Rassistischer Sozialprotest?

von Tomasz Konicz

Soziale Wohltaten zuerst für Deutsche. Das war die Lehre, die Sigmar Gabriel Ende Februar aus vielen Gesprächen mit besorgten Bürgern gezogen hat, die sich über finanzielle Aufwendungen für Flüchtlinge empörten: „Für die macht ihr alles, für uns macht ihr nichts!“ Es sei dieser an die Regierung gerichtete Vorwurf gewesen, der ihn dazu bewog, mehr Sozialausgaben „für unsere eigene Bevölkerung“ zu fordern, erklärte der Bundeswirtschaftsminister bei einer Talkshow. Ein „neues Solidaritätsprojekt“ sei notwendig, damit die Menschen fühlten, „dass ihre Bedürfnisse nicht weiter unter die Räder geraten.“

Rückendeckung erhielt Gabriel für seine umstrittenen Aussagen Anfang März vom Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske, der die Flüchtlingskrise „als Katalysator für lange vorhandene Probleme“ bezeichnete, die nun aufbrechen würden.

Diese Argumentationslinie wurde zuletzt auch von sozialdemokratischen Politikern der Linken aufgegriffen. Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, pflichtete in einem jüngst publizierten Interview mit der Welt am Sonntag Gabriel bei – und sah einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen rassistischen Mobilisierung und der beständigen sozialen Erosion in Deutschland:

Es ist doch so, dass viele Menschen in Deutschland in den letzten Jahren Wohlstand verloren haben, dass sie in schlechte Jobs abgedrängt wurden oder ihre Renten gesunken sind. Und immer hieß es, es sei kein Geld da. Da existiert längst ein großes Potenzial an Frust und Wut.

Damit übernehmen Teile der Sozialdemokratie eindeutig ein ideologisches Kernkonstrukt der neuen deutschen Rechten, die die soziale Misere in der BRD und die Flüchtlingskrise in einen kausalen Zusammenhang stellt. Diese Sozialdemokraten möchten diesem Phänomen eines rassistisch artikulierten „Sozialprotestes“ mit der guten alten Sozialpolitik entgegenwirken. Soziale Wohltaten – höhere Mindestlöhne und Renten, mehr Kitaplätze – sollen somit die rassistische Wut der Zukurzgekommenen und sozial Deklassierten in der BRD besänftigen.

Bunker des Atlantikwalls. Bild: Deutsches Bundesarchiv (101I-263-1580-13 / Wette). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Wenn all die Brandschatzungen, Prügelorgien und Hetztiraden der extremistischen deutschen Rechten tatsächlich nur stumme Schreie nach mehr Fürsorge und sozialer Zuwendung sein sollen, dann stellt sich die Frage, wieso der „Sozialprotest“ in der Bundesrepublik die Form eines xenophoben Pogroms annimmt. Die Agenda 2010 samt den Hartz-IV-Arbeitsgesetzen (Happy Birthday, Schweinesystem!) vergiftet das soziale Klima in Deutschland seit rund einem Duzend Jahren, ohne dass dies zu einer militanten Protestbewegung führen würde. Berichte über die wachsenden sozialen Abgründe in der BRD die inzwischen amerikanische Ausmaße angenommen haben, werden von der Öffentlichkeit mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen, während jeder Ausländer oder Flüchtling, der ein Smartphone sein eigen nennt, sofort als Zielscheibe für rassistisch grundierten Sozialneid dienen kann.

Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sind Untertanen-Ideologien

Rechtsextremismus und Rechtspopulismus sind als Untertanen-Ideologien zu begreifen, deren Träger aufgrund starker autoritärer Dispositionen einfach nicht in der Lage sind, gegen die Zumutungen zu rebellieren, denen sie krisenbedingt verstärkt ausgesetzt sind. Diese Untertanen, die sich mit Lust nach oben bücken, auch wenn die Lasten, die sie dabei zu tragen haben, immer schwerer werden, brauchen einen Kompensationsmechanismus: Deswegen nimmt das Bedürfnis, hemmungslos nach unten zu treten, mit der Krisenintensität zu.

Wenn die soziale Lage des Untertanen sich verschärft, muss er Objekte für Frustabbau finden, die in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihm stehen. Da der gemeine rechte Untertan nicht die kapitalistische Systemlogik infrage stellen kann, da er nicht einmal gegen „die da oben“ rebellierten will, sucht er Zuflucht in einer konformistischen Rebellion gegen die Schwächsten in der Gesellschaft: gegen Flüchtlinge, Ausländer, sozial marginalisierte Gruppen.

