Von der Einhegung der Liebe zur Polyamorie?

von Andreas Exner

Wenn wir über Schenken, Teilen und Beitragen nachdenken, betrifft das nicht nur den Bereich der heute so genannten Produktion, die Betriebe. Es betrifft auch den davon als getrennt wahrgenommenen und organisierten Haushalt. Historisch betrachtet ist der Haushalt in der heute vorherrschenden Idee und Form eine Besonderheit. Sie ergibt sich aus der versuchten Fusion von Wirtschaftsgemeinschaft, Liebe und Sexualität. Diese Besonderheit ist im Zuge der Durchsetzung von Privateigentum, Marktwirtschaft und Kapital entstanden. Sie prägt die Gefühle der Menschen tief.

Den emotionalen Kern des Haushalts bildet die Zweierbeziehung oder Monogamie, wobei dies früher die Ehe sanktionierte, was heute keine Rolle mehr spielt. In einer sehr langen geschichtlichen Sicht kann man die Entstehung der Monogamie, die den bürgerlichen Haushalt tragen soll, wie er heute noch ideologisch dominiert, als Produkt einer Reihe von Einhegungen der Liebe verstehen.

Liebe verstehe ich hier als einen offenen Begriff. Man kann Liebe adjektivisch näher bestimmen und entsprechend verschiedene ihrer Formen beschreiben. Die antiken Griechen etwa differenzierten zehn Formen der Liebe, die wir heute begrifflich nur mit Mühe trennen können. Eine Definition im eigentlichen Sinn aber ist immer willkürlich, weil die Liebe gerade als ein begriffliches Schwerezentrum wirkt, das verschiedene zusammenhängende Bedeutungen anzieht, sich in ihnen aber nicht erschöpft und nicht erschöpfen kann.

Was ich jedoch für die folgenden Überlegungen im Anschluss an Hermann Schmitz vorschlage, ist, die Liebe als ein Gefühl und eine Disposition zu betrachten. Dabei konzentriere ich mich auf die monogame oder mehrfache sexuelle Paarliebe. Liebe soll in diesem Sinn eine innige Attraktion und leidenschaftliche Hingabe bezeichnen, die von langer Dauer sein kann, aber nicht muss. Liebe hat viel mit dem möglichen Reichtum des Lebens zu tun. Ihr ist eine überfließende, zugleich den Menschen atmosphärisch ergreifende und in diesem Sinn überfließende Qualität eigen. Deshalb sehe ich die Liebe auch als eine Leidenschaft und als ein Gefühl, das soziale Normen tendenziell untergräbt, die dieser Qualität nicht gerecht werden. Zwar kann man Liebe klar von sexuellen Handlungen unterscheiden, wenn man diese physisch definiert, dennoch ist die innige, leidenschaftliche Liebe wohl nicht eindeutig oder streng von Sexualität zu trennen.

Dabei sollte man sich vor Augen halten, dass nicht nur die Liebe, sondern auch die Sexualität einen sehr besonderen Begriff darstellt. Im Mittelalter etwa existierte kein der Sexualität vergleichbarer Begriff. Auch die antiken Griechen hatten dafür keine der modernen Vorstellung entsprechende Idee. Im heutigen Sinn erotische Liebesgedichte sind allerdings schon aus der Zeit vor etwa 3000 Jahren dokumentiert.

Der überfließende und soziale Normen tendenziell untergrabende Charakter der Liebe wird nun im geschichtlichen Verlauf, der bis zum Kapitalismus führt, schrittweise diszipliniert und zuerst der Kontrolle durch Institutionen (Kirche, Staat), dann der Selbst-Kontrolle unterworfen. Die Liebe ist für die Entstehung von Herrschaft ein strategischer Bereich zwischen unwillkürlichen Regungen und Ergriffenheit einerseits und der Möglichkeit der willentlichen Formung und Unterdrückung andererseits. In diesem strategischen Bereich hat sich daher die kapitalistische Arbeitsdisziplin, die Normierung des Menschen und die für den Staat „lesbare“ Ordnung von Beziehungen etabliert.

