Bleibt dann wohl nur das „Haben“

von Karl Kollmann

Wenn es noch immer nichts wird mit einem geglückten „Sein“, dann kann man sich nur auf das „Haben“ stürzen und sich mit ein klein bißchen Luxus entschädigen. Das könnte ein schnoddriges Kurzrésumé von Erich Fromms Buch „Haben oder Sein“ abgeben, wenn es jemand nach vierzig Jahren erneut zur Hand nimmt. Leider!

Natürlich ist es – abgesehen von Schmerzen, Krankheiten und Gewalt durch Andere – eine ganz große Quelle von persönlichem Leid, wenn die Welt nicht so ist oder so wird, wie einer sie nach eigenem Dafürhalten gern hätte. Das macht persönliches Leid, kann jedoch vielfach Antrieb zu Veränderungen sein; genau darauf gründet alles, was sich fortschrittlich nennt, egal nun, ob es heute als „links“, „liberal“ oder „konservativ“ daherkommt oder so bezeichnet wird. Sich Fortschritt, verstanden als ein besseres Leben, zu wünschen, ist unabhängig von links oder rechts, unsere Kant’sche „Aufklärung“ (bediene Dich selbst Deines Verstandes) war nicht links.

Die Auflösung der Linken

Selbstmitleid und Selbstzensur – beides ist eine unerbittliche Konsequenz der Sehnsucht nach einem besseren Leben, damit nach einer irgendwie gerechteren, weniger gewaltsamen Gesellschaft, und genau so etwas wäre dann „links“, wenn es sich in entsprechende Tätigkeiten umsetzen ließe. Jedoch, da hat sich wenig getan seit 1524, also den ersten Aufständen von Bauern gegenüber ihrer feudalen Obrigkeit und dem Klerus; erinnert sei an Thomas Müntzer. Seit damals hat es viele Aufstände, viel an Rebellion gegeben, aber wirklich, also ernsthaft qualitativ geändert hat sich mit der Gesellschaft nicht viel. Unrecht, Macht, Ausbeutung, Gewalt und Leid sind geblieben, freilich meist in weit subtileren Formen, samt einem zweifellos ganz wesentlich höheren Lebensstandard.

Wie in einer gigantischen viralen Epidemie ist es heute so, als ob der Großteil der sich als linksliberal verstehenden Gesellschaftshälfte (in Deutschland, in Österreich sind es deutlich weniger Linksgetönte) von materiellen Fragen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit auf ideelle Fragen kultureller Ungerechtigkeit umgepolt worden wäre. Heute geben, bis auf kleine Gruppen, Befindlichkeits- und Identitätspolitik den Ton an, statt einer ökonomieorientierten Sozialpolitik; das ist sehr praktisch für das System des Spätkapitalismus. Vor pathologischen „Schneeflöckchen“, die sich bei jeder gefühlten Ungerechtigkeit in die Hose machen oder in Schreikrämpfe ausbrechen, braucht der militärisch-industriell-politisch-mediale „Komplex“ nämlich keine Furcht mehr zu haben, die zerreiben sich selbst und bringen später einmal die Gesundheits- und Therapieindustrie zu neuen Blüten. Was sich als zeitgenössischer kleiner Wahnsinn von Diversity, SJW (Social Justice Warrior) und Identitätspolitik manifestiert, sollte und müsste an sich entsprechend benannt und gebannt werden. Das alles taugt nämlich nichts für authentische Veränderung, es bleibt kindisch und albern. Vielleicht kämen dann wieder mehr Menschen auf die Idee, über materielle Gerechtigkeit in Europa nachzudenken, oder was Freiheit denn nun wirklich wäre.

Der kleine Luxus

Wenn das Sein für den subjektiven Sinn nicht viel taugt, dann bleibt offenbar nur das Haben, das zum haltgebenden Charakter in einer fluiden Gesellschaft (wie Zygmunt Bauman das genannt hat) wird. Nein – es wird nicht, das war mit dem Haben genau besehen doch immer schon so. Stets haben Menschen mehrheitlich auf „Haben“ gesetzt und dem Habenwollen nachgegeben.

Die sogenannte alternative 1968er-Generation hat sich ebenfalls an ihre Wohlstandswaren gehängt, ähnlich wie die verachtete Mehrheit, sie waren halt teilweise aus einem anderen Sortiment. Esoterik, neue Musik, Drogen, Shabby Chic und ungewohnte Accessoires, bis zu kleinen Tabubrüchen und dazu etwas aus dem Luxussortiment, beim Essen, Trinken ab und zu, und natürlich bei den Schallplattenspielern und Lautsprecherboxen. Das ist keine Erfindung der Hipster-Mode aus den 1990ern, sondern das ist sogenannte alternative 1968er-Attitüde gewesen, selbst beim dezidiert links-politischen Flügel. Mit dem Auto war das so eine fatale Sache, die 2CV- oder R4-Fahrer wären meiner bescheidenen empirischen Erfahrung nach mehrheitlich gern einen Porsche gefahren, wenn nur das Geld gereicht hätte. Das Auto war ein gutes Objekt für praktizierte Selbstzensur: ein teures hat es nicht gespielt also geht es ohnedies, als allgemeine Regel, gar nicht, denn das wäre ja praktizierter Kapitalismus pur! Aber man muss da nicht in die alten Details hineinsteigen, wie sich die alternativen Leute damals in ihr Weltbild zurechtgebogen haben.

