Von der Deindustrialisierung zur Deklassierung

Unter Deindustrialisierung verstehen wir einen Schrumpfungs-, Zerschlagungs- und Liquidierungsprozess des industriellen Potenzials (Arbeitskräfte, Maschinen, Gebäude, Know-how). Zentral ist der Verlust von Industriearbeitsplätzen, die von der Industrie selbst nicht kompensiert werden können. Kennzeichnend ist, dass immer weniger Arbeit und somit auch Arbeiter zur Herstellung bestimmter Produkte notwendig sind, aber auch, dass (nicht nur aufgrund der niedrigen Qualifikation) die verbleibende notwendige Arbeitskraft anderswo billiger eingekauft werden kann.

Deindustrialisierung heißt aber nicht, dass die Form der Produktion von Massenwaren sich grundsätzlich ändert, es wird ja weiterhin industriell gefertigt. Deindustrialisierung funktioniert vorerst als räumlich fixierter und auch zeitlich forcierter Abzug des industriellen Potenzials. Wo und wann und auch wie das vonstattengeht, darüber entscheidet primär die globale Konkurrenz. Man braucht inzwischen auch immer weniger Fabriken, um das proportional nötige Weltquantum herzustellen. Und um es auf die konkrete Ebene der Standorte herunterzubrechen: Strümpfe werden weiterhin in Strumpffabriken hergestellt, aber eben nicht mehr in dieser oder jener Weltregion.

Wertrevolutionen

Viele Betriebe rechnen sich nicht mehr, sie waren zu wenig spezialisiert, dafür verfügten sie über Überkapazitäten (Maschinen wie Arbeiter), die einfach nicht mehr gebraucht wurden. Diese Betriebe sind in ihrer Struktur nicht aufrechtzuerhalten. Der Markt negiert ihre Existenz binnen weniger Jahre. Was gestern noch von Erfolg zu Erfolg eilte, war auf einmal überflüssig und schrottreif geworden: „Erleidet der gesellschaftliche Kapitalwert eine Wertrevolution, so kann es vorkommen, dass sein individuelles Kapital ihr erliegt und untergeht, weil es die Bedingung dieser Wertbewegung nicht erfüllen kann. Je akuter und häufiger die Wertrevolutionen werden, desto mehr macht sich die automatische, mit der Gewalt eines elementaren Naturprozesses wirkende Bewegung des verselbständigten Werts geltend gegenüber der Voraussicht und Berechnung des einzelnen Kapitalisten, desto mehr wird der Lauf der normalen Produktion untertan der anormalen Spekulation, desto größer wird die Gefahr für die Existenz der Einzelkapitale. Diese periodischen Wertrevolutionen bestätigen also, was sie angeblich widerlegen sollen: die Verselbständigung, die der Wert als Kapital erfährt und durch seine Bewegung forterhält und verschärft.“ (MEW 24, 109)

Die Deindustrialisierung ist freilich kein Randphänomen, sondern betrifft alle industrialisierten Zonen und Standorte. Das Problem ist ein transnationales: „Frankreichs Regierung will die Industrie durch die Förderung von 34 Prestigeprojekten von Grund auf neu erfinden.“ (Der Standard, 16.09.2013) Präsident Hollande hat sogar die dritte industrielle Revolution ausgerufen. In zehn Jahren sollen 475.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. In Frankreich ist die Zahl der Industriearbeiter von 5,5 Millionen (1973) auf 3,2 Millionen (2010) gesunken.

Ähnliches verlautbarte die Europäische Kommission, die erst unlängst den Beschluss gefasst hat, mit offensiven industriepolitischen Maßnahmen eine Reindustrialisierung zu forcieren. (Baum 2014, 17 f., 135 f.) Wirklich neu ist aber in diesem Zusammenhang eine konkrete Zielvorgabe von 20 Prozent der Wertschöpfung. In dem entsprechenden Dokument heißt es: „A strong European industry is necessary for fostering growth and competitiveness to sustain the current incipient economic recovery.“ (European Commission 2014, 1) „To be able to reindustrialize Europe by increasing manufacturing’s share of GDP to 20 % by 2020, Europe needs to mainstream its competitiveness. Thus, all policy areas having an impact on competitiveness should take its aspects into account.“ (2)

Die Konzepte und Beschlüsse der EU-Stellen lesen sich übrigens weniger wie Analysen, denn als Werbeprospekte, wo kommerzielle Schlagwörter und Motti sich eifrig die Hand schütteln und einander frenetisch Beifall klatschen. Immer dreht es sich dabei um Märkte und nicht um Menschen. Die Forderung nach einer Reindustrialisierung oder gar einer Renaissance unterstreichen dies auch sprachlich. Es geht nicht um Neues, sondern um Erneuerung. Reindustrialisierung ist Antwort auf Deindustrialisierung. Dasselbe will man, aber besser, effizienter, moderner, flexibler und wie die Köder des Business-Jargons und PR-Vokabulars so alle lauten. Hier sind sie konzentriert und konzertant zu finden. Keynesianer wie Monetaristen glauben daran, dass es wachstumsmäßig vorwärtszugehen hat. Beide sind sich auch einig, dass Markt und Staat richtig auszutarieren wären. Uneinig sind sie sich nur über die Gewichtung des Interventionismus.

