmus der
Industrie und all ihrer Erledigungen: Produktion, Transport, Konsum,
Deponierung. Die Musikalität des Raums verliert sich in den Hallen
der Fabriken, in der seriellen Monotonie der Automaten. Man könnte
auch sagen: Maschinen und Fahrzeuge lärmen nicht, sie sind einfach
laut. Die Geräusche, die sie machen, entspringen keinem Verhalten,
sondern einem Programm. Hier liegt auch der tendenzielle Unterschied
zum Krach, den jemand absichtlich erzeugt, um Aufmerksamkeit zu
erregen oder zu provozieren.

Schneller
als lauter

Lapidar heißt es etwa gleich im
ersten Satz einer Studie der Arbeiterkammer: „In den letzten Jahren
hat der Verkehr sowohl auf Straße und Schiene als auch in der Luft
sehr stark zugenommen. Aufgrund der erhöhten Mobilität hat sich
auch die Lärmbelästigung der österreichischen Bevölkerung stark
gesteigert.“ (Manfred T. Kalivoda, Verkehrslärmschutz in
Österreich. Informationen zur Umweltpolitik 135, Wien 1999, S. 1)
Fortschritt wird an Mobilität gemessen. Dynamik ist
allgegenwärtig, Statik war gestern. Man kann gar nicht abbrechen, ja
nicht einmal mehr unterbrechen. Mobilisierung ist des Staatsbürgers
Pflicht. Nicht nur schnell hat es zu gehen, es hat immer schneller zu
werden. Wir leben im Zeitalter der immerwährenden Beschleunigung. Es
herrscht der Komparativ.

Noch
nie wurde so viel transportiert wie heute. Stets wird gefahren und
geflogen. Stets müssen sie anderswo sein, als sie sind. Der Verkehr
wird bestimmt von der unablässigen wie zunehmenden Ortsveränderung
von Menschen und Tieren, Pflanzen und Produkten. Als Waren sind sie
allesamt unruhige Geschöpfe, Gejagte und Getriebene. Der Himmel der
Fahr- und Flugzeuge offenbart sich als Universum des Lärms. Wir
werden zugedröhnt, aber wir nehmen es hin. Der
Lärm ist der Hall des Kapitals, sein unverdauter Rülpser.

Geschwindigkeit
und Lautstärke korrespondieren. Je schneller, desto lauter!
Lautstärke entsteht dabei oft gar
nicht direkt aus den Geräten, sie ist vielmehr der Reibung von
Dingen, die als gegenständliche Resultate eigentlich keinen Lärm
machen (Asphalt, Reifen), durch das Tempo geschuldet. Ein Experte
schreibt: „Wichtigste Lärmquelle bei Geschwindigkeiten ab 50
Stundenkilometern sind Reifen-Fahrbahn-Geräusche sowie
aerodynamische Geräusche. Die dadurch erzeugte Schallintensität
steigt mit der dritten mitunter sogar vierten Potenz der
Geschwindigkeit an. Konkret bedeutet dies bei Tempo 140 eine Zunahme
der Schallintensität um 25 bis 35 Prozent gegenüber Tempo 130.“
(Christoph E. Mandl, „Lernen S’ ein bisschen Physik, Herr
Minister!“, Der Standard,
16. Februar 2019, S. 43)

Lärm
ist ein gesellschaftliches Manko, ohne allerdings als solches
reflektiert zu werden: „Lärm ist im Bewusstsein der Bevölkerung
kein Umweltproblem, sondern ein persönliches Problem. Man kann
Lärmprobleme und die Notwendigkeit von Lärmschutz offensichtlich
nicht so abstrahieren wie Luftverschmutzung oder die Ozonproblematik,
sondern es ist ein persönlicher Anlassfall und die eigene Erfahrung
mit Lärm erforderlich, wenn man sich mit Lärm auseinandersetzt.
Diese Zusammenhänge dürften auch erklären, warum der Lärmschutz
trotz der vielfachen Betroffenheit oft stiefmütterlich behandelt
wird.“ (Manfred T. Kalivoda, Verkehrslärmschutz in Österreich,
S. 4)

Von
der Fabrik in den Alltag

Fabrik
bedeutete lokale Bündelung des Lärms. Die Industrie hat die
Fabriken längst verlassen, sie ist überall. In der Zwischenzeit ist
der Lärm viel dekonzentrierter, was überdies meint, dass er dichter
geworden ist. Nicht nur in den Großstädten. Vorrangiges
Alltagsproblem ist heute der Verkehrslärm, Spitzenreiter sind dabei
die Kraftfahrzeuge. Der Fabriklärm hat (nicht bloß aufgrund von
Arbeitsschutzmaßnahmen) seinen Zenit bereits überschritten.