Die Falle

Kleiner (aber ebenso großer) Luxus, den man sich leistet, das Außergewöhnliche, hält nur für kurze Zeit. Nach spätestens vierzehn Tagen hat man sich schnell daran gewöhnt und das Kapriziöse, das vorher Herausgehobene, Besondere, ist unversehens zur üblichen, zur faden Normalität abgesunken. Insofern verschafft der „Ratchet“-Effekt (Ratchet – Sperrklinke) dem Gewohnheitstier Mensch einen stetigen Zwang zur Erneuerung, zu Innovation, zu immer mehr Luxus, sofern eben das Geld reicht; Thorstein Veblen (Theorie der feinen Leute) hat das für die Klassen der Bourgeoisie aufwärts schon früh beschrieben, Georg Simmel, der sich eine Zeit lang als Sozialist verstanden hat (Philosophie des Geldes) ähnlich.

Grundbedürfnisse entwickeln sich rasch zu „Begehrlichkeiten“ (Werner Böhme: Ästhetischer Kapitalismus), also zu sekundären Bedürfnissen, und die sind nicht mehr so simpel sättigbar wie Hunger oder Sex; das was Hersteller heute anbieten, hat dann eben einfach kein Ende mehr und die Menschen kaufen. Dies auszunützen ist das simple Geheimnis des Kapitalismus, und es sich gefallen zu lassen, ist das grundsätzliche Problem, es ist das Versäumnis der Konsumenten, die Menschen heute zuallererst sind und sein wollen.

Eine dritte Natur

Tatsächlich sind diese sekundären Bedürfnisse, die unendlich steigerbar sind, der viele kleine Luxus, den man sich gönnen will, und insofern gönnen muss, da die anderen aus dem eigenen Milieu das auch tun, jene Schienen, auf denen der Spätkapitalismus in die Zukunft fährt. Die unbändige Lust an persönlicher Ausstattung, Komfort, Lebensgefühl, Stil-Bekenntnis, Teilhabe, Anerkennung, Beneidetwerden, Genuss, kreist primär um den „Inszenierungswert“ der Güter (Gernot Böhme). Diese Lust hat eine intensive ideelle Komponente – wäre sie nur materialistisch, dann würden die Menschen die Preisschilder an ihren Konsumgütern dranlassen, so dass man ihre Leistung mit einem Blick sehen könnte. In der Art: aha, sie ist heute mit 10.000 Euro Textilien, Accessoires und einem 50.000 Euro Auto bekleidet. Das läuft alles subtiler, mehrdeutiger, weitaus variantenreicher im Ausdruck, zeit- und reflexionsaufwendiger.

Die zweite Natur des Menschen war das gesellschaftliche und ökonomische Geflecht, das sich über simple Triebbefriedigung (und öfter noch: den Befriedigungsaufschub) legte. Das Freud’sche Realitätsprinzip in glasklarer Härte, das sich später als Marcuse’sches Leistungsprinzip offenbarte. Was zählt, ist Erfolg im Beruf (gegebenenfalls auch als Krimineller), denn davon rührt der Erfolg beim Konsum. Und da die Verlockungen der Konsumangebote unendlich groß sind – wer strebt nicht nach mehr Lebensqualität? – bleiben Menschen fügsam, stellen die reale Struktur nicht in Frage. Das wollen sie einfach nicht.

Jedoch, im mittlerweile fortentwickelten Spätkapitalismus, dem nunmehr nach 1989 alleinig relevanten Lebenswelt-System (China und Kuba sind da nur Nachzügler), hat das alte ökonomische Geflecht der marktwirtschaftlich materiell-ökonomischen Bedarfsdeckung an Bedeutung verloren. Es wurde durch den werblich applizierten „Inszenierungswert“ der Güter ergänzt bzw. ersetzt. Das heißt, es hat sich eine Art dritte Natur des Menschen herausgebildet, die vom Materiellen technisch abgelöst, fiktionale Erlebniswelten schafft und damit auf eine breite Resonanz bei den Menschen gestoßen ist. Die meisten wollen diese dritte Lebenswelt und fühlen sich wohl damit. Sie (die armen ausgebeuteten Subjekte aus traditioneller Sicht) sind jetzt zu Mitveranstaltern und Darstellern bei diesen Ensembles der Inszenierungswerte geworden. Damit ist man ziemlich immun gegen Veränderung, Aufstand, Rebellion, das interessiert heute nicht mehr. Für die große Mehrheit ist das Bestehende einfach okay (selbst für die Verlierer), und die erreichten Konsumstandards sind zu sichern, alles andere gilt als weltfremd.

