No Nature, No Future?

Streifzüge 68/2016

von Nikolaus Dimmel

„Die Zukunft war früher auch besser“

(Karl Valentin)

 

Die Welt, so weit die materiellen Ressourcen der Erde damit gemeint sind, ist endlich. Nicht so der dem Kapitalismus inhärente Zwang, Wirtschaftswachstum qua Kredit zu generieren um Kapital zu akkumulieren. Bereits Rosa Luxemburg annotierte im 6. Kapitel zur „Die Akkumulation des Kapitals“, dass neben der Intensivierung der Vernutzung menschlicher Arbeitskraft und der Steigerung der Arbeitsproduktivität die gesteigerte Ausbeutung der Naturkräfte und natürlichen Ressourcen Ausdruck der erweiterten Reproduktion des Kapitals ist. Die fortgesetzte Akkumulation verwandelt die Welt in Ware und Markt. Beschleunigt durch die institutionalisierten Renditeerwartungen des deregulierten Kapitals werden erneuerbare Ressourcen des Planeten schneller vernutzt als sie reproduziert werden können. Zugleich werden nicht erneuerbare Ressourcen irreversibel und derart ungleich verteilt aufgebraucht, dass die Reproduzierbarkeit von Populationen, die Bewohnbarkeit von Landstrichen und die Nutzbarkeit der Erde in einem Vorgriff in die Zukunft bereits Vergangenheit sind. Wie der Kredit ein Vorgriff auf eine spekulativ erhoffte ökonomische Zukunft ist, so hat der finanzmarktgetriebene Kapitalismus die Zukunft bereits verausgabt.

 

Belastungsgrenzen

Tatsächlich ist der Metabolismus der kapitalistischen Verwertungsmaschine inzwischen an biologische, geologische und thermodynamische Belastungsgrenzen der Erde gestoßen, welche sowohl die Fortsetzung der Kapitalakkumulation als auch die Güter- und Dienstleistungsproduktion mit neuartigen Herausforderungen und Hürden konfrontiert. Der ökologische Rucksack des Konsums jener Warenwelt, die aus unwiederbringlich vernutzten Rohstoffen entsteht, wiegt schwer. So ist ein Mobiltelefon, welches einige hundert Gramm wiegt, im Rucksack 28 kg schwer. Ein Laptop weist ein Gewicht von ca. 2 kg aus, sein ökologischer Rucksack aber wiegt 745 kg. Extrapoliert man die durchschnittliche Wachstumsrate der letzten 35 Jahre, dann verbraucht der globale Kapitalismus 2030 Ressourcen, die nachhaltig bereitzustellen zwei Planeten erforderlich wären. Wollen Plutokraten, funktionelle Kapitalisten und deren Symbolagenten weiter Status durch Konsum demonstrieren und die funktionale Loyalität der Subalternen sicherstellen, führt dieser „ökologische Overshoot“ zu Ressourcenkonflikten, Armut und Verelendung, Kriegen um Wasser und bebaubaren Boden, Hungersnöten und Massenflucht (Migration).

Die Komplexität der Rückkopplungen zwischen Naturverbrauch und Reibungsverlusten in der kapitalistischen Megamaschine nimmt zu: in Florida gelten Immobilien in Strandnähe nicht mehr versicherbar und werden damit im Wiederverkauf massiv entwertet; aufgrund von steigenden Temperaturen und Wasserknappheit werden in Kalifornien Millionen von Nussbäumen kompostiert und die illegalisierten mexikanischen ErntearbeiterInnen arbeitslos; die Erschöpfung der Sandvorräte bedingt durch den Bauboom vor allem in China und den Erdöl exportierenden Staaten führt zur Entstehung einer Sandmafia, zur weltweiten Zerstörung von Sandstränden, zunehmender Krisenbetroffenheit der Tourismusindustrie sowie zu einer gerade in den informellen Ökonomien nicht mehr leistbaren Verteuerung des Bauens; die Austrockung des Ogallala-Aquifier in Nebraska beendet die intensive Landwirtschaft in den Great Plains und die Wiederkehr des texanischen „Dust Bowl“; der Kakao-Anbau in Westafrika steht dürre- und temperaturbedingt vor dem Aus, wodurch es zu unsteuerbaren Migrationsprozessen kommt; die Überfischung in den 12-Meilen-Zonen führt zur Dislozierung schwimmender Fischfabriken vor allem in den Küstenregionen „unter“-entwickelter Länder, was zur Vertreibung der örtlichen Subsistenzfischer führt. Damit entstehen Kosten, die sich im Verteilungskonflikt auch auf die Mehrwertabschöpfung niederschlagen. Alleine in Österreich werden die Kosten des Klimawandels bis 2030 auf max. 4,2 Mrd. Euro pro Jahr und bis 2050 auf max. 8,8 Mrd. Euro ansteigen. (Die Presse, 17.01.2015)

