Alltag

von Lorenz Glatz

I.

Alltag hat für unsereinen, der gerade im Auge des Orkans lebt, noch eher den Geruch des stabilen, normalen, ausgetretenen Pfads der Reibungslosigkeit. Man könnte auch sagen: der relativ sanften Indolenz und Resignation. Die Arbeit und der Freigang, das private und das öffentliche Gewirks gehen, wie sie halt gehen müssen, und alle gehen mit, weil alle dafür sorgen, dass alle gehen. Da kann dann in der Tat (gerade noch, möchte ich hinzufügen) eine „erfolgreiche, wirksame Resignation … wie eine ziemlich glückliche Befriedigung aussehen“ (Herbert Marcuse).

Aber das Ausgeblendete, Verdrängte „draußen“ macht sich bemerkbar: als Angsttraum etwa, der die „Lage der Dinge“ leicht so verschiebt, dass sie für einen ganz persönlich kollidieren (siehe z.B. Hedwig Seyr, Ungeniert privilegiert?). Auch ein „spontaner Einfall“ kann das tun. So ist mir nach der Fingerübung des ersten Absatzes auf einmal das Wort „footprint“ „eingefallen“ – und hat den ganzen Schreibplan umgestoßen. Die Spur des sogenannten „ökologischen Fußabdrucks“ des Alltagslebens führt nämlich seit Jahren schon auf dem „Pfad der Reibungslosigkeit“ an den Rand zum Absturz. (Dabei kommt der anlaufende anthropogene Klimawandel in diesem kurzen Text gar nicht zur Sprache.)

Im Internet sind die Daten dieser Spur mit jeder Suchmaschine umstandslos aufzufinden. Als Berechnungsgröße gibt dieser Abdruck an, „welche Fläche benötigt wird, um die Rohstoffe zur Verfügung zu stellen, die der Mensch für Ernährung, Konsum, Energiebedarf etc. verbraucht, sowie die Flächen, um Rückstände wie das Kohlendioxid aus der Verbrennung von fossiler Energie aufzunehmen und umzuwandeln“. 1,4 ha pro Erdenbewohner stehen dafür zur Verfügung, wenn man noch „20 % der bioreproduktiven Flächen für die Wildnis und ihre Lebewesen reservieren“ mag (was sehr an die klassischen „Indianerreservate“ und ihr Schicksal erinnert). 4,9 ha jedoch verbraucht der „Durchschnittsösterreicher“ (leicht mehr als der „Durchschnittseuropäer“). Sollte das der Standard aller Menschen werden, brauchten wir 3,5 Planeten, um uns auf die Dauer zu erhalten.

Ein paar Klicks weiter gelangt eins zum „Earth Overshoot Day“, den „Weltüberlastungstag“, auch dieser wie der „footprint“ eine Initiative gelehrter, von der Fachwelt anerkannter Professoren, mit der sie der übrigen Welt anschaulich zeigen wollen, wohin die Menschheit dank ihrer, nein: unserer, ja meiner, Lebensweise geraten ist. Der Overshoot Day nimmt ein Jahr als Zeitraum für den menschlichen Konsum und die natürliche Reproduktion der verbrauchten Güter und „verrechnet“ sie täglich gegeneinander. So ergibt sich, an welchem Tag jedes Jahrs der menschliche Verbrauch „an natürlichen Ressourcen die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen übersteigt“. Es ist ein progressiver „Fortschritt“: Von 1987 bis 2016 ist dieser Tag vom 19. Dezember auf den 8. August vorgerückt. Schon ab dem 9. August arbeiten und konsumieren wir heuer sozusagen für unseren ökologischen Untergang. „Die Folgen sind Übernutzung von Boden, Luft und Wasser ebenso wie die Zerstörung von Pflanzen- und Tierwelt.“ Was den Abstieg natürlich von Jahr zu Jahr beschleunigt.

