Multidimensionales Great Game am Rande des Weltkriegs

von Tomasz Konicz

Das durch neoimperialistische Gegensätze zerrissene Syrien gleicht einem Pulverfass – die Selbstverwaltung in Rojava bemüht sich, unter Ausnutzung dieser Widersprüche ihr emanzipatorisches Projekt zu forcieren.

Das komplexe Interessens- und Machtgeflecht in dem geschundenen poststaatlichen Gebilde, das einstmals Syrien war, wird wohl bald um eine weitere Facette erweitert werden. Nach langwierigen Geheimverhandlungen steht die Selbstverwaltung des bedrängten nordsyrischen Kantons Afrin kurz davor, ein militärisches Beistandsabkommen mit dem Assad-Regime abzuschließen.

Die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (YPG) in Afrin wehren seit rund einem Monat die Angriffe der türkischen Armee und verbündeter islamistischer Milizen ab, die trotz drückender militärischer Überlegenheit und der totalen Lufthoheit nur rund zehn Prozent des Territoriums des Kantons erobern konnten. Der Angriff des Erdogan-Regimes auf Afrin erfolgte erst nach der Freigabe des Luftraums durch Russland, das damit weitreichende türkische Zugeständnisse erreichen und die Selbstverwaltung in Afrin zur Aufgabe ihrer Autonomiebestrebungen nötigen wollte.

Bislang ist es nicht klar, inwiefern das Assad-Regime bei dem Verhandlungsmarathon mit Afrin einen politischen Sieg erringen, und die kurdische Selbstverwaltung tatsächlich ausschalten konnte. Kurdische Quellen geben an, dass die Vereinbarungen eine Präsenz der syrischen Armee an den Grenzen des Kantons und an etlichen logistischen Punkten vorsehen, ohne dass es zu einer Entwaffnung der YPG käme. Zugleich soll der Luftraum über Afrin geschlossen werden. Laut kurdischen Quellen wurden die Verhandlungen zwischen Assad und der Selbstverwaltung durch „äußere Kräfte“, vor allem Russland, immer wieder torpediert, das de facto die Kontrolle über den Luftraum über Westsyrien ausübt. Die kurz vor dem Abschluss stehende Vereinbarung sieht auch ein gemeinsames militärisches Vorgehen beider Partien gegen die türkische Okkupation in der nordsyrischen Region um Al Bab und Asas vor.

Russland solle laut kurdischen Quellen diese Vereinbarung weiterhin ablehnen, Iran und die USA seien hingegen aufgeschlossen. Formell erklärte der Kreml, der mit dem Erdogan-Regime umfassende geopolitische Deals abgeschlossen hat, dass Russland das türkische Einverständnis für einen Einmarsch der syrischen Truppen im nordsyrischen Afrin anstrebe, um dem zuzustimmen. Erdogan soll somit einer gegen ihn gerichteten Intervention zustimmen, so die russische Logik.

Afrin befindet sich in der russischen Einflussspähre Syriens, da das Land längst in Einflusszonen aufgeteilt wurde: Der Euphrat bildet die informelle Grenze zwischen der amerikanischen Einflusszone, die größtenteils östlich des Flusses liegt, und dem russisch-iranischen Territorium, das westlich dieses Grenzflusses liegt. Das von der kurdischen Linken aufgebaute basisdemokratische Projekt durchzieht somit die Einflusssphären der Großmächte. Das restliche Territorium der Rojava genannten Selbstverwaltung in Nordostsyrien befindet sich in der amerikanischen Einflusszone. Bislang war es gerade das Assad-Regime, das eine inoffizielle Unterstützung der Kurden in Afrin praktizierte, um den türkischen Angriff auf Afrin im Morast eines verlustreichen Guerillakrieges versumpfen zu lassen. Die militärischen Rückschläge in Afrin scheinen das Erdogan-Regime, das sich der zweitgrößten Nato-Armee rühmt, inzwischen zum Giftgaseinsatz verleitet zu haben.

