Gewalt – ein Verhältnis

Streifzüge 63/2015

von Nikolaus Dimmel

Kapitalismus ist nichts Geringeres als ein allseitiges Gewaltverhältnis. Und als solches gerade ob seiner Allgegenwärtigkeit schwer zu fassen. Denn Gewalt ist immer dingliche oder institutionelle Struktur, ökonomischer Zusammenhang und soziale Handlung in einem. Kontrafaktisch reduzieren der bürgerliche Rechtsstaat und seine ideologische Rahmung das Gesellschaftsvertragsdenken auf Gewaltstrukturen (Gewaltmonopol und Gewaltenteilung) und Gewalthandlungen (Polizei, Strafvollzug). Dies freilich lässt die Gewaltdimension der kapitalistischen Ökonomie gänzlich außen vor. In der Art und Weise, wie Menschen im Kapitalismus produzieren und sich reproduzieren, steckt immer ein soziales Verhältnis der Gewalt. Dies betrifft Lohnarbeit und Mehrwertabschöpfung, die Verwarung sozialer Beziehungen, die Finanzialisierung des Alltags, die Umwandlung der Arbeitskraft in „Humankapital“, aber auch die Verwandlung des Lohnarbeiters in einen „Arbeitskraftunternehmer“. In gleicher Weise betrifft es die zentrale Rolle des kapitalistischen Staates bei der gewaltsamen Durchsetzung von Profitraten im staatsmonopolistischen Kapitalismus. Und es tritt unverstellt in den Dominanz- und Aneignungsansprüchen der Plutokratie, also der Herrschaft der Eliten und Agenturen des Finanzkapitals, zu Tage.

Strukturelle Gewalt

Eben dieses Gewaltverhältnis gilt es zu verbrämen. Deshalb vermag etwa der Mainstream der Soziologie als einer sozialtechnologischen Disziplin, das Gewaltverhältnis nicht anders als über personale Beziehungen zu erschließen. Gewalt wird hier gemeinhin als körperliche (physische) und/oder seelische (psychische) Schädigung eines Anderen oder von Anderen oder/und deren Androhung(en) verstanden. Gewalt gilt als Ausdruck machtbezogener Kommunikation und Interaktion. Vielgestaltig wird Gewalt als Todesmacht von Menschen über Menschen naturalisiert und universalisiert. Tötungsmacht und dem korrespondierend Ohnmacht des Opfers gelten latent oder manifest als Bestimmungsgründe aller Sozialstruktur. Erst darin trennt etwa Jan Philipp Reemtsma (Vertrauen und Gewalt, 2008) zwischen lozierender Gewalt zur Beseitigung des Körpers des Anderen, raptiver Gewalt zur Instrumentalisierung des Körpers des Anderen und autotelischer sadistischer Gewalt, die um ihrer selbst willen wie in der Folter angewandt wird. Die Psychologie vertieft diesen Denkansatz. Sie reduziert Gewalt evolutionsbiologisch auf Triebe (Aggression) bzw. biopsychosoziale Mechanismen. Hier sind es soziale, kulturelle und situative Umfeldbedingungen, die Emotionen wie Angst, Furcht, Wut, Frustration oder Straflust aktivieren und darüber Gewalthandeln erzeugen.

Alle ökonomisch vermittelte Gewalt findet in derlei Denkzuschnitten begrifflich keine angemessene Abbildung. Dabei erhellte bereits der Rückgriff auf Johan Galtungs Konzept der „strukturellen Gewalt“ (1975) den Horizont. Denn hier wird strukturelle Gewalt als vermeidbare Beeinträchtigung der Realisierung potentiell möglicher Bedürfnisbefriedigung einer möglichst großen Zahl an Menschen einer Gesellschaft verstanden. Kern struktureller Gewalt ist die Reproduktion von Ungleichheit (von Einkommen, Bildung, Lebenserwartung) sowie die Oppression emanzipatorischer Bewegung. Gewalt wird hier nicht mehr personalen Akteuren zugerechnet. Vielmehr sind es die Gesellschaftsformation, ihre ökonomischen (Eigentumsverhältnisse) und (!) sozialen Strukturen (Werte, Normen, Institutionen, Diskurse und Machtverhältnisse), die Gewalt ausüben.

