Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt

von Erich Ribolits

„Das Fehlen eines vorbestimmten Auswegs ist gewiss kein Argument gegen einen Gedankengang.“ (Horkheimer 1985: 117)

Die Bildungsidee – geboren aus dem Wunsch nach einer vernünftig geordneten Gesellschaft

Der sich im deutschen Sprachraum um 1800 zunehmend herausbildende Bildungsbegriff stellt ein Konglomerat aus Konzepten, die in der Vorstellungswelt der Aufklärung entwickelt worden waren, sowie aus bürgerlichen Hoffnungen dar, die mit der Vision einer „vernünftig“ gestalteten gesellschaftlichen Ordnung verbunden waren. Zum einen hatte – wie die umfangreiche Zahl diesbezüglich damals erschienener Schriften zeigt – im Vorfeld der Entwicklung des Bildungskonzepts die Frage zunehmend Bedeutung gewonnen, wie mit der jeweils heranwachsenden Generation umzugehen sei, damit diese in systematischer Form in das gesellschaftliche Leben integriert werden kann. Zum anderen war es das Bestreben des schon lange um eine Aufwertung seiner gesellschaftlichen Stellung bemühten Bürgertums, die für ihren wirtschaftlichen Erfolg den Ausschlag gebenden und von ihnen zu einem zentralen Beitrag für das gesellschaftliche Gesamtwohl hochstilisierten Kenntnisse und Tugenden bürgerlichen Gewerbefleißes als Kriterium gesellschaftlicher Positionierung zu etablieren (vgl.: Lohmann 2002: 1 f.). Der bürgerliche Wunsch, die Feudalordnung zu überwinden und dem Adel seine Vormachtstellung abzunehmen, wurde mit einer neuen Vorstellung zur Begründung der gesellschaftlichen Machtverteilung legitimiert. Statt dem Ableiten der gesellschaftlichen Hierarchie aus religiös begründeten Vorgaben lautete die bürgerliche Vision, dass „vernünftige“ – sprich: aus empirisch feststellbaren Fakten abgeleitete – Kriterien die Grundlage derselben abgeben sollen. Konkret war damit eine Ablösung des Geburtsprinzips durch das Leistungsprinzip gemeint – Ziel war, dass nachvollziehbare und im Sinne des Gemeinwohls interpretierte Leistungen der Gesellschaftsmitglieder ihre Position und Einflussmöglichkeiten in der Gesellschaft bestimmen sollen.

Der in ersten Ansätzen von Herder, später von Schlegel, Kant, Schiller, schließlich von Humboldt, Schleiermacher und anderen geprägte und zunehmend ausdifferenzierte Bildungsbegriff verband die unterschiedlichen Interessen, die seinen Durchbruch begründet hatten, zu einem konsistenten Menschenbild sowie einer Theorie, wie Menschen qua Beschulung dazu gebracht werden können, eine mit diesem Menschenbild in Einklang stehende Selbstinterpretation zu entwickeln und sich (dadurch) selbst entsprechend zu formen. Einen wichtigen Einfluss hatten die historisch-politischen Begleitumstände, unter denen die Bildungstheorie das Licht der Welt erblickte. Es war keineswegs Zufall, dass der Bildungsbegriff gerade in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas entwickelt wurde. Das Entstehen des „deutschen Sonderbegriffs Bildung“ (Tenorth) war in nicht unbedeutendem Maß Konsequenz der in diesen Ländern misslungenen Versuche, auf revolutionärem Weg einen Bruch der politischen Verhältnisse zu erzwingen. Im Bildungsbegriff verbinden sich somit zwei unterschiedliche Zielsetzungen: Zum einen stellt er die pädagogische Inkarnation des Gedankenguts der Aufklärung samt der daraus abgeleiteten Idee dar, dass der Einfluss von Menschen mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen korrelieren soll. Zum anderen spiegelt sich im Bildungsbegriff aber auch der Versuch des Bürgertums wider, seiner Kapitulation im revolutionären Kampf um politische Emanzipation eine positive Konnotation zu verleihen. Das Idealisieren des Menschen, der – indem er „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedient“ – intellektuelle Autonomie gewinnt und sich damit über den Status eines blinden Ausgeliefertseins an die jeweiligen Machtverhältnissen erhebt, ist Ausdruck der Hoffnung, auch ohne Revolution eine Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne bürgerlicher Vorstellungen erreichen zu können.