Banale Fragen

Ganz banal gefragt: Was sollen die allesamt produzieren und wozu? Wer soll es kaufen und kaufen können? Was sollen die Konsumenten davon haben? Was heißt das ökologisch? Selbst Ökonomen, die die Zielsetzungen der Kommission grundsätzlich teilen, halten solche Prognosen für unrealistisch. Michael Peneder vom WIFO etwa schreibt: „Wenn die Maßnahmen einer offensiven Neuen Industriepolitik erfolgreich sind, wird die Produktivität der Sachgütererzeugung relativ zu den anderen Sektoren noch rascher steigen. Weil auch die USA, Japan und zahlreiche Schwellenländer ähnliche Instrumente einsetzen, ist der mögliche Zugewinn an Wertschöpfung der Industrie durch Verbesserung des Außenbeitrags begrenzt. In Summe wird durch den globalen Wettlauf um eine möglichst große Wettbewerbsfähigkeit der Industrie jedenfalls das Produktivitätswachstum in der Sachgütererzeugung weiter angetrieben. Wir alle profitieren dabei von günstigeren Waren und damit höheren realen Einkommen. Der Anteil der Industrie an der nominellen Wertschöpfung wird dadurch aber noch rascher sinken!“ (Peneder 2014, 7) Und er resümiert: „Abschließend kommen wir also zu dem paradoxen Ergebnis, dass eine erfolgreiche, auf Produktivitätswachstum gerichtete Neue Industriepolitik, entgegen der Zielsetzung der Europäischen Union, den Rückgang des Industrieanteils an den nominellen Einkommen tendenziell nicht umkehren, sondern beschleunigen wird.“ (8)

Reinhilde Veugelers, Professorin am Institut für Management, Strategie und Innovation in Leuven, hält die 20-Prozent-Marke für einen „Fetisch“ („Industrielle Produktion ist ein Fetisch“): „Trotz der sinkenden Industriebeschäftigung und -wertschöpfung wird die Industrie auch weiterhin für die europäischen Volkswirtschaften wesentlich sein, aber vor allem direkt und indirekt für deren Innovations- und Produktivitätswachstums-Kapazität. Doch sogar wenn der Rückgang aufhören würde – wie die Diskussion über die Wiedergeburt der Industrie vermuten ließe –, eine Diskussion, die insbesondere in den USA abläuft (…), würde sich ein hohes Niveau der Industrie-Beschäftigung in Europa nicht wieder einstellen, und zwar wegen Produktivitätszuwächsen und den Kräften des globalen Wettbewerbs. Die Frage ist nicht so sehr, wie viele Arbeitsplätze, sondern welche Arten von industriellen Aktivitäten und Jobs den künftigen Wohlstand Europas sichern können. Industrielle Aktivitäten und Jobs werden zunehmend jenseits der unmittelbaren Produktionssphäre sein und so Fertigungen mit hoher Wertschöpfung sichern.“ (Veugelers, zit. in: Baum 2014, 137)

Josef Baum hingegen macht sich in seiner neuesten materialreichen Studie „Analyse, Herausforderungen, Perspektiven und wirtschaftspolitische Implikationen einer Reindustrialisierung in Niederösterreich bzw. Österreich“ (Endbericht August 2014) ganz zum Anwalt dieses Ziels, das er nicht nur teilt, sondern auch für möglich hält: „Der Weg zu einem 20-Prozent-Ziel beim Industrieanteil kann sicher nicht mit ,etwas mehr‘ an Industriepolitik erreicht werden. Es müsste auf breiter Basis über Beeinflussungen vieler Faktoren im Sinne der massiven Ausweitung industrieller Produktionsstrukturen und Aktivitäten erfolgen. Für einzelne Unternehmen oder Unternehmensgruppen ist eine Ausweitung über die Nutzung und Schaffung von schwer imitierbaren Wettbewerbsvorteilen erreichbar. Eine tatsächliche Ausweitung der Industrie muss aber auf einer umfassenderen Basis erfolgen.“ (Baum 2014, 19) Und weiter: „Eine signifikante Re-Industrialisierung im Sinne des von der EU gesetzten Ziels der Zunahme des Industrieanteils müsste massive zusätzliche Maßnahmen erfordern, diese müssten wiederum systematisch entworfen, erörtert und mit einem breiten Konsens beschlossen werden, um wirksam werden zu können.“ Und schließlich: „Der Weg zu einem 20-Prozent-Ziel beim Industrieanteil ist wohl nur über breite Partizipation, durch die Mobilisierung von Energien und Ideen möglichst vieler Mitarbeitenden und nicht zuletzt über die Beteiligung der Arbeiternehmer_innenvertretungen an den konkreten konzeptiven Orientierungen zu erreichen. Dazu sind stabile und faire Arbeitsbeziehungen mit sozialer Absicherung notwendig, ohne die eine solche Mobilisierung nicht real ist.“ (21)

Die Maßnahmen verbleiben jedoch alle auf der Ebene keynesianischer Staatsintervention. „20 Jahre lang war Industriepolitik real fast ein nichtmarktkonformes Tabu“, beklagt Baum (25). Nun soll sie wieder zu einer marktkonformen Notwendigkeit werden. Der Spielraum der Politik ist allerdings nicht Gegenstand der Debatte, er wird als gegeben angenommen. Eine richtige (keynesianische) Politik soll eine falsche (monetaristische) ablösen.

