Gesamteuropäischer Großnationalismus

von Ortwin Rosner

Von „richtigen Europäern“, „Pro-“ und „Anti-Europäern“,
„Europafeinden“, „wahrhaftem Europäertum“ und dem gefährlichen Spiel der
Sprache

Das Wort „Europa“ hat heute einen wesentlich anderen Klang
als es in meiner Kindheit der Fall war. Die Jüngeren unter uns wissen es wohl
nicht mehr, aber damals, ja damals war es noch ein freier, ein ungezwungener
Klang, den das Wort „Europa“ hatte, damals, bevor die „Europäische Union“ den
Begriff für sich besetzte. Das waren noch Zeiten, als „Europa“ noch nicht zum
Kampfbegriff vergoren war, der einem ständig um die Ohren gehauen wird, mit dem
man politische Gegner niedermacht und mit dem man sich selbst beweihräuchert.
Ja, das waren noch Zeiten, als einem noch nicht fortwährend
Leitartikelschreiber und Politiker mit dem erhobenen Zeigefinger erklärt haben,
wie man denken, fühlen, handeln und natürlich auch abstimmen und wählen müsse,
um ein „richtiger Europäer“ zu sein.

Europa: Die Instrumentalisierung
eines Begriffs

Damals wäre auch niemand auf die Idee gekommen, jemandem
das „Europäertum“ abzuerkennen, wie das heutzutage schon dem einen oder anderen
Politiker oder seinen Anhängern geschehen kann. Und es wurden nicht andauernd
„Bekenntnisse zu Europa“ von einem eingefordert. Das Wort „Europa“ war noch
nicht vergiftet. Es hatte noch nicht den autoritären, unduldsamen, ja
terroristischen Ton, den es heute vermittelt. Das „Europäertum“ war noch kein
Imperativ. Der Begriff „Europa“ war noch nicht politisch instrumentalisiert. Es
wurde einem nicht ununterbrochen erklärt, dass man „pro-europäisch“ sein müsse.
Diese Forderung hätte schlicht keinen Sinn ergeben. Niemand hätte sie
verstanden. Und es wurde einem auch nicht immerzu damit gedroht, dass man für
„anti-europäisch“ oder „europafeindlich“ gehalten werden könnte, wenn man so
oder so denke.

Ja, in gewissem Sinn waren diese Zeiten schön, in denen
man noch ein unverkrampftes Verhältnis zu dem Wort „Europa“ haben konnte. Ohne
all die Ruten im Fenster. Ein Wort, das noch frei war von all den
Vereinnahmungen, Verschwörungen und Feindbildern. Klar, es gab den „Westen“,
und dieser Begriff übernahm damals die ideologischen Funktionen. Wer den
„Westen“ in Frage stellte, der war ja schon so eine Art Vaterlandsverräter.

Heute hingegen kann man schnell wie ein solcher an den
Pranger gestellt werden, wenn man das Projekt der „europäischen Einigung“ in
Frage stellt, zu dem man sich gefälligst als „aufrechter Europäer“ zu bekennen
habe. Lauter Schlagwörter und Kampfbegriffe, die es früher nicht gab.

Europa als großnationalistisches
Projekt

Historische Parallelen drängen sich auf, angesichts
solcher Formulierungen, deren struktureller Rassismus unverkennbar ist.
Parallelen, von denen die „aufrechten Europäer“ freilich weniger gern etwas
hören. Tatsächlich erinnert aber vieles hier an die Nationsbildung Deutschlands
während des 19. Jahrhunderts. Viele Kleinstaaten mit ihren Eigeninteressen
mussten dazu überredet werden, sich zu einem Großreich zusammenzuschließen.

Die Europäische Union ist darum auch keineswegs das
Gegenstück zum Nationalismus, als das sie sich gerne verkauft. Im Gegenteil,
sie ist ein solches Großreich und selber Träger von Nationalismus. Das ist
unübersehbar. Derselbe Patriotismus, den die einzelnen Länder für sich so gerne
einfordern, der wird auch hier ständig eingefordert, nur in Bezug auf ein
größeres politisches Gebilde, das ist alles. Dieselben Gefühle und Bindungen,
die man dem Nationalismus zuordnet, werden auch hier von einem verlangt, und
zwar ständig.