Darauf hat freilich schon Bert Brecht in „Me-Ti. Buch der Wendungen“ verwiesen. Darin heißt es, dass es viele Arten zu töten gibt: „Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen.“ Gewalt als Ausdruck des ökonomischen Verfügungsanspruchs über Ressourcen, Körper und Leben (als Prinzip) setzt ein bindungswirksames ideologisches Ausblendungsverhältnis voraus. Sie wird konsequent dann nicht mehr wahrgenommen, wenn sie als einschränkende normative Lebensbedingung bereits internalisiert und toleriert ist. Herbert Marcuses Befund der „Repressiven Toleranz“ (Kritik der Reinen Toleranz, 1966) gegenüber aller zerstörerischen Gewalt, konsumistischen Warenästhetik und Fetischisierung sowie rückschrittlichen Bewegungen erhält im „Pluralismus der Oligarchien“ und angesichts der „Varieties of Financial Capitalism“ allerdings neue Qualität. Denn dessen Gewaltpotential übersteigt alles Dagewesene der Fabrikation von Herrschaft. Das betrifft nicht nur Weltordnungskriege, den Metabolismus des Naturverbrauchs und die reelle Subsumtion der Arbeitskraft unter das Kapital. Es betrifft auch die Zukunft. Längst hat das Finanzkapital die Zukunft kolonisiert und verspielt, wenn einem Welt-BIP von 77 Billionen US-Dollar mit Recht bewährte Finanztitel im Wert von 200 Billionen US-Dollar gegenüberstehen. Zugleich ist in den medialen Blödmaschinen keine Alternative mehr zum „Geld-Geld-Geld“-Produktionskreislauf des Finanzkapitalismus, nicht einmal mehr eine Rückkehr in einen realwirtschaftlich dominierten Konkurrenzkapitalismus denkbar, der gleichwohl als Emblem keynesianischer Konjunkturpolitik das Ende der Mehrwertproduktion hinauszuzögern aber nicht zu verhindern vermag.

Realiter waren ökonomische Demokratie als irgend geartete „Mitbestimmung“ der Produzierenden über Produktion wie Verteilung des Surplus einerseits und Kapitalismus andererseits immer schon dissoziiert. Alle ursprüngliche Akkumulation im Sinne kapitalistischer Landnahme ruht auf Vertreibung, Versklavung, Aneignung, Mord, Totschlag und Zwang. Hier erstreckt sich eine Blutlache vom transatlantischen Sklavenhandelsdreieck über die Kolonialkriege der Ostindischen Kompanien über König Leopolds Kautschukplantagen im Kongo, über die imperialistischen (Welt)Kriege um Rohstoffe, Absatzmärkte und Raum bis herauf zu den modernen Weltordnungskriegen, mit denen das Finanzkapital den Globus überziehen lässt. Alle Weltordnungspolitik der kapitalistischen Metropolen basiert letztlich auf Gewaltpraktiken. Das bezieht sich auf den als „Demokratieexport“ verbrämten Imperialismus der NATO, Marines und Deutschen Bundeswehr nach Irak, Jugoslawien und Libyen. Es reicht von der Finanzierung der faschistischen Widerstandsbewegungen von Chile bis zu ihren islamofaschistischen Varianten in Afghanistan und Syrien. Es reicht vom Freihandelsregime zwischen WTO und TTIP bis hin zum extralegalen, martkfundamentalistischen Furor der EU-Troika in Griechenland. Dem Weltordnungskrieg nach außen korrespondiert die „low intensity warfare“ des Bürgerkriegs nach innen. Darin intensiviert der neoliberale, postfordistische Überwachungsstaat seine gewaltbewährte soziale Kontrolle über die Subalternen. Dies deshalb, weil die kapitalistische Landnahme der Körper die fortwährend adaptierte Sozialdisziplinierung der Nichtkonsumierenden, Unangepassten, Widerständigen und Arbeitsmarktfernen unhintergehbar voraussetzt.

Metamorphosen der Gewalt

Nun liegt der Kern des kapitalistischen Gewaltverhältnisses in der Ligatur von Lohnarbeit und Privateigentum, dem Dreh- und Angelpunkt der bürgerlichen Gesellschaft. Bereits im Lohnarbeitsverhältnis, jenem Vertrag zwischen formal Gleichen und material Ungleichen, worin der Mehrwert in einer Illusion der juristischen Weltanschauung zum Verschwinden gebracht wird, steckt Gewalt. Der „doppelt freie“ Lohnarbeiter realisiert den unhintergehbaren Zwang gegen den eigenen Willen (und wider besseres Wissen) seine Arbeitskraft wie die Haut zu Markte zu tragen. Auch unter dem Schlagschatten des Arbeitsverfassungsrechts (Betriebsräte, Mitbestimmung) schwingt die Willkür des unternehmerischen Direktionsrechts. Was sich an der Performanz der Lohnarbeit geändert hat, ist das „wie“ des Verkaufs und der Applikation der Arbeitsvermögen.