Als Konsequenz daraus, dass das „deutsche Bürgertum“ seine Hoffnung auf eine revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse hatte aufgeben müssen, war die inhaltliche Ausgestaltung des Bildungsbegriffs von Anfang an durch eine deutliche Distanz gegenüber gesellschaftspolitischen Visionen gekennzeichnet. Der Bildungsbegriff schloss zwar an Mündigkeitsidealen der Aufklärung an, koppelte diese aber weitgehend von gesellschaftlich-praktischer Relevanz ab, indem er sie um ihre politischen Konsequenzen verkürzte – die ursprünglichen Losungen im Kampf für eine veränderte gesellschaftliche Ordnung wurden auf eine Pathosformel reduziert. Zwar lassen sich aus dem Bildungsbegriff durchaus Momente der Kritik am Feudalsystem herauslesen, er war aber von vornherein klar gegen ein aktiv-revolutionäres Eingreifen hinsichtlich einer Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse positioniert. Das ihm innewohnende Ziel war stets eine gesellschaftliche Reform insofern, dass die Menschen reif gemacht werden sollten, Verbesserungen in Bezug auf eine veränderte, nach „vernünftigen“ Kriterien gestaltete Gesellschaft voranzutreiben. Der Bildungsbegriff bot für das Bürgertum die Möglichkeit, seine urgierte, in den realen Herrschaftsverhältnissen aber weiterhin nur unzureichend zur Geltung kommende „Besonderheit“ zu reklamieren und zugleich sein Hoffen auf die „Revolution von oben“ (Negt 2012: 93) zu legitimieren.

Letztendlich kam es tatsächlich auch in den Ländern des deutschsprachigen Mitteleuropas zur Installierung politischer Verhältnisse, die den von bürgerlicher Seite formulierten Ansprüchen einer durch vernünftige Prämissen grundgelegten Gesellschaft entsprachen. Allerdings lässt sich wohl kaum behaupten, dass die Grundlagen diese Entwicklung in einer fortschreitenden Bildung der Bevölkerung bestanden. Der nach und nach vor sich gehende politische Wandel in Richtung bürgerlich-demokratischer Gesellschaft wurde – wohl primär aus strategischen Überlegungen – „von oben herab“, durch die Herrschenden in die Wege geleitet. Die im Bildungsbegriff zum Ausdruck kommende, in Deutschland herrschende reformistische Form der Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Aufklärung hat Hegel, in Abgrenzung zum weitgehend anderen Umgehen mit demselben im revolutionären Frankreich, selbstkritisch folgendermaßen charakterisiert: „Die Franzosen […] haben den Sinn der Wirklichkeit, des Handelns, Fertigwerdens, – die Vorstellung geht unmittelbar in Handlung über. […] Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei lässt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen, und operiert innerhalb seiner.“ (Hegel 1979: 331) Noch deutlicher, aber unmissverständlich befürwortend, charakterisiert Thomas Mann die Tatsache, dass (eingreifende) Politik dem – wie er es ausdrückt – „deutschen Geist“ fremd wäre. Für ihn ist klar, dass Politik die Gefahr von „Verdummung und Verpöbelung“ in sich birgt; dementsprechend verkündet er nicht ohne Stolz: „[D]ie deutsche Humanität widerstrebt der Politisierung von Grund aus, es fehlt tatsächlich dem deutschen Bildungsbegriff das politische Element.“ (Mann 1960: 111)