Mit dem Afrin-Abkommen gewinnt der multidimensionale Konflikt in Syrien eine absurd anmutende Komplexität, in deren Zentrum sich gerade die Selbstverwaltung in Nordsyrien befindet. Während etwa der westsyrische kurdische Kanton Afrin sich nun genötigt sieht, mit Assad zu kooperieren, um die drohenden ethnischen Säuberungen des Erdogan-Regimes abzuwenden, gerieten im Osten des Landes, in der Region um die Stadt Deir-ez-Zor, gerade Einheiten der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) in Konflikt mit assadtreuen Milizen, die durch russische Söldner unterstützt wurden. Weitgehend von der internationalen Öffentlichkeit unbemerkt, gerieten dort zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges amerikanische Truppen mit russischen Kämpfern in einem bewaffneten Konflikt. Hierbei sollten viele russische Söldner gefallen sein, da die USA mit massiven Luftschlägen – die auch als eine Warnung an Ankara intendiert waren – in die Kämpfe eingriffen. Bislang ist immer noch unklar, wer den Versuch initiierte, die Ölfelder um Deir-ez-Zor zu erobern, an dem Söldner der russischen „Sicherheitsfirma“ Wagner (die ähnlich der ehemaligen berüchtigten US-Söldnertruppe Blackwater operiert) beteiligt waren. Moskau streitet jede Beteiligung ab, während russische Medien von lokalen Kräften sprechen, die, toleriert vom Kreml, einen eigenständigen Versuch starteten, die Ölvorkommen der Region zu sichern. Zuvor hat das Assad-Regime die Grenzen für kurdische Verstärkungen nach Afrin geöffnet, womit die Reihen der SDF im ölreichen Ostsyrien gelichtet wurden.

Für die USA boten die Kämpfe eine willkommene Gelegenheit, ein Signal an die Türkei zu senden, da Erdogan wiederholt damit drohte, in die Region um Manbij vorzurücken, in der US-Spezialkräfte stationiert sind. Die Freigabe des Luftraums über Afrin für die türkische Luftwaffe durch den Kreml hatte eben auch diese Konfrontation innerhalb der Nato zum Ziel. Die USA wurden dazu gezwungen, sich zwischen ihren Verbündeten zu entscheiden: zwischen der Türkei und den syrischen Kurden, die den Großteil des Kampfes gegen den IS schulterten. Seitdem versucht sich Washington in einem Spagat, bei dem die Tolerierung des türkischen Angriffskrieges in Afrin mit der Bekräftigung der Kooperation mit der Selbstverwaltung in Ostsyrien einhergeht.

Mit der blutigen Intervention der USA in die Kämpfe östlich von Deir-ez-Zor endete auch die kurze Ruhepause, die Afrin nach dem Abschuss eines russischen Flugzeugs durch islamische, mit Ankara verbündete Milizen Anfang Februar gegönnt war. Russland reagierte nicht nur mit massiven Bombardierungen auf den Abschuss des Kampfflugzeugs, es sperrte auch den Luftraum über Afrin für türkische Kampfflugzeuge. Nachdem die Offensive um Deir-ez-Zor von der US-Airforce zusammengeschossen wurde, wurde auch der Luftraum um in Afrin wieder für türkische Kampfflugzeuge freigegeben.

Der Abschuss des russischen Flugzeuges durch „türkische“ Rebellen scheint ein Revancheakt gewesen zu sein, da Ende Januar türkische Truppen, die vereinbarungsgemäß in Idlib einrücken sollten, unter Beschuss gerieten und sich nach Verlusten wieder zurückziehen mussten. Russland hat eine separate Verhandlungsplattform, die Astana-Vereinbarungen mit Syrien, Iran und der Türkei initiiert, in deren Verlauf eine faktische Aufteilung Syriens in „Deeskalationszonen“ beschlossen wurde. Formell sollten türkische Truppen in Idlib einrücken, um dort eine Deeskalationszone zu überwachen, reell läuft diese Übereinkunft aber auf die Errichtung eines türkischen Protektorats für islamistische Milizen in Nordwestsyrien hinaus. Diese Vereinbarung ist Teil der russisch-türkischen Übereinkommen, die Ankara aus dem Orbit der Nato herauslösen sollten (ebenso wie die Freigabe des Luftraums über Afrin durch den Kreml).