Die
Unwirtlichkeit der Städte ist vielfach Konsequenz pausenlosen Lärms.
Ständig herrscht Traffic. Jedes Event ein Bahö, ein Spektakel. Doch
wo die Sirenen stets heulen, wird man den Lärm gar nicht mehr als
solchen registrieren. An den standardisierten Lärmquellen (vor allem
des Individualverkehrs) sind wir alle gewohnt, wir dulden sie.
Kontinuierlicher Lärm wirkt diskret, erst seine Diskontinuitäten
wirken indiskret. Aufregen tun wir uns in erster Linie, wenn der Lärm
das obligate Level übersteigt oder überhaupt nicht obligat ist,
z.B. beim Baulärm. Baulärm stresst, er vermindert nicht nur die
Wohn- und Lebensqualität, er macht Betroffene nervös und fahrig.
Man wird ein anderer, noch dazu einer, der man nie sein wollte.
Einmal mehr beweist sich unsere ganze Hilflosigkeit, da wir in den
seltensten Fällen fliehen können. Autoaggressivität nimmt zu.

Dort,
wo der Lärm unvergänglich und unumgänglich erscheint, ist der
Widerstand oft auch schon erlahmt. Erfolge diverser
Anti-Lärm-Initiativen halten sich in Grenzen. Gerät man bei akutem
Krach schnell in Erregung, erfährt das chronische Gedröhn kaum noch
eine Aversion, eher Resignation und Apathie. Bei Maschinen haben wir
den Widerstand aufgegeben, es herrscht Fatalismus. Gegenüber
Menschen halten wir Interventionen für zweckmäßig. Wir leben
jedenfalls in Zeiten, wo Autos weniger nerven als kreischende Kinder.
Es ist bezeichnend, wie eine Gesellschaft sich den Diktaten der
Automaten und Maschinen fügt. Auch
die Beschallung des öffentlichen Raums boomt. In den Supermärkten
spielen sie John Lennons „Imagine!“, möglicherweise noch in der
völligen Missinterpretation von Madonna. Aber vielleicht passt es
dann auch wieder.

Nicht
nur gilt: Wir können mehr erkennen als wir spüren, ebenso
gilt: Wir spüren mehr als wir erkennen. Für die bürgerlichen
Subjekte unserer Zeit heißt das: Lärm ist vielfach etwas, das wir
haben, ohne dass es uns mehr als Besonderheit auffällt. Nicht alles,
was wirkt, erscheint. Während ich hier schreibe, laufen im
Hintergrund sowohl die Waschmaschine als auch der Geschirrspüler.
Mir fiele das unmittelbar gar nicht mehr auf, aber da ich gerade
einen Beitrag zu besagtem Thema verfasse, entgehen mir
diesmal die Geräusche nicht. Aber was heißt entgehen? Sie
entgehen mir auch sonst nicht, bloß nehme ich sie nicht mehr als
gesondert wahr. Sie gehören einfach dazu. Man müsste die
Leute auf Zeitreisen schicken, um eklatante Diskrepanzen sinnlich zu
erfahren. Raumreisen sind dagegen nur ein schwacher Trost, bedenkt
man noch dazu den Lärmaufwand, der alleine schon für den Transport
betrieben werden muss.