Dieser deutsche Untertanengeist ist in der Bundesrepublik – nach dem kurzen Zwischenspiel der 68er – aufgrund seiner langfristigen historischen Kontinuität weiterhin beängstigend präsent. Deutschland ist das große europäische Land ohne erfolgreiche Revolution, ohne progressiven Aufstand, dessen Nationalstaatsbildung nicht durch die Guillotinierung eines Königs, sondern durch die Einsetzung eines Kaisers vollzogen wurde. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 haben die spätabsolutistischen Herrscherhäuser des Deutschen Bundes die „verspätete“ deutsche Nation (Helmuth Plessner) 1871 in der erzreaktionären Form eines Kaiserreichs gegründet. Dies geschah im Gefolge des Krieges gegen Frankreich – und somit in Abgrenzung zu dem bürgerlichen Universalismus der französischen Revolution, dem die deutsche „Eigenart“, der deutsche Kulturalismus entgegen gestellt wurde.

Deswegen konnte sich in der Bundesrepublik immer noch ein in den Kategorien von Blut-und-Boden verfangenes Nationalverständnis halten, das im schroffen Gegensatz zu westlichen staatsbürgerlichen Vorstellungen steht. Dieser kulturalistisch-rassische Nationalismus imaginiert die von Widersprüchen durchsetzte kapitalistische Nation als einen organischen, potenziell widerspruchsfreien Volkskörper. Da dieser Volkskörper eine organische Einheit darstelle, müssen alle Widersprüche und Verwerfungen von „Außen“ kommen: entweder in der Form von „äußeren“ Verschwörungen gegen „Deutschland“ oder – wie aktuell – durch die Flüchtlingsströme.

Deswegen muss in der Bundesrepublik eine – auch im europäischen Vergleich – besonders stark ausgeprägte Bereitschaft des „Bürgertums“, der Mittelschichten konstatiert werden, selbst bei ersten Krisenerscheinungen in autoritären Tendenzen Zuflucht zu suchen. Deutschland stellt ja – auch aufgrund der weitverbreiteten autoritären Dispositionen – einen „Spätzunder“ bei der europaweiten konformistischen Rebellion des Rechtsextremismus dar, die nun aber eine besonders extreme Ausprägung annimmt.

Die Bundesrepublik wurde überdies noch nicht von der Krisendynamik dermaßen stark erfasst wie andere europäische Staaten, die in Rezession (große Teile Südeuropas) oder Stagnation (Frankreich) verharren. Der Aufstieg des französischen Front National vollzieht sich ja in einer krisengeschüttelten Gesellschaft, während im AfD-Land Deutschland vermittels der extremen deutschen Handelsüberschüsse noch die Konjunktur brummt.

Extremismus der Mitte

Und selbstverständlich spielten bei der Ausbildung der konformistischen Rebellion in der Bundesrepublik nicht nur die oben dargelegten, spezifisch deutschen Faktoren eine Rolle. Der Europa- und deutschlandweit um sich greifende Rechtspopulismus und Rechtsextremismus kann auf den Begriff des Extremismus der Mitte gebracht werden. Und dies ist ja ein gesamteuropäisches Krisenphänomen. Zum einen ist es gerade nicht nur der soziale „Rand“ der Gesellschaft, der zur extremen Rechten überläuft, sondern in weiten Teilen gerade deren „Mitte“. Der Rechtsextremismus war schon immer ein Bündnis zwischen Mob und Elite, zwischen den vielen gesichtslosen Hetzern auf Facebook, den Brandstiftern in der Provinz und den Stichwortgebern und Wegbereitern der Barbarei, die für gewöhnlich Schlips und Kragen tragen: einem Thilo Sarrazin, dem Wegbereiter des neuen deutschen Rechtsextremismus, einem Hans-Olaf Henkel, der Beatrix Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, oder dem Wirtschaftspopulisten Hans Werner Sinn, der rechte Ressentiments in Wirtschaftsideologie umformuliert.

Ab einem gewissen Schwellwert gesellschaftlicher Durchdringung geht dieser Rechtsextremismus in eine neue extremistische „Normalität“ über, da das gesamte Spektrum – inklusive einer Fraktionsvorsitzenden Wagenknecht – weiter nach rechts rückt. In diesem Fall ist es schlicht der Wahlerfolg der AfD, der all die Rassisten und rückratlosen Untertanen, die diese Partei gewählt haben, von jedem Verdacht des Rechtsextremismus frei spricht. Kein Politiker, der noch gewählt werden will, kann es sich leisten, knapp 25 Prozent der Wählerschaft als Rassisten zu bezeichnen – auch wenn sie brennende Flüchtlingsheime bejubeln und Politiker in die Parlamente wählen, die Frauen und Kinder an den Grenzen erschießen lassen wollen.

Der Begriff des Extremismus der Mitte weist aber auch eine ideologische Dimension auf, da hier Elemente kapitalistischer Ideologie ins Extrem getrieben und mit offenem Rassismus angereichert werden. Dies ist auch die Grundlage des Erfolgs der Rechten in Krisenzeiten, da es bei der konformistischen Rebellion keines Bruchs mit der herrschenden Ideologie bedarf. Man bleibt auf dem gewohnten weltanschaulichen Gleis und führt die Systemlogik – vor allem die Konkurrenzlogik – ins barbarische Extrem.