Zugleich wird die faktische Übergabe eines großen Teils des syrischen Territoriums an Erdogan im Rahmen eines geopolitischen Deals von dem Assad-Regime abgelehnt (Auch deswegen unterstützt es die Kurden in Afrin). Und deswegen wurden auch die türkischen Truppen, die Ende Januar ihren ersten Einmarschversuch in Idlib unternahmen, von syrischen und iranischen Kräften beschossen – und mussten sich nach Verlusten kurzfristig zurückziehen. Erst nach weiteren Verhandlungen – und dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch türkische Rebellen – gelang es Ankara, eine Präsenz in Idlib aufzubauen.

Folglich wäre es verkehrt, in Syrien einen bloßen Zweifrontenkrieg zwischen einem russischen und einem US-geführten Bündnissystem diagnostizieren zu wollen. Die Türkei agiert selbstständig, indem sie zwischen Washington und Moskau laviert, um die neo-ottomanischen Expansionspläne Erdogans realisieren zu können. Ankara will sich als regionale Hegemonialmacht etablieren – auf den Leichenbergen Rojavas. Der einzige fundamentale gemeinsame Punkt, an dem sich die Interessen Ankaras, Moskaus, Teherans und die des Assad-Regimes treffen, ist das Bemühen, die USA in der Region zu marginalisieren. Interessen divergieren aber sehr schnell: sobald es um die konkrete Aufteilung der syrischen Beute geht, zerfällt die Lagerbildung. Selbst innerhalb des russischen Bündnissystems treten Differenzen immer offener zutage.

Offensichtlich agieren in Syrien sehr viele Akteure mehr oder minder eigenständig. Neben Russland und den USA, für die Syrien ein Kampfplatz in ihrem globalen imperialen Great Game ist, sind es auch der Iran und die Türkei, die um die regionale Hegemonie kämpfen. Das Assad-Regime bemüht sich hingegen, möglichst das gesamte Territorium Syriens wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Hinzu kommt noch Israel, das die iranische Expansion in dem Bürgerkriegsland mit massiven Luftschlägen zu behindern versucht. Die ehemalige syrische Opposition, die von der Türkei und den Golfdespotien hochgerüstet und islamisiert wurde, ist inzwischen zu einem bloßen Anhängsel des türkischen Imperialismus verkommen.

Das gerne bemühte Bild vom großen globalen „Schachspiel“, dass für geopolitische Machtkämpfe verwendet wird, ist somit überholt. Es ist ein Rudiment des Kalten Krieges, als zwei große Machtblöcke um Dominanz kämpften. Was in Syrien evident wird, ist – um im Bild zu bleiben – ein Schachspiel mit vielen unterschiedlichen „Spielern“. Es handelt sich hierbei um ein mehrdimensionales „Great Game“, bei dem nicht zwei große Player, sondern mindestens ein halbes Dutzend relevanter Akteure agieren. Es ist ein massenmörderisches, neoimperiales 3-D-Schach mit vielen Parteien, das in Syrien „gespielt“ wird. Und eben deswegen ist es so brandgefährlich, da die Aktionen der vielen einzelnen Mächte in einen neuen Großkrieg münden könnten.

Was sich in Syrien geopolitisch materialisiert, ist somit jene „multipolare Weltordnung“, von der alle Herausforderer der USA träumen. Im Endeffekt versuchen nun viele Möchtegern-USA, eine ähnliche Machtfülle auf globaler oder auch nur regionaler Ebene zu erlangen, weil Washington sich offensichtlich im Abstieg befindet. Der Abstieg der USA führt aber nicht zu einem Zeitalter des Friedens, sondern zu einer Vervielfachung der imperialistischen Gewalt spätkapitalistischer Staatsmonster. Die USA haben ihre Hegemonie bereits eingebüßt, sie sind in Syrien ein – wichtiger, hauptsächlich gegen Iran agierender – Machtfaktor unter vielen. Washington ist aber nicht mehr in der Lage, die Anwendung militärischer Gewalt bei Weltordnungskriegen zu monopolisieren, wie es in den zwei Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges der Fall war. Der dumpfe Antiamerikanismus, der weite Teile auch der Linken befallen hat, fand ja in diesem Gewaltmonopol des amerikanischen „Weltpolizisten“ seine scheinbare Bestätigung. Immer, wenn irgendwo an der Peripherie ein Gemetzel sich entfaltete, konnten US-Truppen in den vergangenen Jahrzehnten nicht weit entfernt sein. Alle Interventionen jenseits der direkten russischen Einflusssphäre sind in diesem Zeitraum vom Westen geführt worden – mit den bekannten desaströsen Folgen.

