Stellt Euch vor, das Proletariat kommt in Bewegung – und die Linke ekelt sich!
von Peter Klein
Es sind verdämmernde Begriffe, das Proletariat und die Linke. Allenfalls in den Köpfen der älteren Generation, die sich die Erinnerung an die klassische Arbeiterbewegung bewahrt hat, spielen sie noch eine Rolle. Aber auch dort nur eine negative. Sie seien nicht nicht mehr dafür geeignet, die heutige gesellschaftliche Situation zu beschreiben, ist die verbreitete Meinung.
Ich bin mir da nicht so sicher. Was heute spürbar in Bewegung gekommen ist und was den sogenannten Rechtspopulismus gleichsam sozial unterfüttert, ist zwar nicht dem klassischen Proletariat zuzuordnen, sofern man darunter Menschen versteht, die in der Industrie arbeiten und „Werte schaffen“. Das Proletariat dieser Art ist in der ganzen Welt zerstreut, und überall, wo es vorkommt, ist es froh, dass es – noch – die Gelegenheit hat, auf anständige Weise Geld zu verdienen. Wer in diesem Sinne zum Proletariat gehört, dürfte politisch eher zu den Braven im Lande gehören. Er wird sich hüten, öffentlich mit den „westlichen (oder eben den landesüblichen) Werten“ in Konflikt zu kommen.
Gleichwohl gibt es unter den Ausländerfeinden und Merkel-Bashern, wenn man einmal von den um ihre Aktien-Depots besorgten AfD-Bürgern absieht, ganz offensichtlich einen gehörigen Anteil von Menschen, die ihrer sozialen Lage nach dem unteren, wenn nicht untersten Teil der Gesellschaft zuzurechnen sind, den „Deklassierten“ etwa, wie sie in den Streifzügen 64 genannt werden (F. Schandl: Von der Deindustrialisierung zur Deklassierung). Das wären also Langzeitarbeitslose, Gelegenheits-Jobber, Kleinkriminelle, alleinerziehende Mütter und vielleicht auch verbitterte Rentner, die, um finanziell über die Runden zu kommen, irgendwelche Prospekte austtragen oder sonstwie als Aushilfen tätig sein müssen. Leute eben, die deutlich spüren, dass sie in „diesem System“ auf keinen grünen Zweig mehr kommen werden. Jedenfalls gehören die rechten Miesepeter nicht zu den Siegern des globalisierten Kapitalismus, sondern, sei es real oder in der eigenen Wahrnehmung, zu den Verlierern. Und sie sind mit diesem Zustand unzufrieden.
Wenn wir das Wort „Proletariat“ so verstehen, als Metapher für eine Unzufriedenheit, die im weitesten Sinne von unten kommt, scheint es mir durchaus einen Inhalt zu transportieren, mit dem sich etwas anfangen lässt. Zunächst ist es schon ein Vorteil, dass mit diesem Wort überhaupt einmal das Thema der sozialen Lage der Menschen zur Sprache kommt. Man erhält dadurch die Möglichkeit, die ideologischen Brocken und Bewusstseinszustände, mit denen sie auf ihre Situation reagieren, als einen eigenen, von dieser Situation unterschiedenen Faktor der gesellschaftlichen Realität zu behandeln. Was natürlich sofort zu der Frage führt, inwieweit Bewusstsein und soziales Sein zusammenpassen, inwieweit mit den rechten Parolen eine realistische Perspektive zur Verbesserung der sozialen Lage verbunden sein kann.
Eine Linke, die diese Unterscheidung zwischen sozialem Sein und damit einhergehendem Bewusstsein trifft, ist momentan nicht in Sicht. Zumindest tritt sie nicht öffentlich in Erscheinung. Sie verschwindet hinter jener „Linken“, die sich logischerweise daraus ergibt, dass sich die Freunde der Mehrheitsdemokratie mit allen Zeichen des Abscheus gegen „rechts“ abgrenzen und Bekenntnisse zu den Grundwerten der „freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung“ ablegen: für Menschenrechte, Solidarität und Humanität, für „eine offene, menschliche und von Vielfalt geprägte Gesellschaft“ (Zitat aus einer am 2. Oktober 2015 in den überregionalen Zeitungen erschienenen Anzeige zum „Nationalen Tag des Flüchtlings“ und „zum 3. Oktober 2015, dem 25sten Jahrestag eines vereinigten Deutschlands“). Was aber wird uns mit dieser Zurschaustellung der moralisch einwandfreien Gesinnung mitgeteilt, jedenfalls indirekt? Dass es sich bei dem „rechten Pack“ offensichtlich um ein moralisches, nicht etwa um ein soziales Problem handelt. Man weiß nicht, wie es kommt, aber leider gibt es, kenntlich gemacht am Lackmuspapier der „Flüchtlinge“, eine moralisch minderwertige Spezies von Menschen, die all diese schönen Dinge nicht will: keine Menschlichkeit, keine Weltoffenheit.