Freilich: Drei Viertel der Menschheit sind an diesem mörderischen Konsum nicht beteiligt – die Armen und die Hungrigen, die vielen Arbeitslosen, Minderleister und Arbeitsunfähigen, die Kranken, die Alkoholiker und anderen Süchtigen. Und auch die mittellosen Nichtstuer „in der sozialen Hängematte“, wenn es denn welche geben sollte, gehören zu jenen, die der Menschheit auf der Erde vielleicht noch eine Chance geben, weil sie den „overshoot“ bei mir und uns durch den Mangel bei ihnen global doch noch deutlich drücken. Das Krebsgeschwür dieser Erde aber ist die Arbeit der „ehrlichen, fleißigen Leute“ und der erfolgreichen „Leistungsträger“ vor allem des globalen Nordens, die ihren angeblich „wohlverdienten“ Konsum mit Zähnen und Klauen, mit Stacheldraht und Schlagstock und mit der Kürzung der Ration „der anderen“ verteidigen lassen. Frieden und für alle Menschen ein alltäglich gutes Leben ist also nur mit einem Drittel der Ressourcen zu haben, die wir auf unserem Flecken Erde derzeit vergeuden. Das so auszudrücken übersteigt freilich die Grenzen des heute Sagbaren schon bei weitem. Es klingt im realen Alltag wie ein Alptraum, und ein „vernünftiger Mensch“, der solche Gedanken ernsthaft von sich gäbe, sollte wohl mit den Worten schließen: „Und dann bin ich aufgewacht“.

Es ist jedoch gerade umgekehrt. Die „Gesellschaft des Spektakels“ (so nannte Guy Debord schon 1967 unsere kapitalistische Scheinwelt der Verdrängung und Illusion) versenkt uns in indolenten Schlaf, malt uns dort bunte Bilder, wo das Grauen schon unterwegs ist, bietet uns statt einem tätigen und müßigen Leben in Erfüllung und Befriedigung die Hingabe unserer Lebenszeit für die Jagd nach Geld und für Käufliches, für Surrogate voll Versprechungen, von denen wir uns, unerfüllt und unbefriedigt, stets weiter treiben lassen in einen Alltag von leerer Arbeit und hohlem Konsum, der – ganz nebenbei – dabei ist, die Welt für uns unbewohnbar zu machen.

Für den beiläufig-schläfrigen Blick der Gesellschaft stehen Schein-Lösungen parat: „richtiges Wahlverhalten“, „richtig einkaufen“ und dergleichen. Das reicht dann im Alltag dafür, bei Wahlen „das Schlimmste noch zu verhindern“, auch für den Kauf von Bio-Gourmet-Gemüse und von Hybrid-Autos ist es gut genug und für die Überzeugung, dass eins „ökologisch bewusst“ und gescheiter „als die Masse“ ist, sowieso. Für viel mehr nicht. Der Austausch des staatlichen Personals der Verwaltung des Systems der Geldvermehrung und ein Schwenk des Wachstums auf „grün“ und „biologisch“ ändern grundsätzlich nichts an der alltäglichen Erschöpfung und Zerstörung unserer Biosphäre.
Die Entwicklung dieser Lebensweise, die sich jetzt als eine Todesart eines erheblichen Teils der Menschheit entpuppen könnte, wurzelt in einer Tradition von Jahrtausenden. Der Mensch geriert sich als die „Krone der Schöpfung“, er macht sich „die Erde untertan“. Von Europa ist schließlich die aktuelle Radikalisierung dieser Vorstellung und ihrer praktischen Umsetzung ausgegangen – wir seien „masters of the universe“, befugt zur „Domestizierung“ und „Ausbeutung“ jedes irgendwann erreichbaren Teils des Kosmos, von unserer eigenen leiblichen Natur über unseren Nebenmenschen und den Planeten Erde „bis zu den Sternen weit“. Alles wird als „Ressource“ des Bedarfs dessen wahrgenommen, der stark und brutal genug ist, sich ihrer zu bemächtigen. In der gegenwärtigen Form des Wahns, also in der kapitalistischen Wertverwertung, hängt nicht nur das alltägliche Leben aller Menschen an deren Gelingen, sondern deren Gelingen auch am ewigen Wachstum des Vorgangs. Diese historische Entwicklung gilt im allgemeinen Bewusstsein als positiv besetzter „Fortschritt“, der zugleich als Lösung aller von ihm verursachten Probleme halluziniert wird.

