Zehn Thesen über Marxismus heute*
von Karl Korsch
I. Es hat keinen Sinn mehr, die Frage zu stellen, wieweit die Lehre von Marx und Engels heute noch theoretisch gültig und praktisch anwendbar ist.
II. Alle Versuche, die marxistische Lehre als Ganzes und in ihrer ursprünglichen Funktion als Theorie der sozialen Revolution der Arbeiterklasse wiederherzustellen, sind heute reaktionäre Utopien.
III. Im Guten und Bösen sind aber wichtige Bestandteile der Marxschen Lehre mit veränderter Funktion und auf veränderten Schauplätzen noch heute wirksam. Auch aus der Praxis der vormaligen marxistischen Arbeiterbewegung sind wichtige Antriebe in die heutigen praktischen Auseinandersetzungen von Völkern und Klassen eingegangen.
IV. Der erste Schritt zum Wiederaufbau einer revolutionären Theorie und Praxis besteht darin, mit dem monopolistischen Anspruch des Marxismus auf die revolutionäre Initiative und auf die theoretische und praktische Führung zu brechen.
V. Marx ist heute nur einer unter vielen Vorläufern, Begründern und Weiterentwickler der sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse. Ebenso wichtig sind die sog. „utopischen Sozialisten“ von Thomas Morus bis zur Gegenwart. Ebenso wichtig sind auch solche großen Konkurrenten von Marx wie Blanqui und solche Erzfeinde wie Proudhon und Bakunin. Ebenso wichtig sind schließlich auch solche nachträglichen Weiterentwicklungen wie die durch den deutschen Revisionismus, den französischen Syndikalismus und den russischen Bolschewismus.
VI. Besonders kritische Punkte im Marxismus sind
1. praktische Abhängigkeit von den unentwickelten ökonomischen und politischen Bedingungen in Deutschland und in allen anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, in denen er später politische Bedeutung erlangte;
2. bedingungsloses Festhalten an den politischen Formen der bürgerlichen Revolution;
3. bedingungslose Akzeptierung der fortgeschrittenen ökonomischen Zustände in England als Modell für die künftige Entwicklung aller Länder und als objektive Vorbedingung für den Übergang zum Sozialismus. – Dazu kommen
4. die Folgen seiner wiederholten, krampfhaften und widersprechenden Versuche, diese Bedingungen zu durchbrechen.
VII. Aus diesen Bedingungen entspringt
1. die Überbetonung des Staates als des entscheidenden Instruments der sozialen Revolution;
2. die mystische Identifizierung der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie mit der sozialen Revolution der Arbeiterklasse;
3. die spätere zweideutige Weiterentwicklung dieser ersten Form der Marxschen Revolutionstheorie durch die künstliche Aufpfropfung einer teils gegen Blanqui, teils gegen Bakunin entwickelten Zwei-Phasen-Theorie der kommunistischen Revolution, die die wirkliche Emanzipation der Arbeiterklasse aus der gegenwärtigen Bewegung eskamotiert und in eine unbestimmte Zukunft verlegt.
VIII. An diesem Punkt hat die Leninsche oder bolschewistische Weiterentwicklung des Marxismus eingesetzt, und es ist diese neue Form, in der der Marxismus auf Russland und auf Asien übertragen worden ist. Gleichzeitig damit vollzog sich die Entwicklung des marxistischen Sozialismus von einer revolutionären Theorie zu einer Ideologie, die in den Dienst einer großen Reihe von verschiedenen Zielsetzungen gestellt werden kann und gestellt wurde.
IX. Von diesem Standpunkt sind die beiden russischen Revolutionen von 1917 und 1928 kritisch zu begreifen. und von diesem Standpunkt sind auch die verschiedenen heute vom Marxismus in Asien und im Weltmaßstabe erfüllten Funktionen zu bestimmen.
X. Die Bestimmung der Arbeiter über die Produktion ihres eigenen Lebens wird nicht hervorgehen aus ihrem Einrücken in die verlassenen Positionen der sich selbst aufhebenden so genannten freien Konkurrenz der monopolistischen Eigentümer der Produktionsmittel auf den internationalen Märkten und auf dem Weltmarkt. Sie kann nur noch hervorgehen aus dem planmäßigen Eingreifen aller heute ausgeschlossenen Klassen in die heute tendenziell schon allenthalben monopolistisch und planmäßig regulierte Produktion.
* Skript zu einem Vortrag in Zürich im Jahre 1950