Dadurch, dass sie ihre wunderbaren „Werte“ ohne den funktionierenden Kapitalismus denken, der logisch dazugehört, werden die Freunde der Demokratie zu einer Art Glaubensgemeinschaft. Die demokratischen Werte, zu denen sie sich bekennen, sind sozusagen immer und an und für sich richtig und schätzenswert, so dass sie historisch gesehen in der Luft hängen. Und wenn sie mit der Krise des Kapitalismus ihre Wirkung und Kraft verlieren, wenn sich Phänomene häufen, die vom demokratischen Standpunkt aus unerwünscht, peinlich und barbarisch sind, dann bleibt nichts anderes übrig, als den Glauben an sie erst recht zu zelebrieren und mit dem Mut des Märtyrers für sie einzutreten. Denjenigen aber, die sich gegen diese Werte versündigen, die sich gleichsam als die Ketzer und Apostaten der Demokratie betätigen, muss mit einer heftigen Abwehrgeste die „rote Karte“ gezeigt werden. Tatsächlich scheint es, durchaus passend zur Konkurrenzgesellschaft, eine Art Wettbewerb unter den bekennenden Demokraten zu geben, wer angesichts der Pegida-Demonstrationen das größte Potential an Abscheu und Ekelgefühlen vorzuweisen hat.
Mit Blick auf die soziale Unterfütterung der Pegida-Demostrationen wäre dies ein weiterer Grund, die rechten Widerlinge in die Nähe der altehrwürdigen Kategorie des Proletariats zu rücken. Abscheu zu erregen bei den „anständigen Menschen“, verachtet zu werden, ist seit jeher ein zuverlässiges Kennzeichen derer, die unten sind. Selbstverständlich können auch die „jungen Männer nordafrikanischen Aussehens“, die sich in der Silvesternacht so unangenehm bemerkbar gemacht haben, Anspruch darauf erheben, hier eingeordnet zu werden. Das einfache, redliche Volk, das darauf wartet, dass aufgeklärte Intellektuelle ihm zu seinem „Recht“ verhelfen, ist eine Legende aus dem 18. Jahrhundert, und das ist lange vorbei. Ohne die Brille des Rousseauismus wahrgenommen, ist Unten-sein ein Zustand, der die Menschen nicht schön macht, auch nicht freundlich oder klug. Unten zu sein, auf dem sozialen Abstellgleis, bedeutet meistens auch, ungebildet, primitiv und widerlich zu sein. Schon seinerzeit, als der Begriff des Proletariats aufkam, wurde er von Synonymen wie Pöbel, Mob, Gesindel und Abschaum begleitet. „Vagabondierende Habe- und Taugenichtse, töricht manche von euch, Verbrecher viele von euch, Elende alle!“ So fasste Thomas Carlyle seinen Eindruck von den „Paupers“ seiner Zeit in den Latter-Day Pamphlets zusammen. (MEW 7, S. 267)
Dass auf diesem Boden reaktionäre Verhaltensweisen gedeihen, wird niemanden wundern. Reaktionär im Wortsinn ist schon einmal die bei den Unterschichtlern verbreitete Neiung zum schnellen Hinschlagen, weil es sich dabei eben um ein unvermitteltes, sozusagen kopfloses Reagieren handelt. Neue soziale Phänomene, die in die gewohnte Lebenswelt nicht passen, die als nachteilig oder bedrohlich empfunden werden, stoßen auf ein bitterböses „Nein, ich mag nicht!“, wie man es auch von kleinen Kindern zu hören bekommt. Mit dieser Kindlichkeit des unvermittelten Ja oder Nein gehören die Unterschichtler allerdings unter das gleiche Dach der bürgerlichen Bewusstseinsform wie alle anderen Demokraten. Seit jeher bewegt sich ja der bürgerliche Alltagsverstand, dem die allumfassende Vermittlungsinstanz „Gott“ abhanden gekommen ist, in unvermittelten Gegensätzen. Er legt es darauf an, die gesellschaftlichen Phänomene so wahrzunehmen, dass sie zu Dingen und Prinzipien gerinnen, die man politisch „wollen“ oder „nicht wollen“ kann. Die einen wollen „keine Flüchtlinge“, die anderen „keine Nazis“; kontextunabhängig wird „gewollt“. Die kapitalistische Krise, ob sie sich nun als endloser Flüchtlingsstrom nach Europa und um den ganzen Globus wälzt, ob sie als salafistischer Hassprediger in Erscheinung tritt oder als rechter Heimatschutzbund, schert sich weder um das eine noch das andere Wollen. Solange sie nicht als solche begriffen wird, sorgt sie nur dafür, dass der Ton schroffer, das Wollen gewalttätiger wird.