Ich setze dabei nicht voraus, dass es sozusagen ein ursprüngliches Paradies der Liebe gegeben habe. Dennoch kann man eine bis zum heutigen Tage fortschreitende Disziplinierung erkennen. Auch nehme ich nicht an, dass es eine historisch unwandelbare Liebe gibt. Vielmehr gehe ich davon aus, dass die Liebe zwar in einem Substrat jenseits von Kultur gründet, jedoch immer in historisch spezifischen kulturellen Gestalten in Erscheinung tritt und gefühlt wird. Dabei gibt es eine große Bandbreite von beispielsweise der Knabenliebe der Griechen über die mittelalterliche Minne bis zur romantischen Liebe, die im Kern zuerst im Alten Rom entwickelt wird, und ihren Verfallstypen im Zeitalter des „emotionalen Kapitalismus“ (Eva Illouz). Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf die romantische Liebe in ihren entweder monogamen oder polyamoren Gestaltkomplexen. Die Gestaltung der Liebe im Sinne einer Art von Kunst oder als Vermögen unterscheide ich von einer Disziplinierung, die solche Spielräume der Gestaltung mittels schwerwiegender sozialer Sanktionen einschränkt.

Von der ergreifenden Liebe zur „Innenraumhypothese“

Der Prozess der Einhegung der Liebe findet eine wesentliche Grundlage in einigen Innovationen des griechischen Denkens und Fühlens, die der Philosoph Hermann Schmitz als die Etablierung der „Innenraumhypothese“ bezeichnet: Das ist die Annahme, dass Gefühle nicht als Atmosphären den Menschen umgreifen und ergreifen, sondern in ihm in einem Innenraum namens Seele wohnen.

Im Zuge dieser Innenraumhypothese wird die Außenwelt von Gefühlen entleert, auf Zähl- und Messbares reduziert und der Mensch auf einen seelischen Innenraum eingeschränkt. Der seelische Innenraum ist dabei paradox konzipiert: Er ist einerseits der Kern des Menschen, während sein Leib als unwichtig, weniger menschlich oder sogar als schmutzig gilt. Es entsteht also eine radikale Trennung zwischen Seele und Leib (Leib-Seele-Dualismus), und es ergeben sich in Folge daraus bestimmte philosophische und emotionale Probleme; hier auch wird die Grundlage dafür gelegt, Liebe und Sexualität streng zu trennen und die Sexualität in einen privaten Körper zu verlegen. Andererseits ist die Seele in dieser Vorstellung Sitz eines „steuernden Zentrums“, das die nun in der Seele verorteten Leidenschaften, darunter wesentlich die Liebe, lenken und zügeln soll.

Damit erst entsteht also die konzeptionelle Möglichkeit, das Individuum für die es umgreifenden Atmosphären verantwortlich zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen als schuldhaftes Subjekt.

Ob dieser erste Prozess der Einhegung ab dem 5. vorchristlichen Jahrhundert mit einer weiteren Patriarchalisierung der Gesellschaft einhergeht, ist eine spannende Frage. Der Sprachwissenschafter Harald Haarmann vermutet, dass sich in der frühen griechischen Antike noch viele soziale Elemente der ursprünglich frauenfreundlichen neolithischen Kultur des „Alten Europa“ (Marija Gimbutas) erhalten hatten.

Diese kulturellen Innovationen der griechischen Kultur werden vom frühen Christentum noch nicht durchgängig übernommen, die Sünde gilt hier noch nicht überall als individuelles Verschulden, sondern als fremde Macht.

Das Mittelalter war teilweise – wohl auch regionsspezifisch – von relativ großen Freizügigkeiten geprägt. Keinesfalls existiert in dieser Epoche die Vorstellung des Haushalts im heutigen Sinn. Ehe und Liebe wurden als unvereinbar betrachtet, manche von den Katharern beeinflusste Positionen gingen davon aus, dass eine Frau einen Liebhaber außerhalb der Ehe haben muss, wenn sie wirklich Liebe erfahren will (so Andreas Capellanus in „De Amore“). Sexualität wurde teilweise relativ ungezwungen auch außerhalb ehelicher Verbindungen gelebt. Der Historiker Hubertus Lutterbach argumentiert, dass die repressive Sexualmoral der Kirche, die sie erst relativ spät in dieser Periode durchsetzen konnte, nicht auf das Christentum selbst, sondern vielmehr auf rigide Sexualvorstellungen westeuropäischer vorchristlicher Kulturen zurückgeht, die darin Eingang gefunden haben.