Gesellschaftliches Wohlverhalten

Zurück zum Thema selbst. Andererseits spricht gar nichts gegen etwas Luxus; ein Mensch lebt immerhin nur einmal und am Ende ist es endgültig aus. Altern, Krankheit und der Tod votieren also für das Außergewöhnliche und etwas Teurere, ja warum denn nicht. Nur die beschränkten finanziellen Möglichkeiten und dann der Geiz, der vielen Menschen inhärent ist, oder die alte Generationenvorsorge (fürs Enkerl sparen) halten dagegen. Natürlich: Konsumenten sind von vornherein benachteiligt. Sie wissen wenig (da sind ihnen die Anbieter voraus), sie kennen sich rechtlich nicht so gut aus (da sind ebenso die Anbieter im Vorteil), sie sind kaum zu organisieren (auch da haben Anbieter einen wesentlichen Vorteil), und vor allem: sie halten werbliche Images für eigene, persönliche Motive. Verbraucher sind damit ökonomisch grundsätzlich Verlierer.

Sich selbst gegen schlechte Umstände zu wehren, wäre wohl der entscheidende Schlüssel für Veränderung, egal ob es um die Plutokratien in Afrika geht oder den Konsumwahnsinn in Nordamerika und Europa. Gutmütig helfender Paternalismus ist da nichts anderes als Valium. Wer unzufrieden ist, soll sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und die Wirklichkeit gestalten, statt im Kaffeehaus zu sitzen und Märchen zu erzählen. Das gilt für wohlstandsverwahrloste Schneeflöckchen und ebenso für Migranten. Aber nein, das konsumistische Wohlstandsversprechen und die bunte Warenwelt haben längst die ganze Welt verseucht. Für Prolls sind Guchi-Taschen und Levys-Jeans essentiell, für die untere Mittelschicht die aktuelle SUV-Marke und der Traum vom Eigenheim im Grünen, für die gehobene Mittelschicht die Frage nach der passenden, teuren, mechanischen Schweizer Uhr und dem ultimativen Malt-Whisky. Linksliberale und Grüne bemühen sich daneben um Bio- und Regionalwaren, schönen Strom, Jute statt Plastik (wie vor 30 Jahren), dazu Manufactum, oder was sonst gerade chic ist. Das sollte man nicht sagen, da man sich damit unbeliebt macht, aber diese Konsumenten sind besonders anfällig für das, was als „premium mediocrity“ (ribbonforum.com) speziell für sie produziert wird. Der Spätkapitalismus ist schlauer als seine Verbraucher.

Das Zeitalter der sexuellen Attraktivität oder der romantischen Liebe (eine seit dem neunzehnten Jahrhundert sich breit machende Idee) scheint bald wieder vorbei zu sein. Eine aktuelle Studie der Deutschen Bundesbank zeigt, dass für die Wahl eines dauerhaften Partners dessen zu erwartendes Erbe in einem hohen Maß bedeutsam ist. Konsumfähigkeit, also das Ensemble der Selbstdarstellungs- und Inszenierungsmöglichkeiten sich zu erhalten, ist den Menschen wichtig. Diese machen die subjektive Identität der Menschen aus. In unseren längst schon oberflächlich grün inspirierten Erziehungsrepubliken erodiert die Meinungsfreiheit, bei einem blöden, missglückten Witz über Frauen oder nichteinheimische Analphabeten kann sich einer schnell vor dem Strafrichter wiederfinden; persönliche Lebenswelten zu zerstören ist heute in Ordnung, wenn es „der guten Sache“ dient.

Weit haben wir es gebracht. Denn über Arme darf man sich ungestraft lustig machen und sie verachten. Auch unter Mitwirkung der Sozialdemokraten und der Grünen hat man diesen Armen das Leben sozialpolitisch schwer gemacht, Stichworte: Lohnentwicklung des unteren Drittels, eine seit Jahrzehnten fehlende Arbeitszeitverkürzung. Längerfristiges Denken hat man gern unter der Decke gehalten, dafür schon früh dem kleinen Luxus gefrönt – ich erinnere mich noch gut an die mit genagelten Schuhen, Maßanzügen und einer unübertrefflichen Arroganz ausgestatteten Ministersekretäre sozialdemokratischer Bundesminister der 1990er Jahre, die ihre konsumistische Banalität und ihre intellektuelle Armseligkeit gern über mich ausgegossen haben.