Fetisch Arbeitsplatz

Doch wohin soll und kann die Reise in Zeiten kollabierender Märkte (nicht nur Finanzmärkte!) noch gehen, wenn das angestammte Terrain partout nicht verlassen wird. Baums Antworten bleiben äußerst vage. An der kapitalistischen Grundkonstitution und ihren Prinzipien (Ware, Markt, Geld, Profit, Lohn, Preis, Konkurrenz etc.) wird nicht gerüttelt. Baum wäre schon zufrieden, wenn mehr Demokratie und Lohngerechtigkeit (Baum 2014, 141 f.) in der Wirtschaft Platz greifen würden. Die Krise wird so auch implizit als konjunkturelle und vorübergehende gedeutet, behebbar durch entschiedene öffentliche Maßnahmen. Dass die Interessen von Industrie und Finanz, Politik und Konsum überhaupt destruktiv geworden sein könnten, wird nicht in Betracht gezogen. Ebenso wenig findet sich eine Wachstumskritik. Die Dimension der Aufgaben wird ganz klassisch als Frage politischer Reparatur verhandelt, nicht als Frage gesellschaftlicher Transformation.

Vor allem Arbeit und Arbeitsplatz bleiben als Fetisch unstrittig. Sie müssen aufgestellt werden, da sind sich alle einig. Eine Politik, die keine Arbeitsplätze verspricht, darf es nicht geben, weder im Waldviertel noch in Paris oder Brüssel. „Das Postulat der Vollbeschäftigung wird also umso weniger erfüllbar sein, je höher der technologische Status einer Gesellschaft ist“, schrieb Günther Anders (1980, 99); und weiter: „Die Dialektik von heute besteht in diesem Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbeschäftigung. Dies offen zuzugeben, bringt kein Politiker über sein Parteiherz.“ (ebd.) Die Schaffung von Lohnarbeit gilt als zentraler Leistungsausweis der Politik: „Tatsächlich sind die ,Arbeitsplätze‘ heißenden Produkte so wichtig, dass Politiker, die nie welche erfinden oder organisieren, ebenso gut gleich ihren Hut nehmen können. Die keine versprochen haben, gibt es keine. Freilich auch keine, die auf die Dialektik von heute, die Geläufigkeit von steigender Technik und sinkendem Bedarf an Arbeitern bzw. Arbeitsplätzen eine Antwort wüssten.“ (Anders 1989, 41)

Ausgesprochen wird hier, dass Arbeit und Politik ehern verbunden sind: Arbeit als Konstituante des Kapitals und Politik als dessen Resultante werden zusammengedacht. Aufgabe der Politik, der Interessenvertretungen und der Wissenschaft und ihres jeweiligen Personals ist es, das Versprechen der Arbeit als Versprechen auf Arbeit unablässig zu erneuern. Doch diese Versuche werden immer unglaubwürdiger, Versprechen und Entsprechen fallen zusehends auseinander.

Dort, wo die Industrie nicht mehr wettbewerbsfähig ist, wirkt sich dieser Trend natürlich gravierender aus als dort, wo sie es noch ist. Aber auch Zentren bleiben nicht verschont. Kann man gegen diese Deindustrialisierung protestieren, gar streiken? Wohl kaum. Man denke an das Schicksal des großen englischen Bergarbeiterstreiks. Und dabei handelte es sich um eine kämpferische Arbeiterschaft, die in ihren besten Zeiten konservative Regierungen stürzte. Doch auch sie konnte trotz aller Mobilisierung und Kampfkraft nur noch eine herbe Niederlage einfahren. Im Prinzip offenbarte die paradigmatische Auseinandersetzung zwischen Scargill und Thatcher die ganze Hilflosigkeit und Ratlosigkeit der europäischen Arbeiterbewegung. Da war nichts mehr zu holen, egal ob man auf Klassenkampf oder wie in Österreich üblich auf den Sozialpartnerschaft genannten Klassenfrieden setzte. Die Konsequenz transnationaler Deindustrialisierung ist die strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Durch die letzte Krise 2008 ff. erlebte diese einen kräftigen Schub. In ganz Europa (Deutschland ausgenommen) ist die Arbeitslosigkeit meist deutlich angestiegen.

Industrialisierung und Reindustrialisierung

Unterbrechen wir hier noch einmal, indem wir unsere zentrale Kategorie modifizieren und verschärfen. Reindustrialisierung ist nämlich ein hybrider Begriff. Einerseits stellt er auf rein quantitative Verhältnisse des sogenannten Wertschöpfungsprozesses (gemeint sind damit alle erfassbaren Geschäfte in einem Wirtschaftsraum innerhalb einer bestimmten Zeitspanne) ab, andererseits geht es um sehr konkrete Dinge wie Fabriken und Maschinen, Arbeitskräfte und Erzeugnisse. Einmal reden wir von Geldgrößen (Tauschwerten) der Ökonomie, das andere Mal ganz sinnlich von Produktivitätsfaktoren (Gebrauchswerten).

Eine aggressive Standortpolitik mag lokale Ausnahmen schaffen, die generelle These aber lautet, dass die Bedeutung der Industriearbeiterschaft global und national, regional und kommunal abnimmt und dass diese Tendenz nicht umkehrbar ist. Dies ist auch der Fall, wenn Betriebe wachsen und das Volumen der hergestellten Waren zunimmt. Charakteristikum dieser strukturellen Krise ist, dass diese Prozesse (anders als in Zeiten der Industrialisierung) nicht mehr zusammen-, sondern zusehends auseinanderlaufen. Selbst ein exorbitantes Wachstum könnte diese Entwicklung global nicht mehr drehen. Und auch wenn man den servoindustriellen Bereich zum industriellen erklärt, schönt das nicht mehr als die Statistik. Eins heißt Deindustrialisierung aber keineswegs, nämlich, dass weniger Waren global hergestellt werden. Lokal wird es sehr wohl der Fall sein, vor allem in den Zonen der Standortverlierer.