 

Naturverbrauch

Naturverbrauch wird zugleich zu Ware bzw. zu einem Spekulationsobjekt. Denn der kapitalistische Markt kann sich die Vernichtung natürlicher Ressourcen und Habitate nur als Produkt (Luftverschmutzungszertifikate) und Preis vorstellen. Zumal bei fast allem, was die kapitalistische Verwertungsmaschine an „natürlichen“ Produktionsfaktoren benötigt (Tiere, Rohstoffe, Wasser, Wasser, Luft, Boden) zwischenzeitig ein Peak erreicht ist; etwa bei Öl oder Mangan. 2012 waren knapp 66 Prozent der Meeresfisch-Bestände überfischt, vom Thunfischbestand des Jahres 1950 sind noch 10 Prozent vorhanden. Der „Living Planet Index“ 2008 hielt fest, dass die Artenvielfalt auf der Erde zwischen 1970 und 2005 um 27 Prozent gesunken ist; 34.000 Arten sind gegenwärtig vom Aussterben bedroht. Weil auf Knappheit, Versorgungsengpässe, Katastrophen und Hunger an den Börsen spekuliert wird, liegt die Zahl der Hungernden ungeachtet aller agro-industriellen Kapazitäten noch immer bei bei 0,8 Mrd. Dies drückt sich seit 2008, vorangetrieben durch die Spekulation mit Wasser und Nahrungsmitteln (Ernten) etwa in Hungerrevolten, aber auch steigendem sozialen Druck in der „Abstiegsgesellschaft“ aus.

Der ungesteuerte Ressourcenverbrauch spiegelt sich zum zweiten in der Erreichung ökologischer Belastungsgrenzen und Kipppunkte, etwa der 2-Grad-Grenze des „global warming“ (6 Grad sind heute realistisch), dem Klimawandel (Zusammenbrechen des Monsuns, Hitzewellen, lokalisierter Starkregen), dem Anstieg der Meerespiegel (1901 bis 2010 um 21 cm; bis 2100 um voraussichtlich 150 bis 200 cm; innerhalb von 300 Jahren bis zu 500 cm) und der absehbaren Unbewohnbarkeit urbaner Hafen-Metropolen, der Versteppung und Verwüstung bislang agrarisch nutzbarer Flächen, der Erwärmung des Meeres oder der Erschöpfung der Kohlenstoff-Senke im Meer. Heute verwertet das Kapital auf der Suche nach Rendite die regenerierbaren Ressourcen von 1,5 Planeten. Anders: die Biosphäre benötigt 18 Monate, um den Verbrauch der Menschheit von 12 Monaten zu decken. Das betrifft etwa die Selbstreinigungskapazität des Wassers oder die Bodenregeneration. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden 60 Prozent der weltweiten Ökosysteme übernutzt bzw. irreparabel geschädigt. Dies drückt sich in der Abholzung der Wälder, dem Rückgang der Fischbestände, zunehmender Trinkwasserknappheit, der Zunahme von Kohlendioxid in der Atmosphäre, der Verschmutzung von Böden und dem Verlust an Biodiversität aus. Die 8,5 Mio. Tonnen Plastik, die jährlich im Meer entsorgt werden, gelangen über das Plankton in die Nahrungskette und haben dort destruktive biologische wie chemische Konsequenzen. 12,6 Mio. Menschen starben 2015 unmittelbar an den Folgen von Gift im Wasser, Chemieabfällen, Strahlung oder Luftverschmutzung.