Der Wert inniger Liebe

In der Epoche des entstehenden Kapitalismus war die weitergehende Einhegung der Liebe eine Vorbedingung zur fortschreitenden Unterdrückung der Frauen und der Etablierung der kapitalistischen Arbeitsdisziplin. Dabei wurde nicht direkt auf griechische Philosophie zurückgegriffen. Allerdings kann man das Denken und Fühlen der Neuzeit, das bis heute andauert, als eine Zuspitzung und restlose Verwirklichung der „Innenraumhypothese“ der Antike deuten. Die Seele ist heute durch das Bewusstsein ersetzt worden. Gefühle gelten als Eigentum, als etwas Privates.

Der bürgerliche Haushalt versucht dann, wie oben gesagt, drei an sich widersprüchliche Elemente zusammenzuführen: Die Wirtschaftsgemeinschaft, die auf Dauer ausgelegt sein muss; die Liebe als absolute emotionale Erfüllung mit und in einem einzigen Menschen; und die Sexualität als damit strikt gekoppelt.

Um diese Institution durchsetzen und legitimieren zu können, brauchte es die Vorarbeit der „Innenraumhypothese“. So erst wird das Überfließende der Liebe zum individuellen moralischen Defekt, zur Untreue und zum Seitensprung. Und es braucht die reale Zurichtung der Menschen zu sich selbst disziplinierenden Wesen, die ihre Gefühle kontrollieren oder zu unterdrücken versuchen, oder auch, wie Eva Illouz in „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ beschreibt, mit Hilfe psychologischer Kategorien objektivieren, standardisieren und so auf sanfte Art entwirklichen.
Soweit der historische Abriss. Wenn man die heutige Gesellschaftsstruktur betrachtet, kann man erkennen, dass sich in der monogamen Zweierbeziehung, die den Haushalt konstituieren soll, Logiken des Marktes widerspiegeln. Das gilt insbesondere für das Verständnis von Liebe. Es fällt ins Auge, dass Liebe zwar an sich als etwas Teilbares und durch Teilung Vermehrbares wahrgenommen wird; so nimmt man gemeinhin nicht an, dass die Elternliebe schwächer wird durch Vermehrung der Kinder oder die „platonische“ Liebe durch Vermehrung der Freunde. Doch gerade im Bereich der in der heutigen Gesellschaft einzig legitimen intimen Beziehung, „der Beziehung“ schlechthin, gilt das Gegenteil.

Die innige, leidenschaftliche Liebe ist nur dann etwas „wert“, wenn sie nur mir gilt. Damit ist sie vor allem negativ bestimmt, ähnlich wie das Privateigentum auch. Es zählt nicht vorrangig, was mir diese Liebe positiv entgegenbringt und dass sie mich als Individuum bestätigt, indem zwei Menschen eine nur ihnen eigene Geschichte entfalten. Zuerst einmal muss sie vielmehr ausschließlich sein.

Wie kann man das verstehen? Vielleicht über unsere Rolle im weiteren Zusammenhang von Marktwirtschaft, kapitalistischer Arbeitswelt und der von Konkurrenz geprägten Öffentlichkeit? Der Haushalt sollte ja der Hort der Intimität sein, der vor Konkurrenz und emotionaler Kälte geschützte Ort, wo Geborgenheit entstehen kann, das gefühlvoll Vertraute gelebt werden darf. Während das Individuum am Markt grundsätzlich ebenso wenig zählt wie in der Arbeitswelt, sollte es im Haushalt seine volle Bestätigung erhalten durch Verbindung mit der „einen, einzigen und wahren Liebe“, die eben nur ihm gilt und niemandem anderen gelten darf, um diese Vorstellung nicht zu gefährden.

Erosion der Monogamie

Damit ist nicht gesagt, dass monogame Zweierbeziehungen an sich diesen Logiken folgen müssen. Tatsächlich zeigt ein Blick auf statistische Untersuchungen, dass sich die Liebe und die Monogamie im Leben vieler Menschen nicht gut vertragen. Die durchschnittliche Dauer von Beziehungen ist deutlich gesunken, man spricht von „serieller Monogamie“. Im Schnitt haben 30-Jährige in unserer Kultur knapp vier solcher eigentlich als lebenslang und als „einzig wahre Liebe“ konzipierte Beziehungen hinter sich. Die Rede vom „Lebensabschnittspartner“ gibt wieder, welche Prozesse hier nicht zuletzt wirken.

