Multi-Encephalonversagen

von Maria Wölflingseder

„Sanfter Terror vernichtet nicht weniger als harter Terror.“ – Diese Worte von Friedrich Heer prangen auf den Kulturplakatflächen der Stadt Wien. Für den Kultur- und Medienstadtrat Andreas Mailath-Pokorny sind die literarischen und philosophischen Zitate „wesentliche Literatur- und Leseförderung. Auf leise, subtile und ungemein wirkungsmächtige Weise.“ Das Motiv der Serie, zu der der Satz von Heer gehört, lautet: „Menschenwürde, Aufruf zur Mündigkeit und die bedrohte Freiheit des Individuums.“

Leider ist diese ungemeine Wirkungsmächtigkeit an den staatlichen Behandlungsmethoden von Arbeitslosen spurlos vorüber gegangen. Seit über 20 Jahren wird Menschen, denen die Möglichkeit zur Lohnarbeit verwehrt ist, auf subtile bis vehemente Weise vorgehalten, sie wären an diesem Umstand selber schuld. Entweder hätten sie etwas falsch gemacht oder sie wären zu faul zum Arbeiten. Der Bezug von Versicherungsleistung aus der Arbeitslosenversicherung wird als Sich-in-der-sozialen-Hängematte-bequem-machen verunglimpft. Daran hat auch die rapide Abnahme von verfügbaren Arbeitsplätzen nichts geändert. In einer Gesellschaft, deren unumwundene Dogmen Markt und Kapital lauten, sind nur jene, die ihre Arbeitskraft verkaufen können, also jene, die sich in Wert setzen können, vollwertige (sic!) Mitglieder. Dagegen hilft auch keine noch so notwendige ehrenamtliche Tätigkeit oder die Betreuung von Kindern und die Pflege von Alten.

„Wieder mehr für die Fleißigen tun.“ So lautete einer der Slogans, mit denen die Neue ÖVP eben die Nationalratswahl gewonnen hat. Und: „Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein.“ – Diese Verhöhnung von Arbeitslosen heißt nichts anderes, als einen Keil zwischen die Vollwertigen und die Minderwertigen zu treiben. Eine Auflösung der Grenzen könnte ja gar in Richtung Auflösung des Dogmas von Markt und Kapital führen. Dies gilt es zu verhindern, da sonst die Machtmechanismen zur Aufrechterhaltung dieses Systems unwirksam würden.

Politiker beteuern zwar, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder gar Vollbeschäftigung wieder erreichen zu wollen. Dies als historische Unsinnig- und Unmöglichkeit zu erkennen, reicht ihr Denkvermögen genauso wenig wie zur Veranschaulichung der Lebenssituation von Arbeitslosen, die immer tiefer in die Armut gedrängt werden und zusätzlich Schikanen ausgesetzt sind. Letztere reichen vom Zwang zur Teilnahme an meist sinnlosen Kursen bis zur strafweisen Sperre der Versicherungsleistung – immer öfter aus völlig bei den Haaren herbeigezogenen Gründen. Dies führt nicht selten zur akuten Existenzgefährdung. – Aber auch den Medien sind die Notlagen der Arbeitslosen kaum der Rede wert. – Die Gängelung passiert weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dies ist ein charakteristisches Merkmal von sogenannten „Totalen Institutionen“. Diesen Begriff prägte der in den USA tätige Soziologe Erving Goffman (1922–1982) mit seinem Werk: „Asyle – Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“ (1961, deutsch 1973). Die erniedrigende Behandlung bewirkt nach Goffman „eine Beschränkung des Selbst“. Seine zentrale Frage ist: Wie kann das Individuum seine verletzliche Autonomie bewahren? – Goffman löste damit die Bemühungen aus, große, rigide geführte Einrichtungen wie Kinder- und Altenheime, Internate, Psychiatrien und Gefängnisse zu „entinstitutionalisieren“.

Arbeitslose sind zwar noch nicht einkaserniert, aber ihre Autonomie, ihre Bewegungsfreiheit wird dennoch stark beschränkt: durch die Kursbesuche, oder mitunter auch durch die Überwachung ihres Privatlebens. Arbeitslose haben dem Arbeitsmarkt, ersatzweise dem Arbeitsamt ständig zur Verfügung zu stehen. Deshalb dürfen sie den Wohnort nur unter Auflagen verlassen. Die Staatsgrenze zu überschreiten ist jedoch verboten. In Österreich gibt es auch keinerlei Urlaubsanspruch für Arbeitslose wie etwa in Deutschland.

Während in den letzten Jahren begonnen wurde, die ehemaligen Verbrechen in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen und Internaten aufzuarbeiten und Wiedergutmachung anzubieten, hat die entwürdigende Behandlung von Arbeitslosen und Armen erst begonnen. Insbesondere auch gegenüber Bettlern. Alle, die nicht produktiv sind und nicht konsumieren können, sind in unserer Gesellschaft nur geduldet, aber keine anerkannten Subjekte. (Siehe „Nicht-Subjekte“ in: Maria Wölflingseder „Die Maßnahmen des AMS“, www.streifzuege.org) Letztlich ist es gleichgültig, ob es sich dabei um eine rumänische Bettlerin handelt oder eine österreichische in Konkurs geratene, ehemals erfolgreiche Ich-AG.

Genau das ist der Grund, warum Arbeitslose und Arme ihre Situation so gut es nur geht verheimlichen. Warum sie mit allen Mitteln das „business as usual“ aufrecht zu erhalten versuchen. Keine Artikulation, kein Aufschrei. Dafür aber haben Heerscharen von Psychotherapeuten, Coachs, Mentaltrainer und Diplom Selfnesstrainer Hochsaison. Der Tenor lautet: Nicht den Grund für sein Leid außerhalb des Selbst suchen, sondern sich selbst Wohl zu wollen. Die „veralteten Glaubenssätze“ des Individuums (!) sind stets das Hinderliche! Die aktuellen Bestseller lauten: „Freunde fürs Leben – Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein“ (Melanie Wolfers, 2016), „Das Aschenputtel-Prinzip – Von Selbstkritik und Strenge zu mehr Selbstliebe und Lebensfreude“ (Saam Faradji, 2017), „Mit mir sein – Selbstliebe als Basis für Begegnung und Beziehung“ (Michael Lehofer, 2017). – Manche „gestehen“ einem vielleicht noch „Schicksalsschläge“ zu, wie den Tod eines Angehörigen oder eine Krankheit, aber krankmachende gesellschaftliche Verhältnisse sind tabu!

Auch das inbrünstige Beteuern von „Empowerment“ und „Selbstermächtigung“, wozu der geschundenen Kreatur verholfen werden muss, entpuppt sich als alles andere als emanzipativ. Genauso wie „Resilienz“ sind es nur wirkungslose Zauberwörtchen aus der psychosoziologischen Trickkiste. Der Irrationalismus wird nämlich trotzdem allseits als Normalität anerkannt: Die Tatsache der immer geringer werdenden Möglichkeit, durch den Verkauf seiner Arbeitskraft das Auslangen zu finden, wird seit Jahrzehnten geleugnet. Dieser kollektive Realitätsverlust führte zu einer weiteren Dimension von Individualisierung: Je weniger Arbeit es gibt, desto mehr verinnerlichte der Einzelne den Arbeitswahn und den Zwang zu noch größerer Anstrengung bei der Arbeitssuche, anstatt die gesellschaftliche Unmöglichkeit der Daseinsfom Lohnarbeit zu erkennen und zu hinterfragen.