Wozu Identität?

von Götz Eisenberg

Jeder Charakter ist ein Irrtum.“

(Friedrich Hebbel)

Ich kenne durchaus keine ‚Identitätsprobleme‘. Dass ich ‚Ungar‘ bin, ist um nichts absurder, als dass ich ‚Jude‘ bin, ist nicht ein Stück absurder, als dass ich überhaupt bin.“

(Imre Kertész)

Alle Welt ist auf der Suche nach Identität. Das Bedürfnis nach ihr hat sich in den letzten Jahren zu einer wahren Besessenheit entwickelt. Ständig „erfinden sich die Leute neu“, „leben ihre Träume“ und kommen dabei nie zur Ruhe. Die Ränder der Wege, welche die Leute auf ihrer rastlosen Suchbewegung beschritten haben, sind von Identitätsfragmenten übersät, die sie abwerfen wie Schlangen ihre Häute. Die Frage „Wer bin ich doch gleich?“ treibt Linke und Rechte, Homo- und Heterosexuelle, Alte und Junge gleichermaßen um und wird auf unterschiedlichste Weisen beantwortet. Firmen bieten ihren Mitarbeitern eine „corporate identity“ an, um sie mit dem Betriebsganzen zu verzahnen und das Letzte aus ihnen herauszuholen. Die politische Rechte legt die Leimrute einer „nationalen Identität“ aus. Diese vermittelt das vage Gefühl der Zugehörigkeit zu einem imaginären Ganzen, das man seit rund zweihundert Jahren „Nation“ nennt. „Ich bin wenigstens ein Deutscher“, können sich jene sagen, die sonst nichts mehr haben. Alle diese Antworten sind partikular und vorläufig und werden bald von neuen Zweifeln angenagt. Aus der Verbannung dieses Zweifels rührt der Fanatismus, der den prekären Identitäten innewohnt.

Reparaturkategorien

Alles ist in der Schwebe und in Auflösung begriffen. Mit der Identität ist es wie mit den „Werten“: Wenn über sie stark geredet wird, ist es eigentlich bereits zu spät. Begriffe wie Sinn, Werte und Identität sind Reparaturkategorien, die auf einen Mangel antworten. Eine intakte, stark integrierte Gesellschaft muss nicht über das diskutieren, was sie zusammenhält. Der Zusammenhalt ist einfach da – wie die Luft, die man atmet. Ein mit sich identischer Mensch wird nicht von permanenten Sinnfragen heimgesucht und muss sich nicht von den Wühltischen der Identitätshändler bedienen. Er lebt sein Leben, das ist alles. Ich stimme Michel Houellebecq zu, wenn er in einem Interview sagt: „Wenn es eine Idee gibt, die all meine Romane durchzieht, dann ist es die Idee von der absoluten Unumkehrbarkeit von Zerfallsprozessen, wenn sie einmal begonnen haben.“ Die Moral wird von der wertzynischen Motorik des Geldes zerrieben und kann nicht synthetisch nachproduziert werden wie Kautschuk. „Erst jetzt tritt ein Problem ins Bewusstsein“, schrieb der inzwischen verstorbene Soziologe Helmut Dubiel, „welches der kapitalistischen Modernisierung zwar seit ihren Ursprüngen immanent ist, das aber im Restschatten einer traditionalistischen Kultur für Jahrhunderte verborgen blieb. Eine auf die Zwecksetzungen des Marktes und der politischen Administration bezogene Modernisierung der Gesellschaft nährt sich – quasi parasitär – von den Beständen einer gesellschaftlichen Moral, die sie innerhalb ihrer Funktionsgesetzlichkeiten nicht mit produziert. Die Organisation ihrer Rationalität stützt sich zwar auf die Fundamente einer Moral, die den Respekt vertraglicher Abmachungen gebietet, die zu Wahrhaftigkeit, Schutz der Schwächeren und Friedfertigkeit auffordert, trägt aber zur Stabilisierung dieser Fundamente selbst nichts bei. Zu diesen Moralbeständen verhalten sich Markt und Administration wie die große Industrie zu den fossilen Brennstoffen: sie werden im Zuge ihrer Expansion verbrannt.“