Befragungen deuten zudem darauf hin, dass vielleicht die Hälfte aller dem Anschein nach monogamen Beziehungen eigentlich nicht monogam sind. Dabei kann man freilich nur das messen, was die Mononorm unter Seitensprung versteht, nicht die Ebene inniger Leidenschaft und tiefer Verbundenheit, die wohl auch des Öfteren aus der monogamen Zweierbeziehung hinaus- und auf so genannte Freundschaften übergreift. Dies gilt aber gemeinhin nicht als „Beziehung“ oder „Liebe“.

Man könnte vielleicht auch Pornographie, die laut Erhebungen von etwa einem Drittel der Erwachsenen konsumiert wird, knapp drei Viertel davon Männer, unter die Symptome der Brüchigkeit bisheriger Vorstellung von monogamer Zweierbeziehung einreihen. Sie überschreitet zwar nicht die Mononorm, weil sie einen privatistischen, allein das vereinzelte Individuum ansprechenden Charakter hat und zudem fiktional ist. Klar ist auch, dass sich Herrschaftsverhältnisse und normierte Sexualität darin ausdrücken – ebenso wie im „realen“ Sexleben. Die dabei angesprochenen und vermarkteten – also erneut eingehegten – sexuellen Bedürfnisse werden jedoch offenbar in der monogamen Form der Beziehung nicht gestillt.

Auf ähnliche Weise könnte man wohl die weite Verbreitung mononormativer Liebesfilme verstehen. Denn woraus sollte sich das starke Interesse für diese Darstellungen speisen, wenn nicht aus einer gewissen Unzulänglichkeit der realen mononormierten Liebesbeziehungen?
Es ist nicht verwunderlich, dass viele Menschen ihre Liebesbeziehungen angesichts dieser Realität wohl immer mehr als ein eher vertragliches Verhältnis erleben. Die nicht-eheliche Zweierbeziehung ist in dem Sinn eigentlich nur eine informelle Art von Ehe. Man definiert sich als monogam, weil es einfacher zu sein scheint, man muss nicht Beziehungsstile, gar Beziehungen mit weiteren Menschen besprechen und aushandeln, man erspart sich vielleicht auch Schwierigkeiten wie die Eifersucht. Die „wahre Liebe“ wird zur bloßen Partnerschaft und die Entzauberung der Welt, die schon von den antiken Griechen begonnen worden ist, erreicht ihren betrüblichen, unerfüllten Schlusspunkt.

Dennoch wird die monogame Zweierbeziehung im Gegensatz dazu auch mit überbordenden Ansprüchen aufgeladen, die sozusagen nur die Kehrseite der nüchternen Partnerschaft darstellen. Dann gilt sie quasi als einzige Erfüllung des Lebens überhaupt und muss sexuelle und tiefere emotionale Befriedigung perfekt und dauerhaft garantieren. Daran scheitert man wohl zwangsweise.

Polyamore Strömungen

Diese Veränderungen haben viel mit der Entwicklung des Kapitalismus zu tun. Während in den 1960er Jahren Arbeit und Freizeit, Haushalt und Betrieb, die Geschlechter, Politik und Privatheit rigide getrennt erschienen, kam es ab den 1970er Jahren zunehmend zu einer Verwischung dieser Grenzen. Daran waren wesentlich auch soziale Bewegungen beteiligt, die ein Leben mit mehr Entfaltungsmöglichkeiten und Kreativität anstrebten: zuerst die 1968er mit ihren Ausläufern bis zum Ende der 1970er Jahre, dann vor allem ab den 1980er Jahren auch queere und feministische Strömungen.

Während die Arbeitsverhältnisse entsprechend komplex, flüssig und entgrenzt wurden, veränderten sich die Beziehungsweisen in eine ähnliche Richtung. Der Haushalt als Wirtschaftsgemeinschaft hat nicht mehr die zentrale Rolle wie noch vor Jahrzehnten. Patchwork-families, WGs und Singles haben die Landschaft möglicher Haushaltsformen bereichert. Sexualität wird auch ideologisch nicht mehr notwendig auf Liebesbeziehungen eingeschränkt. Und es entstehen polyamore Strömungen.

Als polyamor bezeichnen sich Menschen, die eine verantwortungsvolle Nicht-Monogamie praktizieren oder praktizieren wollen. Im Unterschied zur „freien Liebe“ der 1960er Jahre betont Polyamorie den Stellenwert von Konsens, Verbindlichkeit und Solidarität. Formen des Swingens werden manchmal ebenfalls als polyamor bezeichnet, andere möchten sie gern davon ausschließen. Häufig wird mehr das Moment der Liebe gegenüber von Sexualität im engeren Sinn betont.