Soweit die aktuelle Bewegung, die mit Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte von sich reden macht, sich politisch artikuliert und die nationale Identität hochleben lässt, ist sie natürlich erst recht als reaktionär einzustufen, auch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie stellt geradezu einen Rückfall dar hinter das von den Mehrheitsdemokraten erreichte Niveau der Anpassung an den globalen Kapitalismus. Der Nationalismus hatte seine große Zeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für die aus der religiösen Einfalt, der Standesehre und so mancher anderen Beschränktheit vertriebenen Menschen stellte er so etwas wie eine Ersatzheimat dar, mit der sich auch die Unterschichten identifizieren konnten. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder, dem Sozialismus, half er mit bei der Enstehung jener Struktur, die allen Bürgern die gleiche Form der selbstverantwortlichen Rechtsperson aufprägte, so dass sie als freie Verkäufer ihrer Arbeitskraft auf dem Markt erscheinen und gleichberechtigt um die vom Kapital angebotenen Arbeitsplätze konkurrieren können. Diese einheitlich strukturierte Marktgesellschaft hat jahrzehntelang automatisch funktioniert, ideologiefrei sozusagen, und wenn sie jetzt kaputtgeht, ist es vergebliche Liebesmüh, wenn die Opfer dieser Entwicklung Glaubensbekenntnisse zu einem Nationalismus ablegen, der seine große und durchaus nicht schöne Zeit in der Vergangenheit hatte. Die Zeit des national umhegten und sozial abgepolsterten Kapitalismus, der durch die Köpfe der Pegida-Demonstranten geistern mag, ist unwiderruflich vorbei. Die Integrationsideologien des 19. Jahrhunderts hatten ihre historische Mission darin, dass sie dem demokratischen Kapitalismus den Weg bereiteten. Die Krise des Kapitalismus bringt die seinerzeitigen Produktionsverhältnisse genauso wenig zurück wie die seinerzeitigen Glaubenserlebnisse. Mit dem Ruf nach der Nation, sei es auch der „sozialistischen“, ist kein gangbarer Weg mehr verbunden, kein politisches Handlungskonzept, schon gar nicht unter kapitalistischen Vorzeichen. Er ist nichts weiter als der Ausdruck tief empfundener Heimatlosigkeit und Entwurzelung.
Was also bleibt, wenn man die rechte Bewegung getrennt von dieser Sackgassen-Ideologie wahrnimmt? Der Hass und die Verbitterung von Menschen, die auf den Wohlstand und die sicheren Arbeitsplätze, die das „Wachstum“ von was auch immer ihnen bringen sollten, vergeblich gewartet haben. Die als die Ausgesonderten und Abgehängten der Konkurrenzgesellschaft in den demokratischen Menschheitsphrasen nur noch Lüge und Heuchelei zu sehen vermögen. Und die darin – mehr als ihnen wohl bewusst ist – recht haben. Schließlich sind auch die exorbitanten Flüchtlingszahlen ein Resultat der demokratischen Weltherrschaft: denn der global operierende Kapitalismus hat seine militärischen Verbrechen, etwa die von den USA verübten Erdöl-Kriege, immer nur als Sendbote der Demokratie begangen. Ob sie wollen oder nicht, die neuen Rechten praktizieren mit ihrem desaströsen Verhalten eine wenn auch hilflose Art von Antikapitalismus. Sei es auch nur darin, dass sie als das barbarische Resultat des neuesten kapitalistischen Entwicklungsstadiums aufzufassen sind, als seine hässliche Fratze.
Und als diese verdienen sie ernstgenommen zu werden. Mir imponiert es sogar, dass hier endlich einmal Verlierer auftreten, die sich von der herrschenden Ideologie des „Selber schuld!“ nicht mehr einschüchtern lassen. Die sich mit ihrem Frust nicht mehr in die private Ecke verziehen, um dort an ihren Depressionen, am Übermaß des Fett- und Medienkonsums, am Alkohol oder an sonstigen Drogen still und leise und unter Wahrung der öffentlichen Ordnung zugrunde zu gehen. Indem sie ihre schwachsinnigen Parolen brüllen und hasserfüllt um sich schlagen, stehen sie gewiss nicht besser da als die Vertreter der herrschenden Ordnung, die tagtäglich die schwachsinnige Litanei vom Wachstum und vom Wettbewerb herunterbeten. Anders als diese aber, die alle Probleme zu einer Frage der „persönlichen Leistungsbereitschaft“ umbiegen, haben sie die Krise ins allgemeine Bewusstsein gehoben. Sie sind ein nicht länger zu leugnender Ausdruck dieser Krise. So manchen „Leistungsträger“, der in seiner Beflissenheit weder nach links noch nach rechts geschaut hat, haben sie inzwischen aus dem Schlaf geschreckt. Und in der öffentlichen Debatte, die jetzt begonnen hat, werden mit Sicherheit noch andere Fragen auftauchen als bloß die, ob wir „für“ oder „gegen“ Flüchtlinge sind. Denn der sozialen Unruhe und Verwahrlosung steht noch einiges an Zukunft bevor. Von der Integrierbarkeit des sozialen, mentalen und geistigen Elends, das die rechten Proleten befeuert, kann keine Rede sein.