Nichtintendierte
Folgen

Keine
Entwicklung ohne Folgen auf die Lautstärke. Hoch die Beschallung der
Welt. Konsequenzen jenseits der Absicht häufen sich. Der Einbau von
Klimaanlagen wird zunehmend zu einem nichtintendierten Knalleffekt
der Klimaerwärmung. Der Klimawandel erhöht nicht nur die
Temperatur, er steigert auch Produktion und Installation von
Klimageräten. Weil die Hitze nicht aufgehalten werden kann, muss es
eben auch lauter werden. Niederschwelliges Surren will und will
sodann nicht aufhören. Um null Uhr schalten sich die Dinger ein und
um drei Uhr schalten sie sich ab. Nach geltenden Gesetzen kein
Problem. Es gleicht einem externen Tinnitus. Oft nervender als jeder
Krach. Gleichförmig, eintönig, unüberhörbar. Wie will man dem im
Bett liegend, entfliehen? Das ist kein Meeresrauschen. Nachtruhe ist
auch nicht mehr das, was sie einmal versprochen und gehalten hat.
Lärm, so lehrt das Beispiel, muss nicht unbedingt laut sein.
Lärmdiagnosen sind sowieso situativ, keineswegs an Dezibel gebunden.

Es
wäre interessant zu wissen, wie laut es bei der Lärmsanierung
zugeht, ob die Aufwände die Ergebnisse nicht übersteigen.
Insbesondere werden keine Ursachen beseitigt, sondern Wirkungen
minimiert. Vor allem jedoch tun sich sofort wieder Geschäftszweige
auf. Probleme sind dazu da, monetarisiert zu werden. Weder Straßen
noch Autos werden weniger, dafür boomen Flüsterbeläge und
Schutzwände, Lärmfilter und Endschalldämpfer.
Der technischen Innovation sind keine Grenzen gesetzt. Wir
reagieren auf Missstände und nicht auf Zustände. Es stören die
Exzesse des Lärms, kaum jedoch die lautstarke Konstitution. Die
haben wir hingenommen, so als könnten wir dagegen nichts
unternehmen.

Jede
sinnlich-stoffliche Rechnung müsste z.B. den Lärmaufwand
berücksichtigen, der nötig ist, Schallschutzwände zu produzieren,
an die entsprechenden Standorte zu transportieren und dort zu
installieren. Nicht nur sagen, um wie viel es an der besagten
Autobahnstrecke leiser wird sondern auch um wie viel es deswegen
lauter werden musste. Kurzum: Lärmschutz erzeugt Lärm. Wir steigen
aus der Spirale nicht aus, sondern drehen weiter an ihr. Und
irgendwann, vergessen wir auch das nicht, müssen diese Wände
erneuert oder abgerissen werden. Presslufthämmer und Sprenggeräte
lassen wiederum grüßen. Probleme werden multipliziert. Wohlgemerkt,
wir sprechen hier dezidiert nicht von den Kosten, sondern benennen
Folgen. Solche Bilanzen sind uns freilich fremd. Unserer
Beeinträchtigungen sind nichts gegenüber den Geschäften, die mit
alledem gemacht werden können.

Von
wegen Lärmschutz: Eines der wenigen Vorteile, die Elektroautos
hätten, wäre die geringere Lautstärke gegenüber
Verbrennungsmotoren bei niedriger Geschwindigkeit. Doch gerade dieser
Umstand führt dazu, dass besagte Fahrzeuge nicht mehr gehört, d.h.
als potenzielle Gefahrenquelle im Verkehr unzureichend wahrgenommen
werden. Was folgt daraus? Nun, man fragt sich nicht, wie man
Automobile insgesamt langsamer und leiser dimensionieren könnte, man
fragt sich, wie man Elektroautos lauter und schneller macht. Denn der
Lärm ist auch
notwendig, um Risken des Individualverkehrs zu minimieren. Dass
solche Argumente einfach akzeptiert werden, lässt auf die
Verrücktheit der automatisierten Spezies schließen.

Lärm
flutet sogar Räume, denen er eigentlich entzogen ist. Wenn es mich
frühmorgens zum Laufen treibt, dann suche ich in erster Linie die
Bewegung, in zweiter Hinsicht auch Ruhe. Das ist gar nicht so
selbstverständlich. Beim Joggen im Schönbrunner Schlosspark
begegnen einem Lieferwägen, Laubbläser, Motorsägen, Rasenmäher,
Zwergtraktoren im Zweitaktermodus. Gelegentlich ist es drinnen lauter
als draußen. Meistens geht es noch gut, ab und zu wird es ungut.