In diesem Sinn lässt sich eine politische Aussage dahingehend, dass ein aktiv-widerständiges Eingreifen in die gesellschaftlichen Zustände in irgendeiner Form befürwortet wird, im Bildungsbegriff nicht finden. Es wäre jedoch grundfalsch, daraus abzuleiten, dass die Idee der Bildung somit hinsichtlich der weiteren Entwicklung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse unbedeutend gewesen wäre beziehungsweise sie nicht auch heute noch eine ganz wesentliche Basis derselben darstellen würde. Tatsächlich wohnt dem Bildungsbegriff – obwohl er vordergründig weitgehend politisch abstinent daherkommt – eine gesellschaftspolitisch höchst relevante Botschaft inne. Sein politischer Charakter und seine entsprechende Bedeutung für die Legitimierung der sich in der Folge etablierenden bürgerlich-demokratischen Ordnung steckt darin, dass er auf Vernunft fokussiert, dabei aber eine spezifische Sichtweise von Vernunft zum Tragen kam und in weiterer Folge ihre Wirkung als Legitimation der gesellschaftlichen Zustände entfalten konnte. Wie schon angesprochen, war der Wunsch des Bürgertums, die in der feudalen Gesellschaft gegebene Begrenzung ihrer Macht zu überwinden und den Adel in seiner Vormachtstellung abzulösen, durch die Idee legitimiert, dass anstatt religiös begründeter Vorgaben die konkreten, als nützlich idealisierten Leistungen von Menschen über ihre gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten bestimmen sollen. Während also vordem die soziale Hierarchie durch ein auf Glaubensüberzeugungen beruhendes Prinzip legitimiert worden war, bezog sich das Bürgertum mit der Bildungsidee auf die in der Aufklärung zunehmend bedeutsam gewordene Vorstellung, dass Vernunft das Prinzip gesellschaftlicher Regulierung sein soll. Allerdings wurde Vernunft im Zuge der Fokussierung durch die Bildungstheorie und des Übergangs zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung in eine Form gebracht, mit der die ursprüngliche Bedeutung dieses Begriffs eine seine Ausrichtung grundlegend verändernde Einengung erfuhr – eine Bedeutungsveränderung, die bis heute im immer wieder aufs Neue thematisierten (vorgeblichen) Gegensatz von Bildung und Ausbildung fortlebt (siehe dazu: Ribolits 2011: 49 ff.).

Die Reduktion der Vernunft auf ein Verfahren

Der Antagonismus von Glaube und Vernunft und die damit verbundenen Kontroversen haben eine lange Geschichte. Die Opposition zu dem am Glauben orientierten Leben stellte aber ursprünglich ein anderes und vor allem viel weitreichenderes Konzept von Vernunft dar, als jenes, das im bürgerlich-kapitalistischen System letztendlich die Oberhand gewann. Schon im Vorfeld der Moderne hatte sich über mehrere Jahrhunderte ein Wandel im abendländischen Denken angebahnt, in dessen Verlauf sich die Vorstellung, was Vernunft sei, von einem der Wirklichkeit innewohnenden Prinzip zunehmend zu einem subjektiven Vermögen des Geistes wandelte. Diese schlussendlich zum Durchbruch gelangte Vernunftwahrnehmung haben Vertreter der Frankfurter Schule in Abgrenzung zur vordem dominierenden „objektiven Vernunft“ als „subjektive“ oder „instrumentelle Vernunft“ bezeichnet. Sie charakterisierten damit die zwischenzeitlich als nahezu unhinterfragbare Wahrheit erscheinende Interpretation von Vernunft als eine bloße Funktion des Denkmechanismus, „als die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und dadurch einem gegebenen Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen“ (Horkheimer 2007: 18). Im Sinne einer derartigen Interpretation geht es nicht um das Hinterfragen menschlichen Handelns hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit vernünftig wahrgenommenen Prinzipien, sondern bloß um eine vom Standpunkt des Subjekts vorgenommene Überprüfung der Angemessenheit der Zweck-Mittel-Relationen des Handelns. Wenn Ziele überhaupt thematisiert werden, bestehen diese im Rahmen instrumenteller Vernunft darin, „dass sie den Interessen des Subjekts, seiner wirtschaftlichen und vitalen Selbsterhaltung dienlich seien, wenn nicht des isolierten Individuums, so doch der Gruppe, mit der es sich identifiziert“ (Horkheimer 1951: 6).

Vernunft wird als Werkzeug begriffen, mit dem die Welt als Gegenstand technischer Manipulation in den Fokus genommen wird und aufgrund von dessen Funktionsweise die Natur – einschließlich der des Menschen selbst – subjektiven Zwecken und Interessen unterworfen erscheint. Diese Sichtweise von Vernunft steht in schroffem Gegensatz zur vorherigen, in der das „Dasein der Vernunft als eine Kraft nicht nur im individuellen Bewusstsein, sondern auch in der objektiven Welt – in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen“ (Horkheimer 2007: 17) wahrgenommen worden war.