Mangels fester, kristalliner Bezugspunkte verflüssigt sich alles, die Menschen büßen ihre Gewissheiten und ordnenden Gefüge ein. Es gibt keinen gemeinsamen Nenner mehr, auf den man etwas bringen könnte. Was bleibt, ist der Konsum, der aber seinem Wesen nach nihilistisch ist, keinen Zusammenhalt herstellt und keine stabile moralische Ordnung stiftet. Die einzigen Lösungen für das Individuum ohne Bezugspunkte sind das Auffallen um jeden Preis, die Jagd nach „Distinktionsgewinnen“, wie Pierre Bourdieu die Suche nach immer neuen Selbstinszenierungen genannt hat. Dabei werden sich die Individuen in dem Bemühen, sich unterscheiden zu wollen, immer ähnlicher. Das zeitgenössische Konsumverhalten zielt nicht auf den Besitz von Objekten der Begierde, um sich daran zu erfreuen, sondern macht die Objekte sofort nach dem Kauf obsolet. Der Reiz liegt im Akt des Kaufes, nicht im Besitz und der Pflege des Erworbenen. Der eilige Konsument taumelt, wie Umberto Eco in einer seiner Kolumnen schrieb, „in einer ziellosen Bulimie von einem Kaufrausch zum anderen“. Was eben gekauft und einverleibt wurde, wird gleich darauf erbrochen und weggeworfen. Das ist der Kitt, der die zerbröselnde Gesellschaft notdürftig zusammenhält.

Dabei „kommt’s am Rande des Abgrunds auf Haltung an“, wie man früher an Häuserwänden lesen konnte. Nun könnte man als Linker den Zerfall des libidinösen Kitts der Klassengesellschaft ja begrüßen. Aber das Lachen darüber bleibt uns im Halse stecken, wenn wir gewahr werden, dass die Flüchtigkeit von allem und jedem auch die Widerstandskräfte erfasst und schwächt. Die sozialen Bewegungen der jüngsten Zeit lodern auf wie ein trockenes Reisigbündel, wenn man ein Streichholz dranhält und hineinbläst, und sinken dann ganz schnell wieder in sich zusammen. Die Leute gehen nach Hause und machen weiter wie zuvor. Die Flüchtigkeit weist sie als heutige Bewegungen von heutigen Menschen aus, die von klein auf an die Flüchtigkeit gewöhnt sind. Sie haben nicht die richtige Innenausstattung und das psychische Fundament für die Verfolgung langfristiger Ziele. Seltsamerweise scheint es so zu sein, dass mit dem Zerfall der bürgerlichen Subjektstrukturen sich auch die Tugenden des Widerstands auflösen. Ohne ein Mindestmaß an Ich-Stärke, Symbolisierungs- und Sublimierungsfähigkeit, Geduld und Disziplin – also an Identität – ist eine Veränderung der Gesellschaft nicht zu bewerkstelligen. Vor allem die gute, alte Anstrengung des Begriffs scheint jene zu überfordern, die ihre Hausarbeiten aus Wikipedia-Passagen zusammenmontieren und sich per Twitter und Whatsapp austauschen.

Peter Brückner hat in seinem autobiographischen Buch Das Abseits als sicherer Ort die Dialektik des Begriffs Disziplin mit folgenden, sich scheinbar widersprechenden Sätzen beschrieben: „Nur wer zu nichts Bürgerlichem taugt, taugt auch nicht zum Faschisten“ und: „Wer nicht wenigstens etwas zum Faschisten taugt, taugt auch nicht zum Widerstand gegen den Faschismus.“ Selbstdisziplin ist eine Fähigkeit, die uns von unseren leibseelischen Zuständen unabhängig macht – von Ermüdung, von Schmerz, von Angst, von der Lust und Zerstreuung des Augenblicks. Sie gestattet es uns, an Plänen, Entwürfen, Hoffnungen auch dann festzuhalten, wenn wir zu Umwegen genötigt sind oder hart auf Hindernisse stoßen. „Ein jugendlicher Dissident und Anarchist, der begeistert auf den Pfiff seines Turnherrn reagiert, ist ein überaus peinlicher Anblick; aber wartet nur ab, er wird dabei ‚Herr über sich selbst‘ und über gewisse herrschende Verhältnisse – anders würde er später kein leidlicher Antifaschist.“ Aufgaben erledigen zu können ist auch eine Qualität des Revolutionärs, und zwar unabhängig von der eigenen Motivation, unabhängig davon, wie man sich gerade fühlt, unabhängig von der biographischen Situation und davon, ob es mir gerade Spaß macht.

 Die „gut integrierte Persönlichkeit“

Der Begriff Identität ist von Erik H. Erikson der Philosophie entrissen und in die psychoanalytische Theorie eingeführt worden und dann von dort aus peu à peu in die Alltagssprache eingedrungen, wo er zum verschwommenen Allerweltsbegriff wurde. Er ist einer der Kernbegriffe der sogenannten Ich-Psychologie und weist insofern von Anfang an etwas Affirmatives, auf Anpassung und Integration Abzielendes auf. Der Mensch durchläuft Erikson zufolge in seinem Lebenszyklus verschiedene Etappen, deren Übergänge durchaus mit Krisen verbunden sein können, bis er schließlich den Zustand der Ich-Identität erreicht und den reifen Erwachsenhabitus angenommen hat. Die von Erikson als Endstadium gepriesene „gesunde Persönlichkeit“ weist eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem durchschnittlichen Mittelschichtsamerikaner auf. Eine Identität zu besitzen heißt, sich nach einer Phase des Umherschweifens festzulegen und dann trotz Wandel von Zeit und Gelegenheit grundsätzlich derselbe zu bleiben: einheitlich, handlungsfähig und in die vorgefundene Gesellschaft „gut integriert“. Das Ideal der gut integrierten Persönlichkeit ist illusorisch und ideologisch zugleich, weil die Risse, die durch die äußere Welt verlaufen, auch durch die Individuen gehen.