Industrialisierung ist eine Kategorie, bei der das „Mehr“, der gesellschaftliche Komparativ, völlig ungebrochen und breit aufgefächert erscheint. Wachstum ist gegeben, der Produktenausstoß steigt, ebenso die Profite und Löhne. Auch die Arbeiter werden mehr. Für die Deindustrialisierung ist vor allem typisch, dass die Lohnarbeitsstunden und die Zahl der Lohnarbeiter sinken, unabhängig davon, ob die Profite und das Wachstum gesteigert werden können. Ob Gewinn oder Verlust, ob mehr oder weniger Produkte, Arbeit und Arbeiter werden nicht angezogen, sondern abgezogen. Die Phase der Attraktion des Kapitals wurde von einer Phase der Repulsion abgelöst. Während Industrialisierung also einen synchronisierten Prozess beschreibt, wo alles ineinandergreift und in eine Richtung sich bewegt, ist die Deindustrialisierung wohl als asynchrone Entkoppelung zu charakterisieren. Downsizing, Outsourcing oder Offshoring wären unter genau diesen übergeordneten Aspekten zu diskutieren und nicht bloß als administrative Maßnahmen der Wirtschaft oder der Wirtschaftspolitik.

Mit dem Anstieg einer Industriequote wäre also den Vorgaben entsprechend noch nicht viel gewonnen, zumindest wird sich diese nicht analog auf die Arbeitsplätze umwälzen lassen. Dieses Mehr verzögert wohl nur die Geschwindigkeit des Abbaus, ohne ihn je umkehren zu können. Vorrangig geht es daher Baum auch nur um die Absicherung des derzeitigen Niveaus der Industriebeschäftigung. (Baum 2014, 9) Der Autor schreibt ja selbst: „In Österreich war der Rückgang der Industriequote über längere Zeit im Wesentlichen bei der Beschäftigung anzutreffen: zwischen 1978 und 2002 steigerte der produzierende Sektor seine nominelle Wertschöpfung von 22 auf 64 Mrd. Euro.“ (35)

Das mit dem Nominellen hat zweifellos seine Tücken, weil es nicht Werte, sondern erfassbare Geschäftszahlen vergleicht. Das Nominelle ist vorrangig eine Zahlengröße, wo schwer entscheidbar ist, welche Werte es tatsächlich beherbergt, da es Werte (Arbeitssubstanz) und Preise (Geldsummen) gleichsetzt und auch nicht unterscheiden kann, inwiefern einbezogene Kapitalgrößen reell oder fiktiv sind. Das weiß man meist erst, wenn die Blasen platzen. Doch das würde hier zu weit führen, obwohl eine Theorie des fiktiven Kapitals nicht nur aufgrund der Finanzmärkte unabdingbar ist. Auch Baum hält fest: „Sowohl über die letzten 20 Jahre wie aktuell ist eine Auflösung des Zusammenhangs zwischen Output- und Beschäftigungsentwicklung erkennbar.“ (56) Es handelt sich zumeist um beschäftigungsloses Wachstum, wir sprechen zu Recht von einem Jobless Growth. So mögen der finanzielle und der materielle Output steigen, doch die Beschäftigtenzahlen werden weiter sinken. Wiederum stellt sich die Frage, ob das bloß ein konjunkturelles Phänomen sei, das politisch zu beheben wäre, oder ob es sich nicht vielmehr unumkehrbar um eine strukturelle Krise des Gesamtkapitals, also letztlich um eine Systemkrise handelt.

Maschine gegen Arbeit

„Die unerlässliche Bedingung für eine passable Lage des Arbeiters ist also möglichst rasches Wachstum des produktiven Kapitals“, schreiben Marx und Engels (MEW 6, 411). Diese Bedingung ist nicht mehr gegeben, weder global noch lokal. Sprach Friedrich Engels in seiner klassischen Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ noch von einem „Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit“ (MEW 2, 242), so müssen wir heute vom Sieg der Maschinen über die Arbeit sprechen. Immer mehr Tätigkeit geht von den Arbeitern direkt auf die Maschinen über. Das Fabrikat braucht immer weniger menschliche Arbeitskraft und Arbeitszeit zu seiner Herstellung. Oftmals wird sogar die Fabrik überflüssig. Eins sitzt zu Hause vor dem Bildschirm, Heimarbeit kehrt als Home Office wieder. Kennzeichnend ist heute eine exzessive Dynamisierung des kapitalistischen Fortschritts. Was gestern noch Zukunft, ist morgen schon veraltet. Die Maschine frisst die Arbeiter und zwar in atemberaubendem Tempo. „Jetzt verdrängt die Maschine den Menschen. Unter richtigen Zuständen wird sie ihm dienen“, schrieb einst Oscar Wilde (1982, 34). Davon sind wir aber noch weit entfernt.

Die Produktionsstätten werden zwar nicht leer, aber sie werden sukzessive entleert. Die Unterschiede zwischen einer Fabrik in den Siebzigerjahren des vorangehenden Jahrhunderts und heute sind auch ganz augenscheinlich. Während der Raum und in ihm die Zahl der Maschinen und ihre Komplexität wächst, sinkt das Personal, das zur ihrer Bedienung nötig ist. Zunehmende Maschinendichte und abnehmende Menschendichte gehören zusammen. „Und dies entspricht auch dem Übergang von einem fordistischen Produktionsregime mit ,Fließband‘ und ausgeprägter Hierarchie zu postfordistischer Produktion mit Steuerung und Kontrolle einer weitgehend automatischen Produktion.“ (Baum 2014, 33)

Die ständige Entwertung der Arbeitsprodukte durch das jeweilige Einzelkapital konnte bis zum Ende des Fordismus in den Siebzigerjahren durch Ausweitung der Gesamtproduktion relativiert werden. Heute scheint das nicht mehr möglich zu sein, da die Produktion an ihre äußeren (ökologischen) und inneren (ökonomischen) Schranken stößt. Immer mehr Waren können in immer weniger Arbeitseinheiten und somit auch mit weniger Arbeitskräften hergestellt werden. Diese Tendenz ist nicht aufhaltbar und umkehrbar. Die Konkurrenz der Standorte und Betriebe und Verkäufer treibt sie unermüdlich an.