Der auf Vernunft setzende Gegenspieler der Religion, die Philosophie, „[begriff] sich selbst als Abbild des vernünftigen Wesens der Welt, gleichsam als Sprache oder Echo des ewigen Wesens der Dinge. Das Vernehmen der Wahrheit durch den Menschen war eins mit der Manifestation der Wahrheit selbst, und die Fähigkeit zu solchem Vernehmen schloss alle Operationen des Denkens ein.“ (Horkheimer 1951: 5) Die Annahme einer objektiv waltenden Vernunft war die Grundlage für das Bemühen der Philosophen, eine allumfassende, fundamentale Struktur des Seins beziehungsweise eine Hierarchie alles Seienden zu suchen und daraus einen Entwurf der menschlichen Bestimmung abzuleiten. Indem der Mensch als ein integrales Element der Natur begriffen wurde, galt die Lebensführung eines Menschen als gut, wenn sie vom Bemühen um Harmonie mit der allem Sein eingeschriebenen Vernunft getragen war. Da dem Sein ein objektiver Sinn zugeschrieben wurde, es somit als Repräsentation der Vernunft als solche wahrgenommen wurde, postulierte man, dass sich „gutes Leben“ darin beweise, dass es mit dieser immanenten Vernunft im Einklang steht. Man ging davon aus, dass es dem Menschen möglich sei, die „Vernunft des Seins“ über seine Sinne zu „vernehmen“, und folgerte: „Die Regeln der Tugend folgen aus der Erkenntnis dessen, was ist.“ (Ebd.: 7) Vernunft im Sinne einer abstrakten Funktion des Denkmechanismus wurde dabei keineswegs abgelehnt; man „betrachtete sie als partiellen Ausdruck einer umfassenden Vernünftigkeit, von der Kriterien für alle Dinge und Lebewesen abgeleitet wurden. Der Nachdruck lag mehr auf den Zwecken als auf den Mitteln. Das höchste Bestreben dieser Art von Denken war es, die objektive Ordnung des ‚Vernünftigen‘, wie die Philosophie sie begriff, mit dem menschlichen Dasein einschließlich des Selbstinteresses und der Selbsterhaltung zu versöhnen.“ (Horkheimer 2007: 17 f.)

Mit dem Ansatz, die in allem Sein zur Geltung kommende Vernunft zu „vernehmen“ und daraus die Konzeption des guten Lebens abzuleiten, stand die Philosophie logischerweise in klarer Opposition zur Religion. Diese geht ja davon aus, dass es dem Menschen nicht möglich sei, das von ihr als Plan Gottes begriffene Sein zu durchschauen, und dass somit einzig Gott dem Menschen den rechten Weg offenbaren kann. Aber auch wenn die Philosophie nicht auf göttliche Offenbarung, sondern auf das Begreifen der allem Sein zugeschriebenen Vernunft setzte, ging es ihr in letzter Konsequenz genauso wie der Religion darum, die höchste Wahrheit zu bestimmen und darzustellen. Der Anspruch der Philosophen der Aufklärung, den Glauben durch Vernunft zu ersetzen, zielte demgemäß keineswegs darauf ab, die objektive Wahrheit außer Kraft zu setzen, es ging ihnen darum, diese auf eine rationale Grundlage zu stellen. Tatsächlich kam es als schlussendliche „Lösung“ des Konflikts aber zum Außerkraftsetzen sowohl des religiösen als auch des philosophischen Wahrheitsanspruchs, was ein nachhaltiges Aushöhlen beider Weltbilder nach sich zog. „[D]ie aktive Kontroverse von Religion und Philosophie [endete] in einer Sackgasse, weil beide als getrennte Kulturbereiche betrachtet wurden. Die Menschen haben sich allmählich mit dem Gedanken versöhnt, dass beide ihr eigenes Leben führen innerhalb der Wände ihrer kulturellen Zelle und einander tolerieren. Die Neutralisierung der Religion, die jetzt auf den Status eines Kulturguts unter anderen reduziert ist, widersprach ihrem ‚totalen‘ Anspruch, dass sie die objektive Wahrheit verkörpere, und schwächte ihn zugleich ab. Obgleich die Religion, oberflächlich betrachtet, weiterhin geachtet wurde, ebnete ihre Neutralisierung den Weg, sie als Medium geistiger Objektivität auszuschalten und letztlich den Begriff einer solchen Objektivität abzuschalten […]. Die Philosophen der Aufklärung griffen die Religion im Namen der Vernunft an; letzten Endes war das, was sie zur Strecke brachten, nicht die Kirche, sondern die Metaphysik und der objektive Begriff der Vernunft selbst, die Quelle der Macht ihrer eigenen Anstrengungen. […] Vernunft hat sich selbst als ein Medium ethischer, moralischer und religiöser Einsicht liquidiert.“ (Ebd.: 30 f.)