Eriksons Buch Identität und Lebenszyklus erschien 1959. Wenig später beschäftigte sich der amerikanische Soziologe Daniel Bell mit dem Auftauchen des Massenkonsums, der Zerstörung einer homogenen Wertsphäre und der damit einhergehenden Fragmentierung des Alltags. Wie hängt das zusammen? Warum beginnt man in der Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt verstärkt, über Identität und die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu diskutieren? Nachgedacht wurde über individuelle und gesellschaftliche Identität erst, als sie in die Krise geraten und von der Furie des Verschwindens erfasst war. Rückblickend erweisen sich die Studien von Daniel Bell als ausgesprochen hellsichtig. Er konstatiert, dass die Einheitlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zerfällt, die für Bell in ihren Anfängen gegeben war: „In den Anfängen der Moderne verschmolzen bürgerliche Kultur und bürgerliche Sozialstruktur mit einer besonderen, von den Themen Ordnung und Arbeit geprägten Charakterstruktur zu einer klaren Einheit.“ Die Gegenwartsgesellschaft besteht zunehmend aus „disjunktiven“ Bereichen, die jeweils von entgegengesetzten „axialen Prinzipien“ gesteuert werden. Diese Bereiche sind im Wesentlichen: die techno-ökonomische Struktur, die politische Ordnung und die Sphäre der Kultur. Zwischen diesen Bereichen existieren Unstimmigkeiten, die für Widersprüche und Konflikte verantwortlich sind, die Gesellschaft und Individuen zerreißen. Der Bereich der Arbeit und der Produktion basiert auf Effizienz und Nützlichkeit, der Bereich der Politik auf der Idee der Gleichheit und der Teilhabe, der Bereich der Kultur auf Selbstverwirklichung. Politik und Ökonomie, die für den Puritaner und nach seinem Verständnis von Beruf verbunden waren, treten auseinander. Das Sparen war der wichtigste Zug des frühen Kapitalismus. Mit dem Aufkommen des Kreditwesens und der Teilzahlung im Alltag wandelt sich die puritanische Moral des Anfangs und weicht einem kämpferischen Hedonismus: „Erst kaufen, später zahlen!“, propagierten die Kaufhäuser, und die ersten Geldautomaten lockten mit der Parole „Wo ihr wollt, wann ihr wollt“. Das Gefühl des carpe diem griff um sich. Der Kredit hat alles, was Warten, Aufschub von Befriedigung, Reifung und Zurückhaltung erfordert, außer Kraft gesetzt und die Generationen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungeduldig gemacht. Welche Sinngebung soll nun den Fortbestand der Gesellschaft sichern? Die traditionale Charakterstruktur mit ihrem Akzent auf Selbstdisziplin, Aufschub von Befriedigung und Enthaltsamkeit gerät mit den Imperativen des kulturellen und ökonomischen Systems in Konflikt. Gefordert ist nicht länger der „asketisch produzierende Knecht“ (Marx), sondern der süchtige Konsument. Man hat, mit den Worten Daniel Bells, „am Tag ‚korrekt‘ und am Abend ein ‚Herumtreiber‘ zu sein.“ Obwohl Bell ein eher konservativer Mann war, kommt er nicht umhin zu konstatieren, dass es die Dynamik des Kapitalismus selbst ist, die diese Erosionsprozesse hervorruft. Die ständig alles umwälzende Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise verschont nichts und macht vor nichts halt. Das ist es, was man Moderne nennt: Übergang als Dauerzustand. Wie sollen Lebensläufe unter solchen Bedingungen eine Identität haben, wenn die Menschen in einer Gesellschaft leben, die aus lauter Trennungen zusammengesetzt ist? Ich komme am Schluss auf diese Frage zurück.