Russland hat diese Monopolstellung westlicher Weltordnungskrieger in Nahhost durchbrochen, ohne selber über die Ressourcen zu verfügen, die Anwendung militärischer Gewalt zu monopolisieren. Zugleich agiert der Kreml genauso rücksichtslos, wie es die westlichen Imperialisten tun – indem er etwa Afrin dem türkischen Regime zum Fraß vorwirft, um es aus der Nato zu lösen. Niemand ist aber in Syrien in der Lage, seinen Willen dem Gesamtprozess aufzuzwingen. Es gibt zu viele Akteure, die über genügend Machtmittel verfügen, um Vereinbarungen zu torpedieren, solange der russisch-amerikanische Gegensatz in Syrien dominiert. Ein Abwenden eines Großkrieges scheint nur bei einer Verständigung zwischen den Großmächten USA und Russland möglich – auf Kosten der Türkei.

Der dumpfe Antiamerikanismus, der besonders bei sogenannten Antiimps gepflegt wird, zerfällt somit in imperialistisches Jubelpersertum, das schon tragikkomische Ausmaße annimmt, wenn immer neue Volten russischer Geopolitik in orwellscher Manier gerechtfertigt werden. In dieser Hinsicht sind die Antiimps nur Spiegelbilder ihrer antideutschen Erzfeinde, die in den 90ern die USA zum Hort aller Zivilisation ausriefen. Beiden Ideologien wird ihr Verharren im kapitalistischen Gedankengefängnis zum Verhängnis, da sie nicht mehr in der Lage sind, Emanzipation jenseits der Vergesellschaftungsformen des Kapitals zu denken – und diese auf Staatsapparate projizieren (Russlands multipolare Weltordnung, USA als Vorposten der Zivilisation). Kapitalistische Staatsapparate exekutieren den dem Kapital innewohnenden Verwertungszwang in Form des staatlichen, imperialistischen Expansionsstrebens. Sobald ein hegemoniales Staatsmonster wie die USA abtritt, setzt schlicht ein verstärkter geopolitischer Kampf um dessen Nachfolge ein – ohne dass dies inzwischen angesichts des rasch voranschreitenden Krisenprozesses noch möglich wäre. Die USA treten ab, doch zugleich hat kein anderes Land die Ressourcen, um in deren hegemoniale Fußstapfen zu treten.

Das Jonglieren mit unterschiedlichen geopolitischen Konstellationen führt in die systemimmanente Sackgasse. Eine Perspektive für die antikapitalistische Linke bietet hingegen gerade das Agieren der Selbstverwaltung in Rojava, die sich bemüht, die gegebenen neo-imperialistischen Widersprüche in Syrien auszunutzen, um ihr emanzipatorisches Projekt zu forcieren oder zumindest am Leben zu erhalten. Deswegen scheinen sich ja die geopolitischen, imperialistischen Interessenkalküle in Syrien selber ad absurdum zu führen, wenn etwa das Assad-Regime mit den Kurden verbündet und zugleich verfeindet ist; oder wenn die USA mit den SDF und zugleich mit Ankara kooperieren wollen. Rojava versucht durch das Instrumentalisieren der Gegensätze, durch Allianzen, die zugleich mit Washington und Damaskus geschlossen werden, zuallererst zu überleben. Entscheidend ist nicht die geopolitische Mächtekonstellation, sondern die Entwicklung basisdemokratischer Strukturen vor Ort, die Versuche, neue Formen der Vergesellschaftung zu praktizieren oder zu denken, die im Windschatten des Krieges in Rojava gewagt werden. Erst dann hat Geopolitik für die emanzipatorische Linke überhaupt einen Sinn: Wenn es um die Eruierung derjenigen geopolitischen Konstellation geht, die dem emanzipatorischen Ansätzen in Nordsyrien noch die meiste Luft zum Atmen verschafft.

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