Denn natürlich stellt sich auch die Frage, ob das Kapital neue Anlage- und somit Akkumulationsmöglichkeiten finden kann, diese also unbegrenzt zur Verfügung stehen, um etwa einen neuerlichen Boom auszulösen, der mehr ist als ein spätes Strohfeuer. Die tendenziell abnehmende Investitionsquote verdeutlicht, dass die Industrie sich selbst oft nicht mehr traut und überschüssiges Geld eher am Finanzmarkt anlegt, also zielstrebig mehr auf das fiktive Kapital setzt als auf das fixe. Bisher kann gesagt werden, dass die dritte industrielle Revolution mehr Arbeiter exkludiert als inkludiert. Das ist zweifellos neu. „Was den Strukturwandel angeht, so lässt sich das Rad der Deindustrialisierung wohl kaum zurückdrehen. (…) Vielmehr ist der relativ hohe Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung (…) möglicherweise sogar als ein Symptom struktureller Rückständigkeit zu deuten (…).“ (Scheuer/Zimmermann 2006, 249)

Ausrinnen der Klasse

Die Verminderung des variablen Kapitals (also der Lohnarbeit) bei der Wertbildung führt zu deren Zurückdrängung. Wenn der das Kapitalverhältnis mitkonstituierende Stellenwert des variablen Kapitals verfällt, verfällt mit ihm auch die Lohnarbeit und das Proletariat. Nicht die Lohnarbeit hebelt also das Kapital aus, sondern das konstante Kapital minimiert sukzessive das variable. Freilich untergräbt es damit auch seine eigene Akkumulation. Die Arbeiterklasse muss auf eben diese ihre objektive Schranken projiziert werden: „Eine Entwicklung der Produktivkräfte, welche die absolute Anzahl der Arbeiter verminderte, d. h. in der Tat die ganze Nation befähigte, in einem geringern Zeitteil ihre Gesamtproduktion zu vollziehn, würde Revolution herbeiführen, weil sie die Mehrzahl der Bevölkerung außer Kurs setzen würde. Hierin erscheint wieder die spezifische Schranke der kapitalistischen Produktion, und dass sie keineswegs eine absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte und Erzeugung des Reichtums ist, vielmehr mit dieser auf einem gewissen Punkt in Kollision tritt. (…) Die absolute Überschusszeit, die die Gesellschaft gewinnt, geht sie nichts an. Die Entwicklung der Produktivkraft ist ihr nur wichtig, sofern sie die Mehrarbeitszeit der Arbeiterklasse vermehrt, nicht die Arbeitszeit für die materielle Produktion überhaupt vermindert; sie bewegt sich also im Gegensatze.“ (MEW 25, 274)

Reindustrialisierung ist nicht die Antwort auf Deindustrialisierung. Eine Reindustrialisierung der Welt ist eine Mischung aus falschem Wunsch, gefährlicher Drohung und hilflosem Gerede. An sich wäre die Deindustrialisierung überhaupt nicht das Problem, sondern vielmehr deren Folgen für die von ihr Abhängigen (=Lohnabhängigen) unter dem Zeichen der kapitalistischen Verwertungspflicht. Das ist freilich für traditionelle Interessenvertretungen schwer zu rezipieren und noch schwerer zu akzeptieren, stellt es doch deren gesamtes Selbstverständnis in Frage. Beharren diese jedoch auf den eingefahrenen Mustern, werden sie von einer sozialen Reformkraft zu einem konservativen Faktor des Standorts, dem dann alles zu unterwerfen ist, soll er am Markt erfolgreich sein. Tatsächlich erscheinen sie heute so. Alle Debatten, die wir kennen, sind letztlich affirmativer Natur.

André Gorz war einer der Ersten, der dies in seiner ganzen Tragweite begriffen hat: „Die Logik des Kapitals hat uns an die Schwelle der Befreiung geführt. Aber man kann sie nur mittels einer Zäsur überschreiten, die die produktivistische Rationalität durch eine andere Rationalität ersetzt.“ (Gorz 1980, 68) Denn andersrum gilt auch: „Der ,Fortschritt‘ hat eine Schwelle erreicht, hinter der er seinen Sinn verändert: Die Zukunft hält nur Drohungen parat, nicht Hoffnungen.“ (68) Die Frage, die sich aufdrängt, ist nicht, wie die Industrie zu retten oder gar neu zu erfinden ist, sondern: Was kommt nach der Industrie?, und besser noch: Was wollen wir eigentlich? Nicht nur hilflos und leer, auch gefährlich ist die Forderung nach einer Reindustrialisierung, bedenkt man insbesondere deren ökologische und humane Folgen.