Ein wichtiges Anliegen der polyamoren Bewegungen, die in den letzten Jahren ansteigendes Medieninteresse erfahren – was eine wachsende Zahl von Publikationen widerspiegelt –, ist auch das Hinterfragen der strikten Grenzziehungen zwischen Liebe, Sex und Freundschaft. Es wird betont, dass Beziehungen ihre je eigene Form finden sollen, jenseits gesellschaftlicher Normen. Damit könnte möglicherweise auch die Liebe als eine den Menschen umgreifende Atmosphäre wieder mehr Spielraum erhalten. Vielleicht ist so auch ein Schritt gesetzt, die für die kapitalistische Arbeitsdisziplin so wichtige Einhegung der Gefühle, darunter der Liebe, etwas aufzuweichen und Formen intensiver Kollektivität zu entwickeln.
In der Tat ist der Übergang zwischen Liebe und Freundschaft, wenn man die meist von Männern gepflogenen „thematischen Freundschaften“ (Hermann Schmitz) im Sinn der Polit-, Tennis- und Studienfreunde einmal beiseite lässt, ein gradueller. Gerade dieser bloß graduelle Übergang macht im Sinne der monogamen Paarbeziehung einen Marker, eine Kodierung nötig, wenn Ausschließlichkeit der Liebe symbolisch gewährleistet sein soll. So wird der Sex erst durch die Monogamie zum Zeichen von dem, was Liebe heißt und Intimität. Denn wie es im Herzen zugeht, weiß man positivistisch nie so recht, wer mit wem ins Bett geht, eher.

In der Praxis entstehen durch diese Verschiebungen von Praktiken und Konzepten der intensiven geschlechtlichen Beziehung vielfältige Liebesverhältnisse, die man nicht mehr so einfach beschreiben kann wie die monogame Zweierbeziehung. Während in dieser das Entweder-Oder- Prinzip gilt, eine Null-Eins-Logik, entwickeln polyamore Beziehungen mehr eine inklusive Struktur, ein Sowohl-als-Auch. Das Entweder-Oder-Prinzip der Monogamie gilt nicht nur zwischen „der einen Liebe“ und den „Freundschaften“, sondern auch zu vergangenen „Beziehungen“ hin, die folglich in der Regel aus den engeren Kontakten gestrichen werden. Die monogame Familie organisiert sich in einer von polyamoren Strukturen sehr verschiedenen Weise.

Für viele der neuen Formen von Verbundenheit fehlen die Begriffe, weshalb manche polyamore Menschen ihre Beziehungen zum Beispiel mit Buchstaben symbolisieren. Auch die Gefühle ändern sich, sodass es auch hier zu Wortneuschöpfungen kommt. „Frubbelig“ soll zum Beispiel die Mitfreude bezeichnen, die ein Mensch empfinden kann, wenn die Liebespartnerin oder der Liebespartner einen weiteren Menschen liebt.
Eifersucht wird mitunter als willkommene Gelegenheit aufgefasst, mehr über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Jedenfalls wird dazu ermuntert, Eifersucht genauer in Augenschein zu nehmen, um sich nicht ihren potenziell destruktiven Auswirkungen auszuliefern. Tatsächlich kann man Eifersucht in recht verschiedene Gefühle zerlegen. Eine Komponente hat mit der Sehnsucht zu tun, als Individuum bestätigt zu werden, und zwar auf eine Weise, wie sie die Marktwirtschaft hervorbringt: dass nämlich jemand ausschließlich mit mir bestimmte Dinge tut, „intim ist“ oder nur mir gegenüber bestimmte Gefühle hegt. Wo diese Sehnsucht sich bedroht meint, also eine spezifische Form von Verlustangst auftritt, entsteht Eifersucht. Andere Formen der Eifersucht sind dagegen eher ein Ausdruck von Neid, etwa auf größere Freiheit des geliebten Menschen. Der Neid kann aus verdrängten Wünschen entspringen, die auch gelebt und geliebt werden wollen. Oder auf einen Mangel an Aufmerksamkeit seitens des Partners oder der Partnerin reagieren.  Je nach Färbung der Eifersucht ist eine andere Umgangsweise damit angezeigt.