Entscheidend ist, was hier ausgeblendet wird: Der menschliche Alltag samt all seinen menschengemachten Strukturen ist bloß ein winzig kleiner Teil des – nennen wir es auch: Alltags der „mehr-als-menschlichen Welt“ (David Abrams). Eines Alltags, in dem alles in der gesamten Welt „gemeinsam“ mit uns da ist und „wir alle“ mit allem je anderen in unendlicher, „alltäglicher“ Wechselwirkung stehen. Die Welt hat keinen Mittelpunkt, der alles dominieren könnte, die Menschheit ist nicht bedeutender und wichtiger als jeder andere Teil des Kosmos auch. Die Folgen unseres Agierens sind auf längere Zeit nicht sicher absehbar, Rücksicht und Vorsicht, nicht blindes Vorwärtsstürmen sind angebracht. Nach dem Theismus ist auch der Humanismus keine Haltung, die ein gutes Leben möglich macht. Die Welt ist sich selbst ihr Meister, ihr Ablauf ist die Wirkung aller ihrer Teile auf einander, und in diesem kosmischen Moment ist absehbar, dass dieser Ablauf, was uns betrifft, entweder zur Aufgabe unserer Lebensweise oder unser selbst hinführt.

II.

Den Ausschlag wird hoffentlich noch unser kleines alltägliches Zutun geben. Mit Angst wird sich nichts ändern. Aus Angst schauen wir weg, sagen vielleicht noch: Für mich wird’s schon noch reichen. Und tun weiter. Um sich auf den Weg weg vom „Pfad der Reibungslosigkeit“ zu machen braucht es mehr als Ratio, Berechnung. E-motion tut not, eine Heraus- und Fortbewegung, ein leiblich-seelischer Impuls. Er kann aus der Nicht-Befriedigung unseres Begehrens nach einem „guten Leben“ kommen, uns beunruhigen, zum Denken, zu Kritik uns drängen. Zum Aufbruch „zu einem guten Leben für alle“ braucht es aber noch ein Stück mehr: E-motion als Zuneigung zu einander und zu der großen Mitwelt zwischen und um uns herum.

Das wäre wohl das „ozeanische Gefühl“, von dem der Schriftsteller Romain Rolland an Sigmund Freud geschrieben hat. Dieser hat darin nur ein infantiles Stadium des Menschen sehen mögen – und hat doch zugleich erkannt, dass es die ausgewachsene „Kultur“ ist, wie er sie kannte und verteidigte, die das „Unbehagen“ der Menschen schafft, dass diese „Kultur“ auf Kosten des sinnlichen Glücks geht und Aggression erzeugt zwischen den Menschen. Es liegt so fern nicht, gegen Freud weiterzudenken: Dass die Aggression sich auch verheerend gegen unsere eigene Leiblichkeit und gegen die Natur richtet, und dass zu Gunsten auch unseres Lebens ein tiefer Kultur-Bruch ansteht und zu gestalten ist. Im Fühlen, Denken und Handeln. Wenn er uns zum Weiterleben in einer friedlichen Kultur guten Lebens verhelfen soll, braucht es eine Hinwendung zu unseren Gefühlen und Praxen der Freundschaft in allen Stufen von Intensität, von einfacher Verbundenheit und Rücksichtnahme bis zu leidenschaftlicher Liebe.

Kooperation und Einverständnis sind in der herrschenden Ordnung Momente, die den Kampf und die Konkurrenz befeuern. Dieses Verhältnis gilt es umzukehren. Und nicht bloß zwischen unsresgleichen, sondern in unserer Beziehung zu allem, was heute landläufig „Welt“ und „Natur“ heißt, vom eigenen Leib über die Mitlebewesen bis zum Kosmos, hin zu einem Verhältnis, für das wir geläufige Worte noch nicht haben. Zu sagen und zu fühlen aber ist das unmittelbar für uns Entscheidende durchaus: Es würde das Ende sein des destruktiven Terrors unseres Ramsch-Konsums, der öden Hetze unserer Arbeit und des Kampfs aller gegen alle am Boden unseres Zusammenlebens. Umgesetzt und erlebt im Alltag.

Die E-motion vieler Einzelner raus aus dem, was heute Kultur und Zivilisation ist, wächst in aller Unklarheit. Wenn sie einander suchen, dann kann die Emotion dem, was an rationellen Überlegungen und Vorschlägen, an praktischen Versuchen schon unterwegs und greifbar ist, Gewicht und Bedeutung geben und neue, klare, viel weiter gehende gebären. Eile tut hier gut, denn „Schweiß spart Blut“ (um eine Militärweisheit gegen sich selbst zu wenden). Es gilt nämlich ganz wesentlich auch der Gewalt standzuhalten, mit der jede alte Herrschaftsordnung sich verteidigt und (wie ein Zombie) alles Neue zu infizieren droht.