Vorerst geht die Deklassifizierung einher mit der „Schwächung der Mobilitätsinstanzen“ (Bourdieu 2010, 131). Betriebsrat, Gewerkschaft, Partei (Sozialdemokratie) verlieren allesamt an Einfluss, da es ihnen nicht gelingt oder auch gar nicht gelingen kann, den Mangel an objektiver Klassifizierung durch subjektive Identifizierung zu überbrücken. Die traditionelle Arbeiterbewegung rinnt aus, nicht vorrangig aus politischem Unvermögen, sondern in erster Linie aufgrund der Entwicklungen oder besser: Abwicklungen und Fragmentierungen auf dem Industriesektor. Das zu vertretende Kollektiv verschwindet, löst sich auf in disparate Segmente oder gar personelle Atome, deren Interessen immer schwieriger auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. Das alte Instrumentarium taugt nicht, doch ein neues steht nicht zur Verfügung. Von der Entschiedenheit eines Kollektivs ist wenig übrig geblieben. Parteien und Gewerkschaften vermögen das nicht zu substituieren, im Gegenteil, sie sind selbst massiv davon betroffen.

Klasse und Klassenkampf erscheinen nicht mehr als zentrale Bestimmungskriterien der sozialen Auseinandersetzungen. Das Bewusstsein, also die Erfahrung und die Erkenntnis, etwas Gemeinsames darzustellen und eben als Klasse zu verkörpern, geht weitgehend verloren. Die Zusammenhänge erscheinen nicht mehr konturiert, sie sind vielmehr amorph. Mit der Zugehörigkeit geht auch die Hörigkeit verloren, die Einzelnen verstehen sich nicht mehr als Glieder einer Gruppe oder gar Kampfgemeinschaft. Der Mangel an Identität lässt an keine Autoritäten mehr glauben, vor allem auch deswegen, weil sie kaum noch Protektion (was jetzt nicht nur negativ gemeint ist) bieten können. Die Klasse bietet keine Geborgenheit mehr, weil sie an allen Ecken und Enden porös geworden ist.

Der Kampf um den Arbeitsplatz, d.h. um den Verkauf der Ware Arbeitskraft, ist durchaus als ein Klassifizierungskampf zu dechiffrieren. Umgekehrt freilich ist die Erfolglosigkeit oder gar Aussichtslosigkeit eines solchen Vorhabens Kennzeichen der Deklassifizierung. Deklassifizierung ist ein Exklusionsprozess, während Klassifizierung einen Inklusionsprozess beschreibt. Die Klasse gibt ihren Mitgliedern eine Identität, die sie innehaben, egal ob sie wollen oder nicht. Sie werden darauf fixiert. Deklassifizierung meint, dass diese Identität immer prekärer wird und sich aufzulösen beginnt, ohne dass anderes an ihre Stelle tritt. Der Proletarier steigt hier nicht um oder gar auf, sondern er fällt raus. Deklassifizierung bedeutet aber, man ist nach wie vor auf etwas fixiert, das man jedoch als Stellung nicht halten kann. Arbeitslosigkeit bedeutet Deklassifizierung, zumindest dann, wenn sie wirklich einen Bruch in der Biographie darstellt und nicht nur eine kurzfristige Unterbrechung. Die Betroffenen fallen reell aus ihrer sozialen Klasse. Ihr unmittelbares Ziel besteht darin, wieder klassifiziert zu werden, also in die Klasse der Arbeitenden zurückzukehren. Das wird immer schwieriger und manchen gelingt es gar nicht.

Deklassifizierung als Entformierung

Deklassifizierung meint, dass die Ware Arbeitskraft von ihrem Besitzer nicht (mehr) verkauft werden kann oder besser, dass kollektivvertraglich vereinbarte Lohnarbeitsverhältnisse immer seltener werden. Auf jeden Fall geht dabei der traditionelle Klassenzusammenhalt in die Brüche, auch weil der gemeinsame soziale Raum (die Fabrik oder das Büro) nicht mehr vorhanden ist oder nicht mehr diese Kontinuität in den Erwerbsbiographien der Menschen aufweist. Manche werden arbeitslos und sind damit der Sozialbürokratie ausgeliefert, andere versuchen sich als Selbständige, wer kann, flüchtet in die Pension, viele sind als prekär Beschäftigte mal hier und mal dort im Einsatz. Jobhopper eben.

Das Interesse kann heute kaum mehr kollektiv wahrgenommen werden, da die Einzelnen wirklich vereinzelt sind und sich dementsprechend spüren, d.h., sie sind zunehmend auf sich allein gestellt, real wie mental. Ihresgleichen mag es viele geben, aber diese sind nicht räumlich in Fabrik oder Büro konzentriert, sondern ganz flexibel werden sie mal da und mal dort eingesetzt. Oder sie sitzen gar zu Hause vor dem Computer. Formierung geschweige denn Institutionalisierung von Solidarität fällt schwer, weil diese aufwendig koordiniert werden müssten.

Die Klasse ist nicht mehr in Form. Kein Training und kein Trick wird die alte Form zurückbringen. Und diese Aussage gilt in beiden Bedeutungen. Mit der Form verliert die Klasse auch zusehends konkretisierbare Inhalte und kollektive Interessen. Mit dem Verfall der Organisationseinheit ,Betrieb‘ schwindet der Einfluss von Betriebsräten und Gewerkschaften sukzessive. „So stellt sich der soziale Konflikt als fragmentiertes, unüberschaubares Geflecht wechselnder Interessenskoalitionen dar“, schrieb Nikolaus Dimmel schon 1990. „Die Verlaufslinien künftiger sozialer Konflikte sind komplex.“ (Dimmel 1990, 54) Anscheinend zu komplex für viele Akteure. Nichts scheint mehr übersichtlich oder klar zu sein und dem ist auch so.