Für polyamore Beziehungen sind, so wird allenthalben in der Literatur dazu betont, Konsens, Verbindlichkeit und ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit sowie Bereitschaft, sich mit sich und den Geliebten auseinanderzusetzen, grundlegende Voraussetzungen. Diese entstehen freilich auch erst durch das polyvalente Lieben, das, wie Karoline Boehm beschreibt, dementsprechend immer auch ein „Poly-Werden“ darstellt und keinen fixen Endpunkt markiert.

Die Erfahrungen polyamor lebender Menschen zeigen, dass sich Familienstrukturen, aber auch die Struktur von Freundschaftsnetzen und eben Liebesverhältnissen sowie die Formen der Sexualität sehr stark verändern können. Es können sich etwa dauerhafte Dreier- oder Viererbeziehungen, die dann auch gemeinsame Sorge für Kinder übernehmen, ebenso entwickeln wie weitläufige sexuelle Netzwerke, die wie „tribes“ wirken, die Grenzen zwischen „Familie“ und „Freundschaft“ verwischen und also auch die Art der Sorge um Kinder grundlegend verändern können.

Polyamorie und Kapitalismus

Am Ende dieses kleinen Rundgangs durch die Geschichte der Einhegung der Liebe und der Versuche, ihr wieder mehr Spielraum zuzugestehen – auf eine Art, die sich sicherlich von den alten, vor-patriarchalen Formen unterscheidet – stellt sich die Frage, was man davon halten soll. Ich würde meinen, dass sich eine Veränderung hin zu mehr Schenken, Teilen und Beitragen im Alltag von Menschen wohl auch auf die Liebesverhältnisse auswirken würde und damit auch auf die Frage, was Freundschaft und was Familie ist.

Man kann sogar die Frage stellen, ob die Festigkeit des Privateigentums sozusagen der Antithese zu Schenken, Teilen und Beitragen, nicht auch der Sozialisation in eben den monogamen Zweierbeziehungen und der damit verbundenen Art von Haushalt geschuldet ist, die ja eigentlich nur die Kehrseite der Marktwirtschaft bilden und historisch auch immer so definiert worden sind: nie als Alternative zum Kapitalismus, sondern nur als parzieller Rückzugsraum davon und immanentes Gegengewicht dazu.
Zuspitzen lässt sich dies zur These, dass polyamore Liebesverhältnisse mit dem Kapitalismus tendenziell unverträglich sind und einen Beitrag zu seiner Überwindung darstellen, aus vier Gründen.

Erstens: Polyamorie kann nicht auf der Basis von Konkurrenz, Eigentumsdenken und Tauschlogik funktionieren.
Zweitens: Polyamorie kann im Gegenteil wesentlich nur auf der Grundlage von Mitfreude und der Förderung der Entfaltung jedes Einzelnen gedeihen, auf der Basis von Konsens, Verbindlichkeit, Solidarität, Verantwortlichkeit.
Drittens: Polyamorie erlaubt keine Kompensation von Versagungserfahrungen der Warengesellschaft innerhalb der Formen dieser Gesellschaft, also durch privateigentümliche, ausschließende Beziehungen; stattdessen entstehen intime Netzwerke.
Viertens: Polyamorie impliziert die Enthegung von Gefühlen und verändert damit tendenziell die disziplinierte und konsumifizierte Gefühlskultur des Kapitalismus.

Die Wohnformen zu verändern, hat, glaube ich, nicht so weitreichende Folgen wie die Veränderung der Liebesverhältnisse. Vielleicht ist die Frage der Wohnform sogar eher zweitrangig, wenn man es nicht von den je individuellen Bedürfnissen her betrachtet, sondern von der Perspektive gesellschaftlicher Transformation aus. Eine Kommune kann sehr rigide und repressiv sein, man denke bloß an die Otto-Mühl-Kommune.

Klassische bürgerliche Wohnformen dagegen können mit einem weiten Netzwerk sexueller Freundschaften einhergehen oder einer langfristigen Dreierbeziehung Raum bieten.

Allerdings stellt sich perspektivisch unter polyamoren Gesichtspunkten durchaus die Frage neuer nicht auf Blutsverwandtschaft beruhender Formen der Gemeinschaftlichkeit, die Geborgenheit herstellen; nicht nur, aber vor allem auch in Hinblick auf die Sorge um die Kinder. Deren emotionale Sicherheit darf nicht durch die möglichen Wechselfälle der leidenschaftlichen Liebe aufs Spiel gesetzt werden. Dabei kommt aus der polyamoren Dynamik heraus auch alternativen Wohnformen potenziell eine wichtige Rolle zu.