Identität als Kontrollinstanz

Gegen das Konzept des Stillstellens und Einfrierens des Lebensprozesses zu einer Identität regte sich früh Widerstand. Die Bourgeoisie hatte ein starkes Interesse an Normen für das Volk, die das Eigentum der Wenigen sichern, und an Werten, von denen es virtuell eingezäunt wird. Identität erweist sich als hegemoniales Konzept des Bürgertums, das Brückenköpfe im Inneren der Beherrschten errichten möchte. Die neue Klasse der Lohnarbeiter sollte berechenbar und zuverlässig sein, regelmäßig arbeiten gehen und sich das Produkt ihrer Arbeit widerstandslos wegnehmen lassen. Der industrielle Kapitalismus benötigt das Konzept der Identität, das sich uns als Teil eines nach innen gewendeten Kolonialismus erschließt. Oder mit den Worten von Michel Foucault: „Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren.“

Identität ist zunächst einmal ein Polizeibegriff gewesen. Die Herrschenden möchten wissen, wer die Leute sind und wo sie wohnen, damit man sie im Falle ihrer Auflehnung sistieren kann. Sie erhalten eine carte d’identité, wie der Ausweis in Frankreich bis heute heißt. Längerfristig ging es um die Integration der plebejischen Unterschichten in die sich konstituierende bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und die Sicherung der Hegemonie der bürgerlichen Klasse. Im Interesse eines beschleunigten und möglichst reibungslosen Waren- und Geldverkehrs wurden Münzen, Maße und Gewichte, Raum und Zeit, Sprachen und Identitäten vereinheitlicht, regionale oder lokale Unterschiede eingeebnet. Bürgerliche Herrschaft bedarf darüber hinaus eines Mindestmaßes an Homogenität in der neuen Massenbevölkerung. Die Fähigkeit, unter Bedingungen der Entfremdung und Verdinglichung zu leben, wird nicht erst im Erwachsenenalter und dem Eintritt ins Erwerbsleben erworben. Die Voraussetzungen dazu werden in der frühen Kindheit durch die Implantation eines heteronomen Über-Ichs geschaffen, das wie ein Zahnrad die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft bewerkstelligt und die Unmöglichkeit des Lebens unter kapitalistischen Bedingungen für die Menschen möglich macht. In Peter Brückners Buch Psychologie und Geschichte heißt es: „Eine zureichende Ordnung und Stabilität des Systems der Gesellschaft und des Staats kann nur gewährleistet sein, wenn die Funktionen und Gefüge der Person, wenn Psyche, Bewusstsein, Gefühl, Affekt, Triebgewohnheit, Körperlichkeit, Denkneigungen und -formen der Individuen in die Funktionen und Gefüge des Systems partiell einbezogen sind. Was geschieht, wenn diese Verzahnung, wenn der Transfer von Kultur nicht mehr gewährleistet ist?“ Eine Gesellschaft geht in Auflösung über und alles muss mehr oder weniger künstlich und gestützt und gewaltsam aufrechterhalten werden.

Es gab und gibt Menschen – und sie bilden in unseren Gesellschaften die Mehrheit –, denen ihre Identität kostbar ist. Sie möchten für sich selbst und andere berechenbar sein. Ihr Ehrgeiz besteht darin, ihr Leben erwartungssicher und enttäuschungsfest zu machen und gegen alle Unwägbarkeiten perfekt abzuschirmen. Sie leben in einem mürrischen Realismus vor sich hin und bemühen sich, wie Sloterdijk bissig anmerkte, „bei lebendigem Leib so tot wie möglich“ zu sein. Andere Menschen – eher wenige – fühlen sich durch den Identitätszwang ihrer Lebendigkeit beraubt und aufgespießt wie Schmetterlinge. Aus ihrer Sicht werden Menschen in Identitätskäfige gesperrt, aus denen heraus sie alles anknurren und verbellen, was nicht sichtlich ihresgleichen ist und denselben Stall- und Gefängnisgeruch aufweist. Die Aufforderung, erwachsen und mit sich identisch zu werden, bedeutet in den Augen von Künstlern, Schriftstellern, Anarchisten das Ende des Umherschweifens, eine Restriktion des Provozierenden und die Umformung der vagen, begierigen, vielfältigen Emotionen zur Zwangsneurose. „Ich – das ist ein anderer“, heißt es zum Beispiel bei Arthur Rimbaud. Der Dichter fühlt sich bei lebendigem Leib eingesargt, will dem Zwangszusammenhang des bürgerlichen Ich entrinnen, seine „Sinne entregeln“ und sich sehend und sensibel machen. Die Verregelung aller Sinne ist mit der Reduzierung ihrer schöpferischen Vielfalt auf den einen „Sinn des Habens“ verflochten, als die der junge Marx die sinnliche Deformation in der warenerzeugenden Gesellschaft beschrieb. Zu viele Bestandteile des Ich erweisen sich als Nicht-Ich, als verinnerlichtes Äußeres, als Stützpunkte der Herrschaft. Von Rimbaud bis Nizan und Sartre gibt es in der künstlerischen Linken einen Konsens: Eine Identität anzunehmen, gilt als Akt der Anpassung und Unterwerfung. Wem ist es denn außerhalb gewisser privilegierter bürgerlicher Kreise beschieden, seinen Reifungsprozess als glückliche Kontinuität des „ich, ich selbst …“ zu erleben? Die Aufforderung zur Reife enthält etwas Zweideutiges, solange Repression noch zum Herzstück der Kultur gehört. Alles, was ins Prokrustesbett der bürgerlichen Ordnung nicht hineinpasst, wird auf dem Weg ins dunkle Zeitalter des Erwachsenseins abgeschnitten. „Wir ersticken; von Kindheit an werden wir verstümmelt: es gibt nur Monstren!“, formuliert Paul Nizan seinen Protest gegen die bürgerlichen Verkehrsformen und fährt fort: „Polizei, Regierung, Moral, Sünde und Sanktion bewegen ihr [der Menschen, G. E.] Denken. Seele ist, was nicht der Mensch selbst ist, sondern von außen kommt und in ihm lebt. Die Seele ist ein Besitz. Es ist Zeit, von diesen Dämonen befreit zu werden.“ Sein Jugendfreund Sartre stellt lakonisch fest: „Eine Identität haben heißt, sich ein Gefängnis ohne Gitter zu geben.“ Von den zahlreichen Teilpersonen, aus denen wir eingangs des Lebens bestehen, überlebt auf dem Weg zur erwachsenen Identität oft nur eine: das verwertbare Arbeitswesen. Peter Brückner hat diese Erfahrung in seinem autobiographischen Buch Das Abseits als sicherer Ort so ausgedrückt: „Eines Tages schwindet unser Vertrauen in das ‚Verschieden‘, das wir sind; das offene Gelände, unser Atlantis, versinkt.“