Die Entformierung der Klasse korrespondiert allerdings mit der Formatierung fragmentierter Subjekte durch die Kulturindustrie. Mehrförmiges wird zusehends einförmig. Soziale Deklassifizierungen gehen einher mit einer einheitlichen Codierung, was Geräte, Geschmäcker, Gelüste, Getränke betrifft. Red Bull ist überall. Die vielfach konstatierte Vielfalt der Stile und Szenen ist so eher eine der wechselnden Moden, die allerdings den gleichen Mustern folgen. Der Pluralismus ist akzentuierte Gleichförmigkeit. Soziale Zusammengehörigkeit wird so zusehends marod, während kulturelle Hörigkeit (Markenidentifikation, Fanprojektion) wie überhaupt die absolute Zunahme der äußeren Reize durch die synchronisierende PR-Branche immer bestimmender wird. Die Leute mögen aus dem System fallen, aber ideologisch sind sie (trotz allem Unbehagen) fest integriert, ja möglicherweise fester denn je, was effektive Haltungen und Handlungen betrifft.

Deklassierung als Nichtung

Deklassifizierung sagt aber nur, dass man aus seiner Klasse gefallen ist, sie sagt nicht aus, wohin die Reise zu gehen hat. Schließlich kann die Deklassifizierung durch eine neuerliche Klassifizierung rückgängig gemacht werden, d.h., sowohl ein Wiedereinstieg als auch ein Umstieg können glücken. Deklassifizierung bedeutet noch nicht soziale Degradierung durch Deklassierung. Letztere folgt nicht automatisch. Deklassierung geht dann also noch einen Schritt weiter, sie ist der Vollzug einer Kapitulation. Man fällt nicht nur aus der Klasse, man fällt zusehends aus der Gesellschaft, vor allem aus einem nicht nur gerade noch tolerierten, sondern akzeptierten Leben. Deklassifizierung meint eine soziale Infragestellung der Exponate, Deklassierung meint eine soziale Verneinung derselben als gesellschaftliche Glieder. Ist heute Deklassifizierung ein Massenphänomen geworden, so ist die Deklassierung noch immer ein Randphänomen, auch wenn der Rand breiter wird.

In der Deklassierung verliert man nicht nur seinen sozialen Status, es droht auch die soziale Nichtung. Man ist nun nichts mehr, die Rollen sind ausgespielt. Deklassierung bedeutet absolute Degradierung des menschlichen Wesens. Es verliert das Weltvertrauen. Das abgeschriebene Subjekt, dessen Leben bedroht ist, weil es nicht einmal für seine Existenz sorgen kann, ist auch noch verschiedenen Zumutungen ausgesetzt. Problematisch sind nicht nur Beschränkungen und Übergriffe durch Behörden und Bürokratien, sondern vor allem auch die soziale Indifferenz und oftmals Kälte, die einem entgegenschlägt und der die Gezeichneten aufgrund ihrer Sprach- und Hilflosigkeit nichts oder wenig entgegenzusetzen haben. Es gibt inzwischen Leute, die nicht einmal deklassiert werden müssen, weil sie schon a priori deklassiert sind. Typisch dafür sind Jugendliche ohne Ausbildung, die nie in einen Arbeitsprozess eingestiegen sind oder einsteigen konnten.

Man kann nicht sagen, dass die verbleibenden Arbeitsplatzbesitzer viel für die Deklassierten übrighätten. Hier regiert immer noch die alte Verachtung, ist nicht nur gelegentlich von „Arbeitsscheu“, „sozialer Hängematte“ oder gar „Schmarotzertum“ die Rede. Man kann sich und will sich diese Situation gar nicht erst vorstellen. Man fühlt nicht mit, man ist dagegen und pflegt lang bewährte Vorurteile. So „wird die ganze Distanz sichtbar, die den Proletarier, der, selbst wenn er im Abstieg begriffen ist, über regelmäßige, wenn auch gekürzte Bezüge verfügt, dessen Finanzen in Ordnung sind und der, trotz allem, in eine relativ gesicherte Zukunft blicken kann, von dem ehemaligen Arbeiter trennt, der sich nach dem ungeschützten und ungesicherten Fall in die Arbeitslosigkeit auf der Stufe eines mittellosen, desorganisierten Subproletariers befindet, den die Sorge umtreibt, von Tag zu Tag zwischen unbezahlten Mieten und unbezahlten Schulden zu überleben.“ (Bourdieu 2010, 23)

Man soll sich nichts vormachen, meist ist es so und nicht anders. Arbeitsplatzbesitzer empfinden Arbeitslose einerseits als potenzielle Arbeitsplatzbesetzer, d.h. als Konkurrenten und andererseits als Trittbrettfahrer eines hauptsächlich durch sie finanzierten Sozialstaates. Sozialfälle halt. Zu diskutieren wären die Deklassierten auch unter dem Gesichtspunkt des sozialen Abfalls, der diversen Abfälligkeiten ausgesetzt ist. Deklassierte etwa wie Obdachlose haben mit wenig Verständnis und Nachsicht zu rechnen, vor allem in kleinen Industriegemeinden, oft bleibt nur noch die Flucht in die anonyme Großstadt.

Soziale Regression kann nicht mehr primär anhand sozialer Positionierung von Klassen beschrieben werden. Es geht nicht um die Klassenzuordnung, sondern um Deklassifizierung und Deklassierung, was meint, dass die Menschen aus ihren Strukturen herausfallen, z. B. die Arbeit verlieren, aber Arbeitsmonaden bleiben, kein Geld haben, aber Geldsubjekte sein müssen. Die Deklassierung betrifft nicht nur das sogenannte Proletariat, sie ist allumfassend.