Das alles bedeutet übrigens nicht, dass Polyamorie schon „die“ Alternative darstellt. In der Praxis ist sie zum Beispiel ziemlich exklusiv und vor allem unter weißen Menschen mit hohem Bildungsgrad und halbwegs befriedigenden Arbeitsverhältnissen konzentriert (auch wenn manche empirische Untersuchungen das zu relativieren scheinen). Dennoch illustriert dieser Ist-Zustand, dass offenbar Menschen mit relativ hoher ökonomischer Sicherheit und Befriedigung in der Arbeit dann auch eher den – oft nur scheinbaren – Schutzraum der Monogamie in Frage stellen und sowohl die Lust auf als auch die Möglichkeit für Neues haben.

Wichtig ist dabei immer auch zu betonen, dass polyamore Menschen nicht per se „emanzipatorischer“ sind als monogam lebende, obgleich sich ein Teil durchaus als politisch und emanzipatorisch versteht, wie das ja auch für monogam lebende Menschen oder für queere Aktivist_innen und für einen Teil schwuler, lesbischer, trans-, inter- und pansexueller Menschen gilt. Liebesweisen sind nicht eine Frage bloßen Willens, sie sind immer auch gesellschaftlich bestimmt, wie gerade die soziale Exklusivität der real-existierenden Polyamorie illustriert. Freilich ergibt sich eine Alternative auch in den Liebesverhältnissen nicht „wie von selbst“. So betrachtet macht es Sinn, ist vielleicht sogar sehr wichtig, sich nicht zuletzt Gedanken über die eigenen Liebeserfahrungen zu machen, über die Art, wie Liebe konzipiert und gelebt wird.

Und um einem letzten möglichen Missverständnis vorzubeugen: Aus dieser Sichtweise ergibt sich, dass es darum geht, Liebesnormen überhaupt aufzulösen. Polyamorie ist daher keine neue Norm, sondern nur möglicher Begriff für eine Entnormierung. Dabei muss man zwischen der individuellen Ebene unterscheiden, wo Menschen entweder polyamor leben oder nicht, und der Ebene der gesellschaftlichen Perspektive, die Vielfalt ins Zentrum stellen sollte. Auf dieser zweiten Ebene ist Polyamorie nur ein mögliches Wort für eine gleichberechtigte Vielfalt an Liebesverhältnissen, von zölibatär, monogam bis individuell polyamor, von hetero-, bi- und homo- bis asexuell.
~

*Vortrag beim Symposium „Schenken, Teilen und Beitragen“ in Wien, Dezember 2013

Ich danke allen, die mir kritisches Feedback auf frühere Fassungen dieser Überlegungen gegeben haben: Lorenz, Dieter, Markus, Fuzzi, Friederike, Niko, Franz, Uli, Georg und Iris. Besonders danke ich Isabelle, Su und Utta. Ohne Iris Frey hätte ich den Einstieg in die relevante Literatur nicht gefunden.

Zitierte Literatur
Karoline Boehm (2012): „Praktiken der Polyamorie. Über offene Beziehungen, intime Netzwerke und den Wandel emotionaler Stile“, Veröff. Europäische Ethnologie, Uni Wien.
Marija Gimbutas (1991): „The Civilization of the Godess: The World of Old Europe“, Harper.
Harald Haarmann (2012): „Das Rätsel der Donauzivilisation. Die Entdeckung der ältesten Hochkultur Europas“, C.H. Beck.
Eva Illouz (2006): „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004“, Suhrkamp.
Hubertus Lutterbach (1999): „Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts“, Böhlau-Verlag.
Hermann Schmitz (1992): „Leib und Seele in der abendländischen Philosophie“, a.a.O.
H. Schmitz (1992): „Sexus und Eros bei Ludwig Klages“. In: Hermann Gausebeck und Gerhard Risch, Hg.: „Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik“, Junfermann.
H. Schmitz (1993): „Die Liebe“, Bouvier.
Zu Andreas Capellanus siehe Thomas Schroedter und Christina Vetter (2010): „Polyamory. Eine Erinnerung“, Schmetterling-Verlag.