Wir leben in einer Kultur, in der, wer als Mensch ernst genommen werden will, sich als Kind zum Verschwinden bringen muss. Wir werden als Viele geboren und sterben als Einer. Das vor allem bedeutet in dieser Gesellschaft Identität.

Anlässlich seines sechsunddreißigsten Geburtstages notierte Eugène Ionesco in sein Tagebuch: „Ich kann mir nicht erklären, wie ich es zulassen konnte, dreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre alt zu werden. Ich begreife nicht, wie ich an mich halten konnte, um nicht den Versuch zu unternehmen, diese Katastrophe zu verhindern. Ist das im Schlaf über mich gekommen, war ich bewusstlos? Hat man mich betrunken gemacht? Umgekehrte Metamorphose: Ich werde zur Raupe. Wohin ist wohl derjenige verschwunden, der ich war, der ich noch sein muss, das zarte Kind, das neue Wesen, ja der Heranwachsende, der noch etwas von seiner Kindheit bewahrte? Wohin bin ich verschwunden? … Wie hat der liebe Gott zulassen können, dass so etwas aus mir wird! Ich stecke in der Haut eines andern, in den Häuten und den Hautfalten eines andern. Ich habe diese Erfahrung gemacht: Man kann ein anderer werden. Das mag absurd scheinen. Mir bleibt nur das Bedauern, ein anderer zu sein. Und dieses Bedauern macht, dass ich noch immer ich selbst bin oder das Kind, das ich war, das ich bin, oh, meine Farben, die Farben der Welt, mein anderer Himmel, meine andere Welt, meine anderen Meere, mein Kontinent von ehemals!

Alles hat sich verflüchtigt. Ich bin auf einem anderen Planeten, ich gleiche einem Wesen von einem anderen Planeten, ich war ein Mann, ein Kind – und eine böse Fee oder ein übler Zauberer hat mich in einen Bären, in ein Wildschwein, in ein Krokodil verwandelt. Weshalb hat er mich so bestraft? Vielleicht, weil ich an den Nägeln kaute oder in der Nase bohrte. Die Strafe ist unverhältnismäßig hart. Es ist ein Irrtum, ein Alptraum, ich will wieder ich selbst werden, ich bin das Kind … Was tun? Ich ringe die Hände, ich weine, ich heule, vergeblich. Sie sind wirklich bösartig …!

Fern von uns die Gestirne, das unendliche Himmelsblau, die grenzenlose Freude, das Fest.“

Wie viele Vertreter der künstlerischen Avantgarde erlebt Ionesco das Erwachsenwerden nicht nur als Reifung, sondern als Wunschvernichtung, Icheinschränkung und Verinnerlichung von Repression. Unnachahmlich prägnant hat Martin Walser das Resultat der Selbstentfremdung in den Satz gefasst: „Von allen Stimmen, die aus mir sprechen, ist meine die schwächste.“