Die Überflüssigen

Deklassifizierung ist in der bürgerlichen Gesellschaft immer gleichbedeutend mit einer Disqualifizierung. Entweder ist man der anvertrauten Rolle nicht gewachsen oder diese wird nicht benötigt, was ungefähr auf das Gleiche hinauskommt. Entweder kann man etwas nicht oder das, was man kann, wird nicht benötigt. Kurzum, eins ist überflüssig geworden, unbrauchbar, unnütz, unverwendbar, weil unverwertbar. Es ist wohl oder übel zu konstatieren, dass der Kampf der Noch-Klassifizierten gegen die Schon-Deklassifizierten ohne Rücksicht auf deren Deklassierung geführt wird. Die Solidarität in der alten Arbeiterbewegung war sowieso eine auf ihrer eigenen Stufe, eine vertikale und keine horizontale gewesen. Auf die Deklassifizierten gilt es schon aufgrund der Konkurrenzsituation wenig Rücksicht zu nehmen und auf die Deklassierten schon gar nicht.

Ein Jenseits der Prekarität ist aber nicht mehr in ordentlichen Beschäftigungsverhältnissen zu suchen. André Gorz schrieb bereits 1979: „Die traditionelle Arbeiterklasse ist nur noch eine privilegierte Minderheit. In ihrer Mehrheit gehört die Bevölkerung heute dem nachindustriellen Neoproletariat der Status- und Klassenlosen an, die zeitweilig als Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter oder Teilzeit-Angestellte, Hilfs- oder Aushilfsdienste verrichten.“ (Gorz 1980, 64) „Die Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter“, wie Gorz sie nennt, „umfasst die Gesamtheit der aus der Produktion durch den Prozess der Arbeitsvernichtung Ausgestoßenen oder der in ihren Fähigkeiten durch die Industrialisierung der intellektuellen Tätigkeit (Automation und Informatik) Unterbeschäftigten.“ (63) Und er resümiert: „Für die Arbeiter kommt also nicht mehr in Betracht, sich innerhalb der Arbeit zu befreien, die Arbeit zu beherrschen oder Macht im Rahmen der Arbeit zu gewinnen. Nichts anderes kann mehr in Betracht kommen als die Befreiung von der Arbeit, indem man zugleich deren Natur, Inhalt, Notwendigkeit und Modalitäten ablehnt. Aber die Ablehnung der Arbeit schließt die der traditionellen Strategie der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationsformen ein. Es geht nicht mehr darum, Macht zu erobern, um nicht mehr länger als Arbeiter funktionieren zu müssen. Zur Debatte steht hier offensichtlich eine andere Macht.“ (62)

Heute ist der Klassenstandpunkt nur noch ein bornierter Interessenstandpunkt, der nach keinem Jenseits fragt. Nicht einmal an den sozialen Abwehrkämpfen wird er sich hochziehen können. Das ist auch der Hauptgrund, warum die gegenwärtigen sozialen Kämpfe sich dem Inhalt nach als derart lahm erweisen. Die Herausforderung besteht darin, soziale Auseinandersetzungen nicht an Klassenfronten auszurichten, sondern diese zu durchbrechen. Sie liegt darin, die negative Klassenlosigkeit, welche das System hervorbringt, durch eine positive Klassenlosigkeit zu ersetzen. In der Tat bringt die Auflösung der Klassen, ausgedrückt durch die Entstehung der „Überflüssigen“ (Heinz Bude) bzw. der überschüssigen Arbeitskräfte in den Prozessen der Atypisierung und Deregulierung, kein neues emanzipatorisches „Subjekt“ hervor, sondern reine Geld- und Warenmonaden. Aber das muss man nicht sein wollen, keine Natur zwingt einen dazu.

Literatur

Anders, G. (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Band II. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München.
Anders, G. (1989): Sprache und Endzeit IV [Manuskript zum dritten Band der „Antiquiertheit“], FORVM, Nummer 430-431, Oktober/November 1989, 40 ff.
Baum, J. (2014): Analyse, Herausforderungen, Perspektiven und wirtschaftspolitische Implikationen einer Reindustrialisierung in Niederösterreich bzw. Österreich, Endbericht August 2014 [Fotokopie].
Bourdieu, P., et.al. (2010): Das Elend der Welt (1993). Gekürzte Studienausgabe, 2. Aufl., Konstanz.
Dimmel, N. (1990): Soziale Bewegungen ohne historisches Subjekt? Sozialkonflikte in den 90er Jahren, Kurswechsel 4/90, 45 ff.
European Commission (2014): Member states need to account to boost European Industry, MEMO/14/37, Brusels, 22 January 2014.
Gorz, A. (1980): Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, aus dem Französischen übersetzt von Heinz Abosch, Frankfurt am Main.
MEW: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin (Ost), div. Jg.
Peneder, M. (2014): Warum die Neue Industriepolitik die Deindustrialisierung beschleunigen wird, Policy Brief Nr. 23, Februar 2014.
Scheuer M./G. Zimmermann (2006): Deindustrialisierung: Eine „britische Krankheit“?, Wirtschaftsdienst Nr. 4/2006, 245 ff.
Wilde, O. (1982): Der Sozialismus und die Seele der Menschen (1891), Zürich.

* Der Artikel ist ein Auszug aus einem Beitrag des Autors für die Studie Nikolaus Dimmel (Hg.) (Über)Leben an der Grenze, die am 15. Oktober in der AKNÖ präsentiert wird, Details hier.