Instrumentelle Vernunft – der Fetisch, der die aktuellen Machtverhältnisse begründet

Was wir heute als Religion bezeichnen, sind Überreste jenes abstrakten Prinzips, das die Machtverhältnisse in vormodernen Gesellschaften legitimierte und gegen das die an objektiver Vernunft orientierte Philosophie der Aufklärung angetreten war. Im Gegensatz zu heute stellten Religion und Glaube in der Vormoderne allerdings Grundlage und Begrenzung aller Diskurse und Interaktionen und nicht bloß eine gesellschaftliche Sphäre dar, die neben anderen wie zum Beispiel der Ökonomie, dem Recht, der Familie oder der Politik existiert. Der Glaube war das Gemeinsame und Verbindende aller gesellschaftlichen Sphären – jedes Verhalten musste sich vor dem Glauben rechtfertigen. Menschen beurteilten ihr Handeln nicht in Bezug auf ein mehr oder weniger effektives Einwirken auf Natur und Mitmenschen, vielmehr galt ihnen jedwedes Tun als Ausdruck religiöser Lebensführung. Religion war nicht ideologischer Überbau, sondern – als Ausdruck damals geltender Wahrheit – nicht hinterfragbarer Ausgangspunkt und Begrenzung aller Argumentation. Sie war Ausdruck des geltenden „Fetischsystems“, das den Zusammenhang in einer Gesellschaft herstellt, indem es die gesellschaftlichen Machtverhältnisse legitimiert, also regelt, was Menschen einander antun dürfen. Alles Tun erlangte erst aus seiner Relation zum Fetischsystem Religion die ihm zukommende gesellschaftliche Bedeutung. Daraus folgt, dass im Zuge des zunehmenden Bedeutungsverlustes der Religion, in Form ihrer Departementalisierung zu einer Sphäre neben anderen, ein neues Fetischsystem zur Legitimation der veränderten Machtverhältnisse erforderlich wurde. Es bedurfte eines neuen metaphysischen Prinzips, das den Menschen als etwas Objektives, fraglose Plausibilität Einforderndes erscheint und ihnen eine spezifische Natur- und Gesellschaftsbeziehung abverlangt. Dieses sich parallel zum Verdrängen der Religion aus dem gesellschaftlichen Zentrum herausbildende und im bürgerlich-kapitalistischen System schließlich endgültig zum Durchbruch kommende neue Fetischsystem lässt sich im „Selbst(erhaltungs)interesse“dingfest machen. Die jedem gesellschaftlichen System vorgelagerte Frage nach dem guten Leben wurde abgelöst von der Frage nach dem adäquaten Überleben innerhalb des gesellschaftlichen Systems. Die aus diesem Anspruch abgeleiteten Wahrheiten und Regeln sind es, vor denen sich jedes Tun und Lassen seit Beginn der bürgerlichen Moderne in zunehmendem Maß rechtfertigen muss.