Die zunehmende Krisenkonkurrenz, die die gesamte spätkapitalistische Gesellschaft destabilisiert, wird vermittels des Rassismus legitimiert. Ganze Menschengruppen können so aus der kriselnden Gesellschaft ausgeschlossen werden, weil sie nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehören. Die rechtspopulistische Klage über die sozialen Missstände in der BRD, die oft mit rassistischen Ressentiments einhergeht, dient ja zumeist diesem illusorischen Zweck: Ohne die „Ausländer“ wird es für uns Deutsche schon reichen.

Die rechtspopulistische oder rechtsextreme Klage über soziale Verwerfungen ist somit nur Mittel zu einem barbarischen Zweck: zur Hetze und nationalistischen oder faschistischen Massenmobilisierung. „Arbeit zuerst für Deutsche!“ Diese Latrinenparole der NPD bringt aber auch den Krisencharakter in aller Brutalität zum Ausdruck. Der Kapitalismus produziert in seiner Weltkrise zunehmend eine ökonomisch überflüssige Menschheit, sodass immer größere verzweifelte Menschenmassen aus den Zusammenbruchsgebieten der Peripherie, die in Anomie und Bürgerkrieg versinken, in die erodierenden Zentren fliehen.

Bunkermentalität als Krisenreaktion

Der Rechtsextremismus ist eine „reaktionäre Reaktion“ der verängstigten Bevölkerungsgruppen auf diese unverstandene Krisendynamik. Dabei ist der ideologische Mechanismus der Personifizierung von Krisenursachen ausschlaggebend, der die Krisenopfer zu den Verursachern der Krise imaginiert. Die Flüchtlinge sind schuld an der Krise, wie es zuvor die Griechen oder die Südeuropäer waren.

In vielen abstiegsbedrohten Bevölkerungsgruppen greift somit eine Art „Bunkermentalität“ um sich, bei der die eigene materielle Stellung dadurch behauptet werden soll, dass die Krisenopfer für die Krise verantwortlich gemacht werden, um vermittels dieser Personifizierung der Krisenursachen die daraus folgenden Maßnahmen der Marginalisierung und Abstrafung der Krisenverlierer zu legitimieren. Das ist ein klassenübergreifendes Phänomen, das Menschen von der Unter- bis zur Oberschicht erfasst. Den Endpunkt dieser Logik bildet das Lager, in dem die ökonomisch Überflüssigen konzentriert werden. Und dies ist keine ferne Dystopie, sondern – nach dem Abschluss des Abkommens zwischen der EU und der Türkei – barbarische Krisenrealität.

Die sozialdemokratische Idee, dieser offen eskalierenden systemischen Krisendynamik mittels der paternalistischen Sozialpolitik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnen zu wollen, um so der rassistischen Barbarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken, kann bestenfalls als anachronistisch bezeichnet werden. Der Abbau der Sozialsysteme in nahezu allen kapitalistischen Kernländern in den vergangenen Jahrzehnten ist ja nicht auf den bösen Willen einer internationalen Bankerverschwörung zurückzuführen, sondern auf die Systemkrise, die zu einer systemischen Überproduktion und Überakkumulation, zu eskalierender Konkurrenz zwischen Unternehmen, Wirtschaftsstandorten und auch Lohnabhängigen führt – und somit den Sozialstaat zu reinem Ballast macht.

Das gilt auch für Deutschland. Das ganze „Wirtschaftsmodell“ der BRD beruht auf den extremen deutschen Handelsüberschüssen, die hierzulande vermittels Schuldenexports noch die Illusion einer heilen Arbeitsgesellschaft aufrechterhalten. Deswegen kann in Deutschland ein umfassender Sozialstaat gar nicht mehr wiederaufgebaut werden, da hierdurch die deutschen Exportvorteile auf dem Weltmarkt aufgrund – mittelbar oder unmittelbar – steigender Kosten erodieren würden und das Land sehr schnell in Stagnation verfiele.

Ergo: Die „soziale Frage“ ist gar nicht innerhalb der kapitalistischen Dauerkrise lösbar. Hierzu müsste die Systemfrage gestellt werden, die Frage nach einer humanen Alternative zu einer kollabierenden Gesellschaftsform, deren irrationaler Selbstzweck, dem wirklich alles untergeordnet ist, sich in der endlosen Anhäufung abstrakten Reichtums erschöpft. Gewissermaßen stellt das System die Frage nach einer Alternative in dem gegenwärtig um sich greifenden Chaos schon selbst – es würde schon reichen, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Hierzu ist innerhalb der veröffentlichten Meinung der Bundesrepublik trotz offensichtlicher Kriseneskalation keine Bereitschaft zu sehen. Stattdessen redet die Sozialdemokratie den verängstigten und autoritär fixierten Menschen blanke Hirngespinste einer etwaigen Rückkehr zum Sozialstaat des 20. Jahrhunderts ein, die sich an der Krisendynamik nur blamieren können.

aus: Telepolis 24.3.2016