Die moralisierende Linke meint, sich gegen die rechte Barbarei auf die Seite der herrschenden Barbarei der Markt-Demokratie stellen zu müssen. Warum? Weil sie im Durchschnitt besser ausgebildet ist als die militanten Ausländerfeinde, weil sie somit mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt und überhaupt einen besseren sozialen Status besitzt. Im moralisierenden Anprangern des Kapitalismus und seiner verheerenden Folgen für das Klima, für die Ozeane und für alle natürlichen Ressourcen des Lebens ist sie groß, in ihrem gesellschaftlichen Sein aber hinkt sie den rechten Proleten vielfach hinterher. Die befinden sich bereits in näherem Kontakt mit der kapitalistischen Krise. Etliche von ihnen, die der freie Arbeitsmarkt als wertlos abgestempelt und ausgespuckt hat, haben das Stadium des Hoffens bereits hinter sich gelassen. Sie wollen gar nicht mehr „integriert“ werden. Das Wort ekelt sie an.
Mit anderen Worten, im Gegensatz von rechter und linker Ideologie, von verbittertem „Volk“ und demokratischem Gutmenschentum, dürfte sich in durchaus nennenswertem Ausmaß ein sozialer Unterschied bemerkbar machen: zwischen denen, die dem Hamsterrad, in dem sie funktionieren, noch einige gute Seiten abgewinnen können, und denen, die es nicht mehr können – und die daher anfangen, es von außen zu betrachten. Dieses „von außen“ scheint mir eine weitere Bestimmung zu sein, die einen Deklassierten unserer Zeit würdig macht, unter die Schar derer eingereiht zu werden, die man im 19. Jahrhundert als classe dangereuse bezeichnete. Die klassische Arbeiterbewegung sah auf diejenigen, die „außen“ herumlungerten, herab. Wer sich außerhalb der Sphäre der produktiven Arbeit herumtrieb, galt, wenn er sonst kein Einkommen hatte, als verkommenes Subjekt und Lumpenproletarier. Heute, wo das Nicht-Produzieren von immer noch mehr Gift und Müll und nutzlosen Dingen ein Fortschritt wäre, ein echter Gewinn von Lebensqualität, hat sich die Situation gedreht. Außen zu sein und trotzdem lesen und schreiben zu können, ist mindestens zum intellektuellen Vorteil geworden. Das System, das nur noch als Katastrophe funktioniert, ist von hier aus leichter zu überblicken. Die Luft ist klarer hier außen, nicht verpestet von irgendwelchen Eigenheimhypothekenabzahlungsnotwendigkeiten; hier kommen Alternativen in Sicht, die es von innen gesehen nicht gibt.
Wenn die Unterschichten sich zu diesem „Außen“ hinbewegen, dann sieht das natürlich anders aus als bei jenen „freischwebenden Intellektuellen“, die sich den Standpunkt des Außen auf theoretischem Wege erworben haben. Das sollte letztere aber nicht davon abhalten, jenes mehr praktische Außen in gehörigem Maße zu würdigen. Das Außen hat eine Zukunft. Es ist gerade dabei, sich durch den millionenfachen Zuzug der Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten zu verstärken. So dankbar, beflissen und arbeitseifrig die meisten von ihnen sein mögen: hier tut sich ein großes Potential von Nicht-Integrierbarkeit auf. Wer die Lunte sein will an dem sozialen Sprengstoff, der sich hier ansammelt, wird eine Idee propagieren, die etwa auf die folgende Formel zu bringen ist: „Nicht-Integrierbare aller Länder vereinigt Euch!“ Aber vereinigt Euch nicht in einer neuen staatsbildenden Ideologie, die es nicht geben kann, sondern vereinigt Euch in der Vielzahl von Kenntnissen und Fähigkeiten, die Ihr Euch im Verlaufe der kapitalistischen Vergesellschaftung erworben habt, und die es Euch längst ermöglichen, mit konkreten Problemen und Bedürfnissen auf konkrete Weise umzugehen.