Das Werkzeug, mit dem das Selbstinteresse zur Geltung gebracht wird, ist die um ihren objektiven Gehalt gebrachte, bloß noch funktional begriffene Vernunft. „[D]ie etablierte bürgerliche Ordnung [hat] die Vernunft vollends funktionalisiert. Sie ist zur zwecklosen Zweckmäßigkeit geworden, die eben deshalb sich in alle Zwecke einspannen lässt. Sie ist der Plan an sich betrachtet.“ (Adorno/Horkheimer 2000: 111) Die Vernunft, ursprünglich angetreten als Mittel zum Hinterfragen des Fetischsystems Religion, wurde als Konsequenz ihrer Instrumentalisierung damit letztendlich selbst zum Fetisch – zu einer objektiven Macht, die vom Menschen unabhängig zu gelten scheint. „[D]as Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [hat] sich in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt […], die immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert“ (Foucault 1996: 81). Diese Fetischierung der Vernunft hat weitreichende Konsequenzen: „Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle die Begriffe, die […] in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr sanktioniert sein sollten, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch Ziele und Zweck, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität zusammenzubringen. […] Wer kann sagen, dass irgendeines dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als sein Gegenteil? Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als Klassifikation von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die Feststellung, dass Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. […] Je mehr der Begriff der Vernunft an Kraft einbüßt, desto mehr gibt er sich her zu ideologischer Manipulation und zur Propagierung selbst der dreistesten Lügen.“ (Horkheimer 2007: 36 f.) Die Reduzierung der Vernunft auf ein subjektives Vermögen raubt dem Menschen das Bewusstsein, Element eines Ganzen zu sein, und wirft ihn völlig auf sich selbst zurück, er wird zu einer isolierten, auf Eigennutz fokussierten Monade und das gesamte Universum zum entsprechenden Mittel. „Als Endresultat des Prozesses haben wir auf der einen Seite das Selbst, das abstrakte Ich, jeder Substanz entleert bis auf seinen Versuch, alles im Himmel und auf Erden in ein Mittel seiner Erhaltung zu verwandeln; und auf der anderen Seite haben wir eine leere, zu bloßem Material degradierte Natur, bloßer Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.“ (Ebd.: 114) Indem Vernunft von einer Theorie zu einem Instrument geworden ist, ist sie für eine Überprüfung der hinter den Prämissen des Lebens stehenden Zwecke ungeeignet, als (vernünftiges) Orientierungskriterium des rechten Lebens bleibt dem Menschen bloß noch die Frage, welches Verhalten ihm zum Vorteil gereicht und welches nicht.

Aus diesem Fokus lassen sich Natur und Mitmenschen aber nur als potenzielle Gefahrenquellen wahrnehmen, die es argwöhnisch zu beobachten und in Schach zu halten gilt, da sie die jeweils eigenen Selbsterhaltungsmöglichkeiten beschneiden könnten. Die Folge ist ein Gesellschaftssystem, in dem jeder „dem gesamten Rest der Welt“ als Gegner gegenübersteht – anderen Menschen, der Natur, letztendlich auch sich selbst in Form der je eigenen Natur. Die instrumentelle Vernunft erzwingt den Fokus von Ausbeutung und Konkurrenz – im Umkehrschluss gilt die von diesen Prämissen gespeiste Haltung als logischer Ausdruck von Vernunft. Da Vernunft bloß operative Bedeutung hat, ist sie zum Machtinstrument im allgemeinen Konkurrenzkampf degeneriert und artikuliert sich als Strategie und Cleverness. Nicht zufällig wird heutzutage fallweise durchaus auch von Kriminellen, betrügerischen Geschäftsleuten oder populistischen Politikern, verschiedentlich auch von Diktatoren behauptet, dass sie außerordentlich intelligent wären. Gemeint wird damit das besondere Geschick – genau genommen: die besondere Skrupellosigkeit –, die sie bei der Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen zeigen. Was bewundernd als Ausdruck besonderer Vernunft interpretiert wird, ist letztendlich nichts anderes als Rücksichtslosigkeit und Kaltblütigkeit beim Durchsetzen der jeweiligen Eigeninteressen durch strategisch-geschicktes Vorgehen gegenüber (Interessens‑)Gegnern.