Wo wäre aber der prinzipielle Unterschied, ob sich jemand
zum „Deutschtum“, zum „Österreichertum“, zum „Slawentum“, zu „Großbritannien“
oder eben zum „Europäertum“ zu bekennen hat?

Wenn also die Regierungen der einzelnen Länder mit Brüssel
im Streit liegen, dann stehen hier weniger Nationalisten gegen
Anti-Nationalisten, vielmehr handelt es sich hier bloß um zwei verschiedene
Ausformungen des Nationalismus, die miteinander in Konkurrenz stehen und um die
Vorherrschaft kämpfen, eine kleinräumige und eine großräumige.

Europa und seine Feindbilder

Für diese Diagnose spricht auch etwas anderes. Jede
Nation, jeder Nationalismus braucht Feinde, um sich zu konsolidieren. Äußere,
aber auch innere Feinde. Jede Nation braucht für ihre Identitätsbildung die
Unterteilung in „wir“ und „die anderen“. Ganze Bücher sind über das Thema
geschrieben worden, vorwiegend Analysen der rhetorischen Strategien der
Rechtspopulisten.

Umso erstaunlicher ist der Umstand, dass dabei nicht
bemerkt wurde, dass diese Unterteilung keineswegs ein Exklusivmerkmal der
„anti-europäischen“ Rechtspopulisten darstellt, sondern auch genauso für die
Rhetorik der „Pro-Europäer“ kennzeichnend ist.

Ja, manchmal hat man den Eindruck, dass es sich bei der
Europäischen Union um ein politisches Gebilde handelt, das sich ideologisch
überhaupt nur mehr dadurch am Leben erhalten kann, dass es ständig neue
Feinbilder erschafft. Was wäre schließlich Europa ohne Putin? So viel wie der
Pfarrer ohne die Sünde.

Jedes Mal jedoch, wenn einer auch nur leise die
überbordende Schwarzweißmalerei in den Konflikten mit Russland in Frage stellt
und dafür natürlich unverzüglich in aller Öffentlichkeit als „Putinversteher“
gebrandmarkt wird, wird ein Stück Europa erschaffen. Denn so wie jeder richtige
Nationalismus braucht auch der Europa-Nationalismus für sein ideologisches
Überleben nicht nur die äußeren Feinde, sondern gleichfalls die inneren. Was
wäre man beispielsweise ohne die Visegrád-Staaten, die man als die Bad Boys vorführen
kann, um demgegenüber als „richtiger Europäer“ zu posieren?

Der Schatten Europas: Die
Rechtspopulisten

Von daher lässt sich auch die eigentümliche dialektische
Beziehung zwischen Europa und seinen Rechtspopulisten verstehen. Europa und die
Nationalisten waren nie absolute Gegensätze, vielmehr sind sie auf äußerst
komplexe Weise aufeinander bezogen. Der Nationalismus folgt der Europäischen
Union wie ihr verleugneter Schatten und enthüllt damit ihr eigenes Wesen eher,
als dass er ihm entgegenstünde. Die Pro-Europäer tun sich so schwer, ein Mittel
gegen die Nationalisten zu finden, weil sie ihnen zu ähnlich sind. Die
Rechtspopulisten Europas können schließlich mit ihrem Nationalismus auf jenem
Nationalismus aufbauen, der nach wie vor unbefragtes kollektives Gedankengut
ist, auch bei jenen, die sich für Gegner des Nationalismus halten. Wer das
Europäertum beschwört, der schreit eben schon „Wir gegen die anderen!“, der
schreit eben schon „Macht die Grenzen dicht!“, und der schreit damit eben schon
„Kurz!“, „Strache!“, „Orban!“.

Das „Europäertum“ ist darum kein Gegenrezept gegen die
Populisten, sondern betreibt immer schon deren Geschäft – und vice versa. Es
ist kein so weiter Schritt, wie man uns glauben lassen will, von der
Schwafelrhetorik „echten Europäertums“ zu der weihevollen Verherrlichung des
Kreuzes an der Wand oder gar dem schicksalsträchtigen Lob auf eine „wahrhaft
nationalsozialistische Gesinnung“.