Laut
und Leise

In
der unmittelbaren Konfrontation hat Leise gegen Laut keine Chance.
Das ist übrigens nicht bei allen Gegensätzen so. Prallen Hell und
Dunkel aufeinander, so bleibt entweder der Kontrast vorhanden oder,
kommt es zur Vermischung, finden sich beide Momente in der Mixtur
wieder. Ähnliches gilt für Heiß und Kalt. Mischt man Flüssigkeiten
unterschiedlicher Temperatur, gleichen sich Wärme und Kälte an.

Mischt
man Lautstärken, wird es nicht leiser. Stille hat gegen Lärm das
Nachsehen. Stets. Lärm ist eine repressive Größe. Geräusche, die
unter einem gewissen Level anzusiedeln sind, verschwinden, sind
unhörbar, obwohl vorhanden. Da nur noch das Lauteste registriert
wird, wird alles andere, obwohl existent, verdrängt. Das Ungehörte
erscheint somit als unwirklich. Leises erstirbt regelmäßig
im Lauten, der Lärm in der Stille hingegen nie. Diese Antipoden
heben sich nicht auf. Laut verweist Leise in die Sphäre des
Nicht-Wahrgenommenen.

Lärm
überdeckt vieles, nicht bloß Geräusche mit niedrigerem Pegel, er
beeinträchtigt auch andere sinnliche Reize. Der Lärm bricht des
Lebens Vielfalt, er reduziert unsere Rezeption. Lärm tangiert nicht
nur die Lautstärke. Er verändert die gesamte Umgebung. Lärm
verträgt sich schlecht, spielt sich sofort in den Vordergrund. Es
schmeckt alles anders, wenn es zu laut wird.

Die
permanenten Geräusche (Straße, Stadt, Fabrik, Lokale …)
verdrängen alles, was unter ihrer Frequenz liegt. Wenn allerdings
etwas andauernd lästig ist, wird es nicht mehr als lästig
empfunden, sondern als gegeben, also normal hingenommen. Penetranz
geht in Kontinuität unter. Wir haben uns an den Lärm gewöhnt. Wir
sind ihn gewohnt, er ist fast immer zugegen, und meist wirkt nur noch
Außergewöhnliches unerträglich. Je ruhiger es wird, desto mehr
können wir hören, vor allem nuanciert hören. Und zwar weil der
gesättigte Lärmpegel gefallen ist.

Puncto
Lärm sind wir nicht Hörer, wir sind Hörige. Der Bedrängnis ist
nicht zu entgehen. Bei all dem Lärm nicht Schaden zu nehmen, ist
kaum möglich. Auch physisch. Augen kann man schließen, Ohren
dagegen nicht. Hier hat die Natur keine Klapp- und Schutzvorrichtung
vorgesehen. Auslieferung erfolgt pur. Eine ganz schräge Möglichkeit
äußere Geräusche zu negieren, ist es, Fremdlärm durch Eigenlärm
zu ersetzen. Man stülpt sich Kopfhörer über die Ohren und begegnet
der Welt fortan autistisch. Außenbeschallung wird substituiert,
indem wir sie übertönen. Je lauter man hört, desto schwerhöriger
man wird. „Aus heutiger Perspektive wird deshalb rund jeder dritte
Jugendliche im Alter von 50 Jahren ein Hörgerät brauchen“,
konstatierte eine Expertin am „Tag gegen den Lärm“ am 24. April.

Ruhe
und Stille

Es
ist schon ein Unterschied zwischen: „Sei ruhig!“ und „Gib
Ruhe!“. Das Wort „ruhig“ ist primär ein Adjektiv der
Lautstärke. „Ruhe“ andererseits ist ein Substantiv, das
wesentlich mehr umfasst als die erwähnte Dimension. Auch ist
zwischen „der Ruhe“ und „dem Ruhigen“ zu differenzieren. Ruhe
ist leise, sie ist nicht lautlos, aber lärmarm. Sie kredenzt
Absichtslosigkeit, sie muss nicht liefern, transportieren,
produzieren, kommunizieren. Sie genügt sich selbst, sie ist
genügsam. Ruhe schreit nicht.