Die Vorstellung, Ziele aus anderen Gründen als solchen des eigenen Vorteils zu verfolgen, ist der instrumentellen Vernunft nicht zugänglich – dies gilt auch dann, wenn sie sich über den Standpunkt der individuellen Nützlichkeit erhebt und ihren Fokus beispielsweise auch auf die Familie oder andere über gemeinsame Interessen definierte Gruppen ausdehnt. Wer heutzutage unter dem Titel Vernunft ein Verhalten einfordert, das nicht mit dem Verfolgen individueller oder gruppenspezifischer Interessen legitimiert werden kann, gilt als hoffnungslos antiquiert – als vernünftig gilt Verhalten einzig, wenn es sich über Aufwand-Erfolgsrelationen argumentieren lässt, also berechenbar und letzten Endes in Gelddimensionen darstellbar ist. Als Konsequenz daraus wird auch jemand, der nicht aus Berechnung, sondern auf Basis von Motiven agiert, die sich einem Erfassen in Kosten-Nutzen-Dimensionen entziehen, und der nicht andauernd seinen persönlichen Vorteil verfolgt, umgehend als dumm oder zumindest weltfremd abqualifiziert und nicht selten zynisch als „Gutmensch“ apostrophiert. Die instrumentelle Vernunft unterwirft das Leben dem Primat des Nutzens, dem Utilitarismus. Die Frage, ob und in welchem Umfang sich das Verfolgen eines Ziels rentiert, also Gewinn abwirft, ist die alles entscheidende Frage des bürgerlich-kapitalistischen Weltbilds. Letztendlich muss sich alles menschliche Tun dieser Zielsetzung unterordnen und wird damit zu mehr oder weniger nützlicher Arbeit. Diese wird in diesem Sinn auch nicht mehr als „Notdurft des Daseins“ (Pieper) und demütig zu akzeptierende Strafe eines Gottes wahrgenommen, sondern als logische Konsequenz vernunftorientierten Daseins.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass alles Handeln von Menschen grundsätzlich durch kalkulatorische Überlegungen gesteuert ist. Menschen lassen sich nicht (völlig) auf den Status von Rechenmaschinen degradieren und machen selbstverständlich, „ihrer Natur entsprechend“, auch Dinge aus Liebe, Freundschaft, (Lebens-)Lust oder anderen Gründen, aus denen ihnen kein Vorteil im Sinne einer Durchsetzung ihrer Interessen erwächst. Da eine Bezugnahme auf eine inhaltlich und nicht bloß formal begriffene Vernunft dabei heute allerdings nicht denk- und argumentierbar ist, werden derart motivierte Handlungen zwar als „typisch menschlich“ gewissermaßen „entschuldigt“, unterliegen in letzter Konsequenz aber stets dem Verdikt der Unvernunft. Es sei eben notgedrungen erforderlich, mit derartigen „unberechenbaren“ Verhaltensweisen klarzukommen, da es für Menschen offenbar nicht ausreichend möglich ist, sich Nützlichkeitskalkülen zu unterwerfen. Konsequenz daraus ist, dass Individuen ihren solcherart in die Ecke der „Unvernunft“ gedrängten menschlichen Regungen nur „distanziert“ und mit dem Gefühl begegnen können, dabei einer in ihnen wirkenden „sinnlosen Natur“ ausgeliefert zu sein. Da für derartige „Impulse der Menschlichkeit“ keine Entsprechung in den gegebenen Machtverhältnissen und der korrelierenden Selbstinterpretation der Subjekte gegeben ist, müssen sie ihnen als etwas Unverständlich-Fremdes und ihr mühsam auf Vernunft getrimmtes Weltbild Bedrohendes erscheinen. Der ihnen auferlegte Fokus des Nutzens führt dazu, dass sich Individuen somit selbst fremd gegenüberstehen, sie sind sich selbst nur als Objekte im allumfassenden Prozess der Verwertung von allem und jedem begreifbar und treiben diesen dabei immer weiter.

Indem Vernunft eine Gleichsetzung mit Kalkulation erfährt, geht ihr auch jede perspektivische Dimension verloren. Das Denken dient bloß noch dem Überlebenskampf und wandelt sich von einem Hilfsmittel des Hinterfragens und Überwindens der Machtverhältnisse dazu, innerhalb derselben und deren Erfolgskriterien entsprechend möglichst gut über die Runden zu kommen. Als vernünftig wird ein Mensch bezeichnet, der in der Lage ist, das zu erkennen und anzustreben, was ihm im Sinne gesellschaftlicher Erfolgsvorgaben nützt, indem es ihm im allgemeinen Konkurrenzkampf eine bessere Position verschafft. Alle Dinge, Natur und Menschen werden zum Mittel, um dem einzigen Zweck zu dienen, der im Fokus instrumenteller Vernunft Sinn ergibt, dem Durchsetzen der jeweils eigenen Interessen. Instrumentelle Vernunft stellt somit die Grundlage der blind an Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft samt ihrer durch nichts gehemmten Ausbeutung von Mensch und Natur dar, sie ist der Kern ökonomischer Rationalität. Vor allem aber ist sie die Basis des „guten Rufs“, den die Konkurrenz einschließlich der mit ihr zwingend verbundenen Konsequenz genießt, dass der je eigene Erfolg immer nur um den Preis des Reduzierens der Lebensmöglichkeiten anderer möglich ist. Dem Vernunftnimbus der Konkurrenz entsprechend wird diese ja selbst von den euphemistisch als „Verlierer“ im Kampf jeder gegen jeden Bezeichneten kaum je in Frage gestellt, beklagt wird bestenfalls ihre „ungerechte“ Verwirklichung. Gefordert werden nicht dem aktuellen Stand der Produktivkräfte entsprechende optimale Lebensbedingungen für alle, sondern bloß eine „Gleichheit der Chancen“ beim Run um die ungleichen Überlebensmöglichkeiten (vgl.: Ribolits 2013: 63 ff.).