Dialektik der Identität

„Was bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück“, lautet ein Satz Adornos, der gewissermaßen in Pillenform alles enthält, was es zum Thema Identität zu sagen gibt. Das unscheinbare Wörtchen „bloß“ in ihm verweist darauf, dass es einen dialektischen Gegen-Satz gibt, der lauten könnte: Was bloß nicht-identisch ist mit sich, ist ohne Glück. Auf der bisher von mir betonten Seite dieses widersprüchlichen Zusammenhangs erscheinen die Verluste an Lebendigkeit und Glück, die der mit sich identische Mensch erleidet. Die andere Seite ist die: Wir benötigen als Menschen eine psychische Struktur. Als Menschen? Ich muss einschränkend sagen: Als Menschen, wie sie die Vorgeschichte, die eine Abfolge von klassengespaltenen Herrschaftskulturen gewesen ist, hervorgebracht hat. Wie wahrhaft freie Menschen beschaffen sein werden und was sie benötigen, können wir nicht wissen. Noch eine Einschränkung: Unser Bild vom Menschen und das, was wir unter Identität verstehen, ist weitgehend männlich geprägt. Aus weiblicher Perspektive wird sich die Geschichte der Identität als Kolonialgeschichte darstellen: Das von Freud als „dunkler Kontinent“ gefasste Weibliche wurde mit männlichen Ich-Kolonien überzogen. Die Frau galt als auf den Mann bezogenes, relatives Wesen und hatte ihm den Rücken freizuhalten. In schockierender Offenheit bekennt Jean-Paul Sartre im Gespräch mit Simone de Beauvoir: „Was mich im Grunde an Frauen interessierte, war, meine Intelligenz wieder mit Sensibilität zu durchtränken.“ Der Mann, der auf der Jagd nach Erfolg einen Teil seiner Sensibilität eingebüßt hat, beansprucht die Sensibilität und Sinnlichkeit der Frau.

Horkheimer und Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung das Gewaltsame männlicher Identitätsbildungsprozesse hervorgehoben: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Verlockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart.“

Die Kosten des Identitätsprinzips bestehen in Ausgrenzungen. Das Gros der Gewalt ist bis heute männlich und dient der Aufrechterhaltung und Absicherung dieser Ausgrenzungen.

Für den bis heute vorherrschenden Menschentypus, der ein Noch-nicht-Mensch ist, gilt: Ganz ins Offene gestellt, droht er sich zu verlieren und „verrückt“ zu werden. Sogar Eichendorffs Taugenichts kennt diese Angst: „Da kam mir die Welt auf einmal so entsetzlich weit und groß vor und ich so ganz allein darin, dass ich aus Herzensgrunde hätte weinen mögen.“ Gleich darauf fängt er sich wieder und der Leichtsinn kehrt zurück. Die Auflösung der Ich-Grenzen, die Identitätsdiffusion, gehört zu den schlimmsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Manch einem scheint es leichter, sein Leben aufzugeben als seine Identität. Wir brauchen Begrenzungen im Raum und Markierungen in der Zeit. Wir brauchen so etwas wie Identität, etwas, das unseren Trieben Dauer und Form gibt. Aus uns muss eines Tages einer werden, wir können nicht im anfänglichen Stadium der Nicht-Integration verharren. Wir müssen die Phase der fließenden und neugierigen Unentschiedenheit und der prinzipienlosen Suche nach Lust hinter uns lassen und uns auf den Weg der Reifung und des Erwachsenwerdens begeben. Wenn wir nur genauer wüssten, wie man die Einheit der Person produzieren kann, ohne die oben beschriebenen Folgen des Verlustes der Erfahrungs- und Glücksfähigkeit.

Nietzsche hat die Dialektik dessen, was später als Identität gefasst wird, früh erkannt und in der Fröhlichen Wissenschaft so beschrieben: „Dagegen hasse ich die dauernden Gewohnheiten und meine, dass ein Tyrann in meine Nähe kommt und dass meine Lebensluft sich verdickt, wo die Ereignisse sich so gestalten, dass dauernde Gewohnheiten daraus mit Notwendigkeit zu wachsen scheinen: zum Beispiel durch ein Amt, durch ein beständiges Zusammensein mit denselben Menschen, durch einen festen Wohnsitz, durch eine einmalige Art Gesundheit. Ja, ich bin allem meinem Elend und Kranksein, und was nur immer unvollkommen an mir ist – im untersten Grunde meiner Seele erkenntlich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hintertüren lässt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten entrinnen kann. – Das Unerträglichste freilich, das eigentlich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt – dies wäre meine Verbannung und mein Sibirien.“