Im warenproduzierenden Konkurrenzkapitalismus bedurfte es simpel der Polizei, Arbeitsbüchern und physischer Gewalt. Der Monopolkapitalismus wählte den Faschismus als Modus gewalttätiger Formierung. Heute funktioniert die Gewalt des sich postindustriell gebenden Kapitalismus auf komplexere Weise. Sie beruht auf Gouvernementalität, auf Selbstzwang, Submission und der Absorption der Arbeitsvermögen im Kapital. Das betrifft Innovationen und Gefühle ebenso wie soziale und kommunikative Kompetenzen. So muss sich die „postmoderne“ Arbeitskraft selbst anrichten („life long learning“). Sie muss sich bewerben (Lebenslauf-Kursmaßnahmen) und verkaufen (Vorstellungsgespräche). An die Stelle der Gewalt des Vorarbeiters und Abnehmers am Fließband sind die Teamleitung, an die Stelle der hierarchischen Sanktion die Ungleichverteilung gruppenbezogener Prämien samt Teamsupervision getreten. Zugleich reduziert sich mit wachsender organischer Zusammensetzung des Kapitals die gesellschaftlich notwendige nachgefragte Arbeit. Was bleibt ist die Alternative zwischen Burnout, Boreout, innerer Kündigung und Langzeitarbeitslosigkeit. Nur 10 Prozent der OECD-Beschäftigten arbeiten im „flow“, sind also in der Arbeit bei sich, haben die Empfindung sinnstiftender Tätigkeit, berichten von der Eigenwahrnehmung, ihr Arbeitsvermögen angemessen einzusetzen. Für 90 Prozent der Beschäftigten hingegen dominieren Arbeitsleid, Über- oder Unterforderung. Erst wenn dieses Verhältnis struktureller Gewalt als totalitärer Modus der Ausbeutung identifiziert wird, ist eine konstruktive Verweigerung gegenüber dem kapitalistischen Kontrollzugriff möglich.

Dessen ungeachtet eskaliert und löscht sich das kapitalistische Gewaltverhältnis selbst erst dann aus, wenn es jeden Quadratmeter Welt kapitalisiert, jede auf Produktivkraftniveau verwertbare Arbeitskraft ausgebeutet und die Zukunft der Wertschöpfung vollständig verbraucht hat. Dorthin ist man zügig unterwegs (aber noch nicht ganz da). Noch beansprucht das Krisenmanagement der politischen Dienstklasse, den Kapitalismus zu „regieren“. Doch erweist sich das Versprechen der Befriedung des Widerspruchs zwischen phantastischen Profitratenerwartungen und kollektiven Wahnvorstellungen der Finanzoligarchie (institutionelle Anleger, Finanzkapitalisten, Banken, Ratingagenturen, Weltbank, IMF) einerseits und der austeritätspolitischen Ausplünderung der Subalternen andererseits als substanzlos. Thomas Piketty (Capital in the 21st Century, 2013) oder die OECD (Growing Unequal, 2009) tun so, als ob man ein bisschen fairer umverteilen müsste, um den Kapitalismus wieder in Konjunkturschwung zu bringen, um das Ausmaß struktureller Gewalt (Arbeitslosigkeit, Armut) und proaktiver Gewalt (Züchtigung der Schuldner) zu verringern.