Ruhe
ist nicht gleich Stille. Ruhe ist vielmehr gesättigt und geladen mit
leisen Tönen: dem Rauschen des Windes, dem Rascheln der Blätter,
dem Gezwitscher der Vögel, vielleicht auch noch mit dem Surren der
Motoren, wenn sie nur weit genug weg sind. In der Ruhe herrscht der
Ton, nicht die Tonlosigkeit. Wer den Übergang von Ruhe zur Stille
lauschen will, der höre Gustav Mahlers letzten Satz aus seiner
Neunten Symphonie, vor allem den Schluss des Adagio. Im Gegensatz zur
Stille ist Ruhe nicht gespenstisch, sondern ruhig und damit auch
beruhigend. Sie liegt auf uns, ohne auf uns zu lasten. Ruhe offeriert
die Gemächlichkeit einer lebendigen aber moderaten Bewegung. Sie
formiert sich ohne Aufdringlichkeit und Drangsalierung. Gleitet.
Besänftigt. Ist mild.

Doch
auch Ruhe kann es in sich haben. Denken wir an den tückischen
Frieden des Waldes, dieses wohltemperierte Rauschen, das uns angenehm
berührt, unser Gemüt streichelt. Aber gerade des Waldes Klang ist,
sind wir ehrlich, durchdrungen vom Töten und Getötet-Werden. Das
Knistern und Knacken ist nicht so anheimelnd, wie wir uns einbilden.
Was uns wohlig erscheint, kostet immerfort Leben, da west das
Sterben. In dieser Behaglichkeit haust der Tod und damit ist nicht
der Jäger gemeint. Lebensläufe bedeuten dort insbesondere ein
Laufen um das Leben, ein Nachlaufen und ein Davonlaufen. Während wir
uns erholen, werden andere ein letztes Mal abgeholt. Mit Begriffen
der Sozietät ist das schwer zu fassen. Das aber nur nebenbei, damit
nicht der unselige Verdacht entsteht, hier wird eine heile Natur
gegen eine böse Kultur verteidigt.

Leidensschlüsse

Gehört
das Geräusch zu den Räuschen? Kategorial nicht unbedingt, trotzdem
sollten wir nicht vorschnell Nein sagen. Ein fulminantes Konzert ist
zweifellos ein sinnlicher Rausch. Lautstärke fungiert hier als
Aufputschmittel. Ohne einer bestimmte Anzahl von Dezibel würde das
nicht gelingen. Man denke an diverse Rockevents. Indes, Räusche sind
nicht gleich Räusche. Handygeräusche
sind auch irgendwie Räusche, Räusche, die via Klingelzeichen
Zustimmung erheischen. Wir sind nicht nur anrufbar, wir sind abrufbar
geworden. Es gleicht einem unsinnlichen Dauerrausch. Andauernd
bimmelt es. Kaum werde ich angecallt oder angesmst, habe ich zu
reagieren. Nebenbei bemerkt zwingen Mobiltelefone zum ständigen
Mithören von Gesprächsfetzen. Es ist so, als würde man en passant
angerotzt.

Ist
pulsierendes Leben ohne lautes Dasein zu haben? Sicher nicht, aber
daraus ist nicht zu schließen, dass die beiden gleichzusetzen wären.
Das Leben ist kein Spektakel, auch wenn es einem so präsentiert
wird. Es ist zweifellos ein Unterschied, ob das Laute einen
Einschnitt im Alltag darstellt oder ob es selbst das Kontinuum
ausmacht. Lärm hat als positive Facette des Lebens durchaus seine
Meriten, aber eben bloß als expliziter Aspekt, nicht als implizites
Hintergrundrauschen gegen das es keine Mittel mehr gibt. Solch
Ohnmacht ist nicht zu akzeptieren, sondern zu denunzieren.

Nicht
jeder Lärm ist eine Lärmbelästigung. Auch laut mag es gelegentlich
zugehen, aber wann und wo und zu welchem Anlass, das sollten wir
selbst entscheiden und nicht die Geschäfte, die damit gemacht
werden. Insbesondere Schweigen und Nichtstun sind zu kultivieren.
Anstatt uns gegenseitig in Mitleidenschaft zu ziehen, sollten wir zur
Leidenschaft anstiften.