Identität ist einerseits ein Gefängnis, andererseits brauchen wir ein Gerüst, an dem wir uns entlanghangeln und orientieren können. Beides stimmt, und aus diesem sich verfilzenden Zusammenhang findet man nur heraus, wenn man die Kraft für eine lebenslange Balancearbeit aufbringt und der Versuchung widersteht, Ordnung durch Weglassen zu schaffen. Die Kunst bestünde darin, eine Balance zu finden „zwischen dem erstarrten und dem rasenden Affekt“, wie es der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke ausgedrückt hat. Dazu würde die Fähigkeit gehören, den gesellschaftlich geforderten Zwang, eine einheitlich und geschlossene Persönlichkeit und eine darauf beruhende Vernunft hervorzubringen, vorübergehend außer Kraft zu setzen und sich, wie es bei Nietzsche heißt, „auf Zeiten verlieren“ zu können. Auf dieser Basis könnte sich die Identität eines nicht-faschistischen Bürgers herausbilden, der nicht genötigt wäre, seine verdrängten Triebregungen auf andere zu projizieren und an ihnen zu verfolgen. Jeder starren Identität wohnt eine Tendenz inne, sich gegen andere Identitäten gereizt und streitbar abzugrenzen und im Sinne des „Narzissmus der kleinsten Differenz“ (Sigmund Freud) an der Grenze zur Nachbaridentität die Unterschiede stark zu betonen. Dieser nicht-faschistische Bürger besäße eine dialektische Identitätsstruktur, die man hegelianisch als „Identität von Identität und Nichtidentität“ fassen könnte. In einem emphatischen Sinne reife, dialektische Ich-Funktionen würden ihn instand setzen, Ambivalenzen und Differenzen zu ertragen und nicht lösbare Widersprüche in ihrer Widersprüchlichkeit prüfend bestehen zu lassen. Seine Identität wäre die widersprüchliche Einheit des Vielen, eine lebendige Instanz, durch deren Balancearbeit das psychische mit dem gesellschaftlichen und das gesellschaftliche mit dem psychischen Leben vermittelt wird. Identität wäre also eher die Kontinuität der Brüche als etwas, das ein für allemal bleibt, was und wie es ist. Franz Fühmann hat den „gestockten Widerspruch“ dieser Form von Identität in seinem Trakl-Buch Vor Feuerschlünden so beschrieben: „… doch Kontinuität liegt ja schon in der Person: der sich da wandelt, bleibt auch er selbst; eben: nur auch; aber: doch auch.“

Die Verfechter eines starren Identitätszwangs erinnerte Lothar Baier in seinem Essay Unlust an der Identität zu Recht daran, dass „die wahre Identität früh genug und ganz von allein kommt, und zwar mit dem Tod. Dann ist der Prozess Mensch zu Ende, dann ist er glücklich mit sich selbst identisch. Nur hat er nichts mehr davon.“ Alle, die an die Möglichkeit eines Lebens vor dem Tod glauben, seien an folgende Sätze Robert Walsers erinnert: „Was gibt es für Gründe, sich auf die Reifheit viel einzubilden? … Vielmehr ist uns, die wir leben, recht viel nette, fröhliche Unreife zu wünschen. Reife ist doch der Zustand vor der Fäulnis.“

Der Schauspieler Daniel Minetti schickte mir nach der Lektüre dieses Textes – als Berliner Beitrag zum Thema „Identität“ – ein Gedicht zu, das aus den 1920er-Jahren stammt und das sein Großvater Bernhard Minetti immer wieder mit Genuss vorgetragen hat. Es ist mit Jean de Bourgeois unterzeichnet und heißt „Icke“:

Ick sitze da

und esse Klops,

uff eenmal klopp’s.

Ick kieke, staune, wundre mir,

uff eenmal jeht se uff, de Tür.

Nanu denk’ ick, ick denk’ nanu,

Jetzt is se uff, erst war se zu.

Ick jehe raus und kieke,

und wer steht draußen? – Icke!