Und es spiegelt sich zum dritten am Schrumpfen bewohnbarer Habitate. Bedingt durch die Bodenerosion sinkt die Produktivität des Bodens, verringern sich die Ernteerträge, weshalb ein Teil der Landbevölkerung aus den degradierten Gebieten in die urbanen Agglomerationen wandert und dort in der Slumbevökerung (1,3 Mrd. leben in Slums) aufgeht. Andere flüchten als Umwelt- oder Klimaflüchtlinge. Konsequent werden die Konflikte um kultivierbaren Boden und Wasser bewaffnet ausgetragen. Etwa 150 Mio. Menschen sind deshalb unterwegs. Auch in Syrien herrschte von 2009 bis 2015 eine extreme Dürre, sodass die syrische Flüchtlingsbewegung 2015 als erste Klimamassenflucht verstanden werden muss. Aus gleichartigen Gründen müssen 600 Mio. Menschen perspektivistisch den Sahel verlassen, migrieren vormalige NomadInnen in der Mongolei auf der Flucht vor den „schwarzen Wintern“ in die Hauptstadt Ulaan Baatar.

In der Anthropozän-Debatte wird dieses Belastungs-Szenario verdichtet. Die aktuellen 420 ppm/m3 fanden sich das letzte Mal vor 24 Mio. Jahren in der Atmosphäre. Temperaturen erreichten korrespondierend 90°C. Vorangetrieben von Treibhausgasen, landschaftlichen Veränderungen durch die Verarbeitung natürlicher Ressourcen in Ware und Profit, die explosionsartige Erhöhung der Sedimentproduktion, die Übersäuerung der Ozeane und die Vernichtung von Arten weit über dem natürlichen Niveau der Extinktion, die Artenwanderung, die Verdrängung natürlicher Vegetation durch agroindustrielle Monokulturen reduzieren sich Reproduktions- und Entwicklungschancen menschlicher Gesellschaften auf sozial selektive Weise. Ökologischer Overshoot ist nicht dispers verteilt: er trifft vor allem Arme, Prekarier, Abstiegsgefährdete und Mittelschichten in Angst.

 

Globale Kapitalverwertung

Im historischen Rückblick zog die Erschließung und Verwertung von vorgefundener Natur in marktkompatible Ressourcen und Umwelten, als (Neo)Kolonialismus und (Neo)Imperialismus apostrophiert, von der ursprünglichen Akkumulation ausgehend einen Furor erweiterter Markteroberung und intensivierter Kommerzialisierung nach sich. Zum einen wurden selbst die letzten Winkel der Erde in den globalen Kapitalverwertungskreislauf integriert, zum anderen wurde buchstäblich alles kommodifiziert, in Ware verwandelt, aber auch zum Gegenstand der Spekulation. Waren dies in frühkapitalistischen Gesellschaften Rohstoffe, Boden und Arbeitskraft, so gilt dies heute auch für Gene, Körper, Gedanken und Gefühle, also die „Natur des Menschen“.

Im Weltsystem entwickelte sich zugleich eine komplizierte Architektur ungleicher Räume mit verlängerten Werkbänken und Zentrum-Peripherie-Konstellationen. Dies schließt transnationale Leihmutterschaften ebenso ein wie das Land-Grabbing oder den Handel mit Hypophysen. In diesem Prozess der formellen und reellen Subsumtion der Natur unter das Kapital wurden die Grenzen zwischen Natur(raum) und Kultur(raum) bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst. So tritt die Natur dem auf den/die LohnarbeiterIn/KonsumentIn reduzierten Menschen (Subalternen) als durchindustrialisierte Um- und Lebenswelt gegenüber.