Letzteres mag ein drastischer Vergleich sein, aber der
Totalitarismus beginnt – das haben so unterschiedliche Denker wie Karl Popper
und Wilhelm Reich erkannt – sobald Kollektivbegriffe und abstrakte Gebilde
(Nation, Vaterland, Rasse, Klasse, Weltrevolution) eine Art Vergöttlichung
erfahren und von dort aus der Geschichte einen Sinn zu geben versucht wird.
Nichts anderes aber drückt sich in den immer wiederkehrenden Slogans der
Politiker und Journalisten aus, die stets ihre „Sorge um Europa“ in den
Mittelpunkt rücken. Nicht von einer Sorge um die wirklichen „Menschen in
Europa“ und überhaupt auf der Welt ist da wohlgemerkt die Rede, sondern
„Europa“ ist es, um das man sich sorgt. Haben die Menschen aber mit Europa ein
Problem, sind sie nicht bereit, sich dem „europäischen Interesse“ so zu
unterwerfen, wie man das von ihnen erwartet – so wird so getan, als ob mit
ihnen etwas falsch sei. Schließlich sei doch das, um das es hier gehe,
„alternativlos“, wie dann auch oft gesagt wird. Dass die Menschen dann lieber
den Populisten in die Arme laufen, die Menschennähe zumindest besser
vortäuschen, das verwundert noch?

Dehnbare Menschenrechte

Man mag dagegen viele Einwände vorbringen. Beispielsweise,
dass Europa entschieden für die „Menschenrechte“ eintrete, wie die Populisten
und Nationalisten der Welt, Orban, Putin oder Trump das nicht tun, und dass
schon darum auch der Vergleich mit irgendwelchen totalitären Regimen vollkommen
unpassend sei.

Das Problem damit ist, dass der Begriff „Menschenrechte“
in den letzten Jahrzehnten seinerseits von verschiedensten Seiten derart
politisch ausgeschlachtet und instrumentalisiert worden ist, dass sogar Kriege
in seinem Namen geführt wurden und man gar nicht mehr so sicher sein kann, was
daran Maskerade und was Wahrheit ist.

Wie doppelbödig und dehnbar die Beziehung Europas zu den
Menschenrechten sein kann, hat sich etwa, um hier nur ein Beispiel zu nennen,
im Verhältnis zu China erwiesen. Einerseits wurde 1989 von westlichen
Journalisten über ein Massaker am Tian’anmen Platz berichtet, das es übrigens
dort nie gab – vermutlich wurden Tausende bei den Studentenaufständen in Peking
getötet, jedoch eben gerade nicht am Tian’anmen Platz
–, das aber zum Inbegriff der Menschenrechtsverletzungen in China wurde.
Andererseits beschränkten sich in der Folge die Proteste europäischer Länder
gegen die tatsächlich bedenkliche Menschenrechtssituation in China bloß auf
symbolische Akte. 2007 etwa gab es ein Treffen von Deutschlands Bundeskanzlerin
Angela Merkel mit dem Dalai Lama, weil ihr das ihre Beraterin, Beate Baumann,
nahegelegt hatte. Sie meinte, das würde das Image ihrer Chefin heben.
Inzwischen hat aber auch das ganz aufgehört. Der Grund ist einfach: Die
Geschäfte mit China sind für Europa einfach einträglicher als ein Bestehen auf
den Menschenrechten.

Hierin – und nicht etwa, wie es einer weit verbreiteten
und zuletzt von dem Historiker Timothy Snyder in einem Standard-Interview
vom 25. Juni 2018 vertretenen Auffassung zufolge heißt, darin, dass Putins
Agenten die westlichen Medien und das Internet unterwandern – liegt auch der
wahre Grund dafür, dass die europäische Einheitsfront gegen Putin bröckelt: Für
die europäischen Großkonzerne sind einfach die wirtschaftlichen Beziehungen
Europas zu Russland von zu großer Bedeutung. Schon darum kann sich Putin
beruhigt zurücklehnen.

Das ändert freilich nichts an der anhaltenden Anti-Putin-Rhetorik
europäischer Politiker und Journalisten. Denn für Europa selbst gilt genau das,
was sie immer von Putins Russland sagen: Es braucht ständig Feindbilder, um
sich stabil zu halten.