 Schlechte Aufhebung

Statt der Geburt eines nicht-faschistischen Bürgers erleben wir gegenwärtig die schlechte Aufhebung des Identitätszwangs und die Herausbildung eines Menschentyps, der den Anforderungen des „flexiblen Kapitalismus“ entspricht. Identität und charakterliche Prägungen werden als dysfunktional abgeschafft, weil sie die grenzenlose Fungibilität und Anpassungsfähigkeit der Menschen einschränken. Der „innengeleitete Mensch“ (David Riesman), auf den die bürgerliche Gesellschaft über weite Strecken ihrer Geschichte gesetzt hatte, war im günstigen Fall durch Urteilskraft, Bildung, Widerstandsfähigkeit und einen gewissen Eigensinn gekennzeichnet. Heute wird dieser innengeleitete Mensch aus dem Verkehr gezogen und durch den flexiblen, außengeleiteten Menschen ersetzt, dessen Lebensgestaltung darauf reduziert werden soll, sich wie Taumelkraut wechselnden Marktwinden zu überlassen und sich den Imperativen des Marktes willenlos und fatalistisch zu beugen. Es herrscht eine durch und durch ökonomistische Denkweise: Die Menschen sollen „wie Trabanten die Sonne des Kapitals umkreisen“, wie der Soziologe Oskar Negt es ausgedrückt hat. Sie sollen nirgends mehr Wurzeln schlagen, ihr Herz an nichts hängen. Stabile Bindungen an Orte und Menschen gelten als eine Art von Behinderung. Rimbauds einst skandalöse Behauptung „Ich ist ein anderer“ gehört heute zur psychischen Grundausstattung des zeitgenössischen Subjekts und könnte von jeder Internetfirma als Werbeslogan verwendet werden. Der „flüssigen Moderne“ (Zygmunt Bauman) entspricht eine fluide psychische Struktur der Individuen, Ich-Schwäche ist zeitgemäß und funktional. Der neue Sozialcharakter erinnert an den Axolotl, eine Art Lurch, der in Mexiko beheimatet ist und dessen Besonderheit darin besteht, dass er nie richtig erwachsen wird, sondern sein ganzes Leben in einem Zwischen- und Schwebezustand verbringt. Der späte Kapitalismus bringt ein gefräßiges, ungeduldiges, auf seinen Spaß bedachtes Erwachsenen-Kind hervor, das sich genüsslich die Flasche geben lässt und für ständige Veränderungen offen ist. Widerstand ist von ihm schwerlich zu erwarten, denn Menschen, die über keine innere Vorratshaltung und Erinnerung verfügen, können keine Vorstellungen von dem entwickeln, wie es sein sollte und wie es anders sein könnte. Der Konjunktiv verschwindet aus ihrem reduzierten Sprachschatz, sie drohen vollkommen „in die Funktionale“ zu rutschen, wie es bei Brecht heißt.

Linke als Modernisierungsgehilfen

Die 68er-Bewegung ist, ohne es zu wollen, zum Vorreiter der flüssigen Phase der kapitalistischen Moderne geworden. Sie hat – ihre eigenen hochfliegenden sozialistischen Ziele verfehlend – Entwicklungen angeschoben, die historisch ohnehin auf der Tagesordnung standen, und so zur Modernisierung archaisch verfasster gesellschaftlicher Teilbereiche beigetragen. Hans Peter Duerr hat dazu angemerkt: „Paradoxerweise hat eben jene Linke, die in den sechziger Jahren für eine Gesellschaft gekämpft hat, in der Sehnsüchte und Lüste ungezügelt ausgelebt werden dürfen, eigentlich ahnungslos für den Klassenfeind gearbeitet. Hegel hätte gesagt, der kapitalistische Profitgedanke hat sich dieser Alternativbewegung bedient, um zu sich selber zu kommen.“

Wie so oft in der Geschichte des Sozialismus vertrat die neue Linke gegen das Bürgertum dessen eigene fortgeschrittenere Phase und verhalf diesem so zu einer fälligen Modernisierung seiner Herrschafts- und Ausbeutungsmethoden. Sie machte sich, wie Adorno früh bemerkte, „zum Sprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechte“. Dass Linke für die Aufhebung des Tanzverbots am Karfreitag eintreten und sogenannte Nachttanzdemos veranstalten, trägt dazu bei, die letzten Barrieren abzuräumen, die dem „hündischen Kommerz“ (Friedrich Engels) noch gesetzt sind, und liefert ein Beispiel für das Einrennen offener Türen. Ein anderes ist die Teilnahme großer Firmen an der Berliner Christopher-Street-Day-Parade. Die Linke hat dem Kapital beigebracht, dass das Festhalten an tradierten Geschlechterrollen dumm und geschäftsschädigend ist. Diesen Typus der Kritik hat Adorno „realitätsgerechte Empörung“ genannt: „Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat.“

Gegen die Gesellschaft des konsumistischen Hedonismus hat Adorno letztlich recht behalten, als er darauf hinwies, dass „asketische Ideale heute ein größeres Maß an Widerstand einschließen“ als das „sich Ausleben“ gegen die Repression. Die gegenwärtige Gesellschaft leidet nicht an einem Übermaß an Hemmungen, sondern daran, dass sie gar keine mehr kennt. Angesichts der beschriebenen Tendenzen zur Selbstzerstörung bürgerlichen Verkehrs und kapitalkonformen Abschaffung von Identität nimmt das Festhalten an ihr beinahe rebellische Züge an. Dialektische Identität und Ich-Stärke könnten zu Kampfbegriffen gegen eine Gesellschaft werden, die auf den allseits anschlussfähigen und kompatiblen Menschen setzt.

Dennoch sollten wir, solange rechte Populisten den verstörten und verunsicherten Menschen eine „nationale Identität“ als Lösung anpreisen, an unserer Kritik am Identitätsprinzip festhalten und nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass die Idee nationaler Identität in der Regel mit dem Phantasma der ethnischen Reinheit verknüpft ist, in deren Namen die schlimmsten Barbareien begangen wurden und werden.