Freilich, der Widerspruch zwischen militärisch und polizeilich durchgesetzten finanzkapitalistischen Rendite- und Realisierungsansprüchen (aus elektronischen Buchungszeilen werden private Forderungen und Exekutionstitel) einerseits und dem tendenziellen Fall der Profitrate sowie der rückläufigen realkapitalistischen Produktionsleistung andererseits bleibt ein kategorialer. Im beschönigenden Kunstgriff der BIP-Rechnung liegt das Wachstum der Industrieländer seit 15 Jahren zwischen Null und 1,5 Prozent. Rechnet man aber den Impact des Finanzsektors auf das BIP sowie den artifiziellen Binnenhandel zu Zwecken der Steuervermeidung in multinationalen Konzernen heraus, dann verharrt der Kapitalismus (gemäß dem ihm eigenen Maßstab) seit 15 Jahren im Minuswachstum, also in der Rezession. Gänzlich unauflöslich ist schließlich der Widerspruch zwischen dem suizidalen Ressourcen- und Naturverbrauch der kapitalistischen Wachstumsmaschine und den beschränkten Ressourcen der Biosphäre.
Auf diese Weise hat der High-Tech-Kapitalismus auf durchgängig gewalttätige Weise die Grenzen seiner gesellschaftlichen Reproduktion erreicht. Konjunkturelle Aufschwünge nehmen seit 1991 fast nur noch die Form von Spekulationsblasen und epidemischer Enteignung an. Eine schuldenfinanzierte, auf kollektiven Wahnvorstellungen der Investoren, Machtansprüchen der Plutokratie und dümmlich-autoritärem Habitus der politischen Dienstklassen beruhende kapitalistische Ausplünderungsökonomie setzt die Profitratenerwartungen der herrschenden Klasse unerbittlich um. Sie tut dies mittels Freihandels- und Sonderwirtschaftszonen, Standortwettbewerben, Privatisierungsoffensiven, einem hochgerüsteten Überwachungsapparat und einer globalisierten High-Tech-Militärmaschinerie.

Darin bewegt sich das moderne kapitalistische Gewaltverhältnis flexibel zwischen Stellungs- und Bewegungskrieg. Zerbricht das Machtgefüge des Stellungskrieges, etwa weil ein Teil der angebotenen Lohnarbeit überflüssig wird, geraten stillgelegte Widersprüche in Bewegung. Der Konsens wird aufgekündigt. Erodiert zum anderen die Macht in der „societa civile“ in Form des Verlustes des Konsensus über den legitimen Dominanzanspruch der Bourgeoisie, verwandelt sich der Widerstand der Subalternen in „Sand im Getriebe“, dann kommt die Gewalt des bürgerlichen Staates ins Spiel. Diese schafft im Weiteren klare Verhältnisse im Bewegungskrieg, etwa durch die Judikatur des EuGH, die jeden korporatistischen Konsens sistiert hat. Die Troika (EU-Kommission, EZB, IMF) hat die Logik dieser Intervention in Griechenland trefflich vor Augen geführt, wo den Modernisierungsverlierern gesunde Lebensjahre „en bloc“ genommen werden. Der Körper, sagt Christina von Braun (Der Preis des Geldes, 2012) ist die letzte Deckung des Geldes. Und so bezahlen die Subalternen die Spielschulden der Reichen mit ihrem Leben.

Gegenmacht und Gegengewalt

Nachdem die Finanzbourgeoisie diesen Bewegungskrieg als „Bürgerkrieg von oben“ entfesselt hat, stellt sich indes die Frage, wie lange sich bürgerliche Herrschaft ausschließlich/dominant auf Gewalt stützen kann und welches Mindestmaß an Akzeptanz und Legitimität ihr unterliegen muss, um nicht zu zerbrechen. Denn der soziale Ausschluss provoziert differentielle Praktiken der Gegenwehr von den Revolten der Banlieue 2005 über die London Riots 2011, die „Indignados“ in Spanien bis hin zur „Occupy“-Bewegung, „Podemos“ oder „Syriza“. Darin stellt sich auch die Frage der Gegengewalt neu. Denn in grundsätzlicher Weise setzen antihegemoniale Praxis und die Entfaltung einer Perspektive auf die Systemtransformation korrespondierende Gegenmacht und Gegengewalt voraus. Im Grunde genommen ist die Befreiung aus kapitalistischen Produktions- und Reproduktionszwängen nur durch den Akt der Gewalt hindurch zu denken. Kapitalismus lässt sich nicht abwählen, wie schon Emma Goldmann wusste: „Würden Wahlen etwas ändern wären sie verboten.“