Der Vater aller Nationen

Das Wort „Europa“ hat in den letzten Jahrzehnten einen
Wandel erfahren, es hat eine propagandistische Bedeutung bekommen, ja, dieses
Wort ist Kampf und Krieg geworden, Krieg, wie es dieses Wort vorher nie war,
wenn es auch Krieg in Europa gab. Vorläufig ist es nur ein Krieg der Worte.
Aber Kriege von Worten legen Brücken zu tatsächlichen Kriegen.

Vielleicht könnte man sich an diesem Punkt einmal bemühen,
die narzisstische Position zu verlassen, und versuchen, die Außenperspektive
einzunehmen. Möglicherweise gelangt man dann zu ein bisschen Verständnis dafür,
warum man anderswo dem Projekt der „europäischen Einigung“ Misstrauen
entgegenbringt, entgegenbringen muss, und wenig Sympathie für seine
Verwirklichung hegt.

Aus unserer narzisstischen Euro-Perspektive etwa ist Putin
einfach ein Nationalist, der sich scheinbar grundlos, einfach weil er der
Bösewicht ist, Europa, das die „Menschenrechte“ vertritt, beispielsweise im
Fall der Ukraine in den Weg stellt. Aber kommt einmal jemand auf die Idee, dass
aus der Perspektive Russlands dasselbe Wort „Europa“ bloß für eine benachbarte,
beinhart und egoistisch ihre Interessen vertretende Großmacht steht, deren
Expansionsbestrebungen man nicht zu Unrecht mit nicht weniger Skepsis
betrachtet, ja betrachten muss, als aus unserer Sicht ein Wiedererstarken
Russlands?

Blicken wir wieder zurück auf das Beispiel Deutschlands.
Die deutschen Länder fanden erst durch den Deutsch-Französischen Krieg
1870/1871 zu einem Reich zusammen. Weniger das friedliche, organische Wachstum,
wie es noch der Goethe-Zeitgenosse Johann Gottfried Herder erträumte, sondern
vielmehr der Krieg erwies sich als Vater aller Nationen.

Vielleicht ist die Wahrheit im Fall der europäischen
Supernation, dass auch sie erst so richtig entstehen kann, wenn man gemeinsam
gegen jemanden Krieg führt. Vorläufig noch handelt es sich bloß um einen Krieg
der Sanktionen gegen Russland. Und eine Art Krieg, oder jedenfalls einen
verbissenen Abwehrkampf, führt Europa gerade zur Zeit ebenso immer deutlicher
gegen unerwünschte, aus nicht-europäischen Ländern stammende Flüchtlinge und
Migranten.

Gesamteuropäischer Nationalismus

Es ist nämlich nicht wahr, dass für den Widerstand gegen
die Einwanderung nur rückständige kleinstaatlich-nationalistische Bestrebungen
verantwortlich sind, auch wenn das gelegentlich so unterstellt wird. Wer
Stellungnahmen, Kommentare und Postings dazu aufmerksam studiert, dem wird
nicht entgehen, wie sehr dabei die Identifikation mit Europa, mit dem
europäischen Kulturraum eine Rolle spielt, in dem die Einwanderer großteils nur
als Störenfriede oder wirtschaftliche Schädlinge wahrgenommen werden – was
freilich bloß die Kehrseite ihrer ebenso eurozentristischen Romantisierung als
Träger multikulturalistischer Segnungen und ihrer Verklärung als
Arbeitskräftepotential durch die Wirtschaftskammer darstellt.

Vor einigen Jahrzehnten noch hat man sich dasselbe von
Tschechen, Polen und Ungarn gedacht – „Die sind ja nicht wie wir!“ hat man
gesagt –, nun aber fühlt man sich mit denen, was das betrifft, also die
Bedrohung durch außereuropäische Einwanderer, im selben Boot sitzend. Man sieht
also, wie wenig die gängigen Zuschreibungen mehr stimmen und wie verwirrend in
Wahrheit alles ist. Hier, gerade in dem Diskurs, der von „europafeindlichen
Rechtspopulisten“ angeführt wird, formiert sich allmählich so etwas wie ein
echter gesamteuropäischer Nationalismus. So könnte es also paradoxerweise deren
Verdienst sein, wenn die „europäische Einigung“ glückt.