Liberalismus gut, Neoliberalismus schlecht

von Franz Schandl

Vorerst ist man enttäuscht. Das Buch ist ungefähr so wie man es erwartet. Linksakademischer Standard, der diesen erfüllt, aber nirgends darüber hinaus geht resp. überrascht. Da mögen sich einige wiedererkennen, aber insgesamt ist das sehr konventionell. Und ziemlich langatmig noch dazu. Seitenweise müssen Aristoteles und Hegel, Marx und Weber, Arendt und Foucault auftreten, doch viel mehr als Belesenheit unterstreichen diese umfangreichen Rekurse nicht. Vor allem findet sich im ganzen Band keine solide Terminologie, sodass alles kunterbunt durcheinander geht. Stringent ist da wenig.

„’Demokratie‘ gehört zu den umstrittensten und verworrensten Begriffen unseres modernen politischen Vokabulars.“ (S. 17) – Zweifellos, nur werden wir durch Brown auch nicht schlauer. „Die Demokratie ist eine leere Form, die mit einer Vielfalt schlechten Inhalts gefüllt (…) werden kann“, behauptetet sie. (S. 251) „Innerhalb von dreißig Jahren sollte die Demokratie ausgemergelt und zu einem Gespenst werden“ (S. 7), schreibt die Professorin für Politikwissenschaft an der University of California in Berkeley. Aus dem ist wohl zu folgern, dass die Demokratie einstmals vitaler gewesen ist als heute. Aber wenn ja, wann und wo? Gab es gar mehr Demokratie unter Reagan oder Kohl, gar unter Eisenhower oder Adenauer? Oder greift hier die Kategorie einfach daneben?

Das Theoretische geht im Appellativen unter. Das ganze Inventar wird kaum reflektiert: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Fair Play, Bürgerschaft, sie dürfen sich sonnen in diesem Kampf der guten Schlagworte gegen die schlechte Realität. Der Liberalismus ist immer positiv besetzt, außer er kommt mit dem Präfix „ neo“ daher. Dann wird er zum Inbegriff des Bösen. Banale Frage: Was haben der Liberalismus und der Neoliberalismus gemein, dass sie unter dem gleichem Substantiv firmieren oder wenn sie nichts gemein haben, warum verwendet man diese irreführende Begrifflichkeit? Wenn das neoliberale Subjekt nicht die Konsequenz des liberalen Subjekts ist, was dann?

Mit Foucault geht Brown davon aus, dass „nach der neoliberalen Vernunft der Wettbewerb den Tauschhandel als Grundprinzip und elementares Gut des Marktes ersetzt“ (S. 38-39) hat. Doch Tausch ist niemals ohne Wettbewerb zu denken. Das ist früher nicht so aufgefallen, weil viele Anbieter über geschützte Zonen verfügten. Über die Preisbildung war der Handel jedoch stets der Konkurrenz unterworfen. Hier wird etwas unabhängig voneinander gedacht, was zusammen gehört. Einmal mehr scheint der gute alte Warenhandel vom bösen Kapital angefallen. Nicht Entpuppung sei dieses, sondern Negation.

Ist der Neoliberalismus wirklich nicht mehr als die „Umgestaltung der liberalen Regierungskunst“ (S. 57)? Kann man sich tatsächlich politisch entscheiden, ob man sich wirtschaftlich unterordnet oder nicht? Der Band ist ein Hohelied auf die Politik und den Homo Politicus. Beide sind für die Autorin im Neoliberalismus unter die Räder gekommen. Indes, Politik baut wie Ökonomie auf Wettbewerb, Interesse und Durchsetzung, nicht auf Kooperation, Allgemeinwohl und Fürsorge. Ihre relative Autonomie ist im tendenziellen Fall begriffen. Deswegen wirkt sie auch so hilflos, allerorten. Es ist geradezu anachronistisch, die Politik immer wieder vom Markt abzuscheiden, so als handele es sich um zwei völlig verschiedene Welten.

Unter dem Stichwort Governance beschreibt Brown den Verfall des Politischen und dessen Unterordnung: „Die Vorliebe der Governance für Rationalisierung, Dezentralisierung und öffentlich-private Partnerschaften verwandelt politische Kämpfe um staatliche Zwecke und Ressourcen in lokale Verwaltungspraktiken, die sowohl die mit den Ressourcen verbundenen Einschränkungen als auch die Ziele, die ihnen übertragen werden, als etwas Gegebenes annehmen.“ (S. 150) Aber müsste, wenn man schon kritisiert, dass das Ökonomische das Politische ergreift und subordiniert, nicht viel mehr das Ökonomische selbst zum Gegenstand der Kritik werden, nicht bloß dessen Übergriff auf angeblich andere Sphären? Die Wirtschaft selbst bleibt weitgehend ausgespart.

Theoretische und empirische Teile fallen jedenfalls in der Qualität auseinander. Dort, wo sie abstrakt wird, ist die Luft dünn, dort, wo sie an anschaulichen Beispielen illustriert, wird das Buch aber interessanter. Etwa die Passagen über die Absurdität von Leistungsvergleichen oder über die seltsame Allianz von Dezentralisierung und neoliberalistischem Outsourcing. Ganz ausgezeichnet ist Wendy Browns Musteranalyse eines Urteils des Obersten Gerichtshofs der USA aus dem Jahr 2010. (S. 184-206.) Die freie Rede wurde in dieser Entscheidung interpretiert als unbeschränktes Recht des Kapitals sich Raum zu verschaffen: „Ob der Sprecher eine obdachlose Frau oder Exxon ist, freie Rede ist freie Rede, ebenso wie Kapital Kapital ist. Diese Leugnung der Stratifizierung und der Machtunterschiede auf dem Gebiet der Analyse und des Handelns ist ein wesentliches Merkmal der neoliberalen Rationalität, nämlich genau das Merkmal, das Unterschiede zwischen Kapital und Arbeit, Eigentümern und Produzenten, Vermietern und Mietern, Reichen und Armen diskursiv löscht. Es gibt nur Kapital, und ob es Human-, Unternehmens-, Finanz- oder derivatives Kapital ist, ob es winzig oder riesig ist, spielt sowohl für sein normatives Verhalten als auch für sein Recht, keinen Eingriffen zu unterliegen, keine Rolle.“ (S. 193)

Die freie Rede ist kein Gut, sondern eine Ware, über deren Verbreitung und Reichweite die Finanzkraft entscheidet. Einschränkungen sind demnach nicht erlaubt. Wer weniger hat, dessen Schweigen ist eben größer. Arme haben außerdem Schwierigkeiten ihre Ansichten zu entwickeln, sie zu motivieren als zu mobilisieren, vor allem auch, weil jene mitunter die eigene materielle Existenz gefährden könnten. Dem freien Arbeiter steht es zwar frei seine Arbeitskraft zu verkaufen, aber er kennt kein autonomes Verhalten in der Arbeit, d.h. gegenüber dem Arbeitsprozess und den Arbeitsprodukten. Hier ist er völlig befangen, egal ob er möchte oder nicht. Die Identifikation mit dem Berufs- und Alltagsleben ist Bedingung, mit diesen überhaupt zurecht zu kommen. Man identifiziert sich, weil man sich identifizieren muss. Es ist nicht möglich, permanent in Widerspruch zu stehen zu dem, was man tut. Daher denkt man auch wie man tut, anderes ist nur in Ausnahmesituationen möglich.

Wendy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp, Berlin 2015, 333 Seiten, geb. € 30,80