Vertrackter wird es, wenn über Inhalt, Ausmaß und Form der Gegengewalt zu räsonieren ist. Bereits wenn man ein (Natur)Recht auf Widerstand außerhalb bürgerlicher Legalitätsvorstellungen gegen die kapitalistische, gewalttätige Ausplünderungspraxis zugunsten unterdrückter Bevölkerungsgruppen oder überwältigter Minderheiten argumentiert, stellt sich die Frage, wie Gegengewalt beschaffen sein muss und darf. Dies erst recht, wenn die Gewalt des kapitalistischen Ausplünderungsverhältnisses eben nicht mehr nur mit nationaler Zivil- und Strafjustiz durchgesetzt wird, sondern die fortgeschrittensten Praktiken dieser Ausplünderung allesamt supranational und extralegal exekutiert werden. So lässt sich etwa TTIP, der Klon des gescheiterten MAI-Abkommens, als Beerdigung dritter Klasse des Rechtsstaates verstehen. Denn hier klagen Investoren gänzlich diskretionär Staaten (und hinter ihnen deren souveräne Bevölkerung) vor Privatgerichten, die sich aus bezahlten Symbolagenten („law firms“) des internationalen Finanzkapitals (Hedge Fonds) zusammensetzen. Sie klagen bereits heute virtuellen Schaden in Milliardenhöhe erfolgreich ein, der sich aus entgangenem Gewinn ergibt, der durch den Entfall sozialer und ökologischer Schutznormen möglich gewesen wäre. Letztlich darf hier ein Schaden eingeklagt werden der daraus entstanden ist, dass man zu wenige Leute im Auftrag der Aktionäre verarmen, ausgrenzen, depravieren und verhungern lassen konnte. Diese Gewaltpraxis extralegaler Herrschaft, die jedwedem Konzept bürgerlich-rechtsstaatlicher Herrschaft enträt, macht deutlich, dass sich der bürgerliche Staat nach wie vor eine totalitäre (faschistische) Exit-Option offen hält.

Ist die Gewalt im bürgerlichen Rechtsstaat noch verfassungsrechtlich eingehegt, so spiegeln die supranationalen, globalisierten, marktfundamentalistischen Herrschafts- und Gewaltpraktiken des Kapitals eine Auflösungstendenz des Rechts. Im Kommunistischen Manifest heißt es, dass das Recht Erzeugnis der bürgerlichen Produktions- und Eigentumsverhältnisse ist und die Bourgeoisie folgerichtig ihre Ideen, wie im Übrigen alle untergegangenen herrschenden Klassen, als ewige Natur- und Vernunftgesetze betrachtet. Das gilt für Inhalt und Form des Rechts. Das Recht gilt gleichwohl als historischer Kompromiss und als mit relativer Eigenständigkeit ausgestatteter Regulationskörper. Die Logik der bürgerlichen Rechtsordnung, aber auch die Spielanordnung der staatlichen Gewaltinstrumentarien, widerspiegeln eine durch staatliche Intervention moderierte Akkumulation des Kapitals. Unausweichlich wird diese gesellschaftliche Regulation des Kapitals durch Recht durch strukturell gewalttätige Wettbewerbs-, Aneignungs-, Verwertungs- und Ausbeutungsbeziehungen erschüttert, gerade auch unter den Vorzeichen des Monopol- und staatsmonopolistischen Kapitalismus. Heute allerdings hat das (bürgerliche) Recht überhaupt keinen adäquaten Ausdruck (mehr) für die Gewaltförmigkeit der ihm zugrunde liegenden Ökonomie.

Postnationaler Ausnahmezustand

Carl Schmitt dachte sich den einzelstaatlichen Notstandsfall (Die Diktatur, 1921) noch als Suspendierung der Anwendung des Rechts, worin das Gesetz als solches in Kraft, aber praktisch unanwendbar bleibt, während der Staat gewaltförmig agiert. Der Finanzkapitalismus hingegen etabliert einen postnationalen Ausnahmezustand, in dem der Staat (vom Recht ist da ohnehin keine Rede mehr) hinter die partikularen Interessen supranational agierender Investoren zurücktritt. In dieser elaboriertesten Form nicht-militärischer Gewaltanwendung, herrscht die Anarchie des Finanzkapitalmarktes.

Kann man vor dieser Hintergrundfolie überhaupt auf dem Boden der bürgerlichen Rechtsordnung um soziale Interessen weiterkämpfen? Kann man nach wie vor Judikate wie Pflöcke in das Terrain der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um die Verteilung des Reichtums, die Art des Arbeitens oder den Umgang mit der Biosphäre, also um Art und Ausmaß struktureller Gewalt rammen? Ist ein legalistischer sozialer Konflikt um die Legitimität von Gewaltverhältnissen denkbar wenn sich der Gegner nicht nur aus der nationalstaatlichen Rechtsordnung verabschiedet hat, sondern in einer Sphäre des „soft law“ ohne verbindliche Regeln mit Mitteln des staatlichen Gewaltmonopols ungreifbar geworden ist?