Deshalb sind das wirtschaftspolitische Narrativ und der Fortschrittsglaube der Subalternen, dass es mit ihrem Konsum, der ja ihr Lebensinhalt ist, so weitergehen kann wie in den fordistischen Jahrzehnten, erschüttert. Folgerichtig wird das sukzessive Schwinden bewohnbarer Natur und die unausweichlich gewordene Klimakatastrophe in eine ästhetisierte Ware verwandelt. Tatsächlich wird im medialen Katastrophismus eine Umweltkatastrophe nach der anderen regelrecht zelebriert: Stürme, Erdbeben, Hochwasser, Dürren, Tsunamis oder Brände reihen sich aneinander, freilich nicht, ohne neoliberal imprägnierte Heldenepen über den (Social) Entrepreneur als Retter der Welt wirksam ins Licht zu rücken. In der Tat platziert Hollywood die Storyboards seiner Blockbuster immer häufiger in eine post-apokalyptischen Welt, in welcher der Kapitalismus auf den Reset-Knopf gedrückt hat und die Sache mit der einfachen Warenproduktion von Neuem losgeht. Besiedlungs- und New Frontier-Mythen sollen eindrücklich machen, dass unternehmerisches Handeln gefragt ist, um aus der Malaise des Overshoot eine künstliche Natur zu schaffen, in der es sich (wieder) leben und wirtschaften lässt.

Freilich, ein restaurativer bzw. konservierender Naturbegriff, in dem Ökonomie bzw. Gesellschaft und Natur einander entgegengesetzt werden, verkennt, dass das, was dem Menschen als Natur entgegentritt, ab einer gewissen Verdichtung sozialer und ökonomischer Interaktionen immer gesellschaftlich erzeugt worden ist. Ein „Verlust“ von Natur bezieht sich also auch immer auf den Verlust vordem gesellschaftlich erzeugter oder „gerahmter“ Natur. Allerdings ist auch eine gänzlich artifiziell gewordene, wortwörtlich bewirtschaftete, durch Geo-Engeneering, Ressourcen-Nutzung und Infrastrukturerschließung bearbeitete Natur nicht endlos nutz-, form- und konsumierbar. Phantasien wie jene des Blockbusters „Elysium“, in dem die herrschende Klasse in den Weltraum emigriert, um die Subalternen auf einer ökologisch verwüsteten Erde in Lohnknechtschaft zu halten, verkennen, dass die menschliche Biologie ein Leben im Weltraum allein schon aufgrund von Strahlung und Schwerelosigkeit nur befristet und bedingt durchhält. Wenn schon, müsste sich die herrschende Klasse in einer Mensch-Maschine-Kopplung unsterblich machen, sodass sich die Plutokratie mithilfe von Quanten-Computer-Netzwerken in hybride, tausch- und optimierbare Körper hochladen kann. Das aber ist Science Fiction. Noch sterben selbst Hegdefonds-Manager an Magenkrebs.

Auch für die herrschende Klasse bleibt der „Weltinnenraum des Kapitals“ (Sloterdijk) also „one world“. Unerbittlich stößt die auf Permanenz gestellte ursprüngliche Akkumulation, die jeden Quadratkilometer der Erde vermessen und bereits pro futuro als Ertragsobjekt be- und verwertet hat, auf harte, nicht mehr erweiterbare Grenzen. Zugleich erweist sich die Welt, wie der Klimawandel, die Versauerung, Degeneration, Versalzung, Versteppung und Verwüstung bislang bebaubarer Böden, die mit dem Faktor 1.200 über der natürlichen Extinktions-Rate liegende Vernichtung von Arten, die Erschöpfung natürlicher Grundwasser-Reservoirs u.a.m. zeigen, nicht nur als endlich, sondern als Risiko auch für die herrschenden Klassen selbst. Die sozial-ökologischen und gesundheitlichen Folgen des Betriebs von „Dump-Sites“ (Entsorgung radioaktiver Abfälle im Meer; Atemluft-, Boden- und Grundwasservernichtung durch Goldabbau oder Fracking; die Zerstörung der Meeresbiologie durch Erdölförderung, die Einbringung von Plastik und chemischen Abfällen) lassen sich nicht mehr externalisieren. Sie kehren aus der Peripherie des globalen Südens u.a. über landwirtschaftliche (Vor)Produkte in den Nahrungskreislauf und die Lebenswelt der „Ersten Welt“ zurück.