Die Unterordnung alles Seienden unter einen abstrakt-logischen Formalismus raubt der Vernunft völlig ihre Potenz zur kritischen Reflexion der Prämissen der gegebenen Gesellschaftsformation. Reflexion würde ja eine Bezugsgröße außerhalb des Gegebenen voraussetzen – ohne eine derartige, quasi objektive „Reflexionsfläche“ mündet jeder Reflexionsansatz in bloßer „Nabelschau“. Erst eine Bezugsgröße außerhalb des Referenzsystems ermöglicht das Gewinnen einer Sichtweise, die das durch den Status quo Vorgegebene transzendiert. Genau diese objektive Dimension wurde der Vernunft im Zuge ihrer Instrumentalisierung aber genommen. Auf Basis instrumenteller Vernunft ist demgemäß das Entwickeln einer utopischen Perspektive nicht möglich. Aus ihr kann keine Hoffnung auf eine Welt jenseits der aktuellen Erscheinungsformen der Macht erwachsen, wodurch sie sich letztendlich als Hauptinstrument des Tradierens der gegebenen Ausbeutungsverhältnisse erweist. Da die instrumentelle Vernunft keine Perspektive zu eröffnen imstande ist, aus deren Fokus sich ein Leben entwerfen ließe, das über die im Status quo gefangenen Möglichkeiten hinausgeht, kann in den gegebenen Machtverhältnissen angelegtes „Unrecht“ von ihr gar nicht als solches erkannt werden. Sie steht den Verhältnissen quasi neutral – oder vielmehr: blind – gegenüber. Auf diese Art stützt sie diese, verleiht ihnen dabei aber den Nimbus der Vernünftigkeit. Jeder Ansatz, der über die bestehenden Verhältnisse hinausweist, indem andere Menschen nicht als Konkurrenten und die Natur nicht bloß als Ressource wahrgenommen werden, landet automatisch in der Ecke der Unvernunft – ein vernünftiger Ausweg aus den gegebenen Verhältnissen ist somit verbaut!

Teil II erscheint in Streifzüge 67

 

Literatur

Adorno Theodor W.; Horkheimer Max (2000): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
Foucault Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Hegel Georg Wilhelm Friedrich (1979): Werke in zwanzig Bänden, Bd. 20, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Horkheimer Max (1951): Zum Begriff der Vernunft. Frankfurter Universitätsreden, Heft 7, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann.
ders. (1985): Die Vernunft im Widerstreit mit sich selbst, in: Gesammelte Schriften 12, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag.
ders. (2007): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag.
Lohmann Ingrid (2002): Bildung und Gesellschaft. Die Entstehung ihrer Beziehung am Beginn der Moderne. Überarbeitetes Vorlesungsmanuskript, Universität Hamburg, FB Erziehungswissenschaft.
Mann Thomas (1960) Betrachtungen eines Unpolitischen, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag.
Negt Oskar (2012): Nur noch Utopien sind realistisch. Politische Interventionen, Göttingen: Steidl Verlag.
Ribolits Erich (2011): Bildung – Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs, Wien: Löcker.
ders. (2013): Abschied vom Bildungsbürger. Über die Antiquiertheit von Bildung im Gefolge der dritten industriellen Revolution, Wien: Löcker.