Im Inneren des Wals

von Peter Klein

Der Konsens, der für das reibungslose Funktionieren des kapitalistischen Systems erforderlich ist, stellt sich bekanntlich hinter dem Rücken der Beteiligten her. Indem sie die vormodernen Bindungen an die Religion, den Stand, das lokale Brauchtum und Herkommen, schließlich auch die Geschlechterrolle eine nach der anderen abstreifen und das Selbstverständnis von vereinzelten Individuen entwickeln, vergesellschaften sich die Menschen der Moderne in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß. Vergesellschaftung ohne einen sei es auch unausgesprochenen oder unbewussten Konsens geht aber nicht. „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“, so lautet der häufig zitierte Satz, mit dem Marx auf die kapitalistische Vergesellschaftung als auf einen blind wuchernden Prozess hinweist.

Die Blindheit des Prozesses hindert die Beteiligten aber natürlich nicht am Denken und Planen. Das Nicht-Wissen gibt sich keineswegs in einem betretenen Schweigen zu erkennen. Im Gegenteil. Der intellektuelle Pol der Gesellschaft, zuständig für die Erzeugung der konsensstiftenden Begriffe und Schlagworte, hat den Vergesellschaftungsprozess seit jeher mit seinen Kommentaren begleitet. Wenn man die Wortmeldungen der Literaten und Philosophen nicht am Anspruch ewiger Wahrheit misst, sondern als Zeitdokumente betrachtet, liefern sie uns bisweilen Hinweise und Informationen, die über die verschiedenen Etappen der kapitalistischen Vergesellschaftung mehr aussagen als etwa die statistischen Daten, zum Beispiel über die jährliche Stahlproduktion, mit denen uns die Ökonomen und Soziologen über den sogenannten Fortschritt in Kenntnis setzen.

Ein nonkonformistisches „Ja zum Leben“

Als hervorragendes Beispiel für ein solches Dokument betrachte ich einen Essay von George Orwell zur englischsprachigen Literatur seiner Zeit. Der Essay mit dem Titel „Im Innern des Wals“ ist 1940 erschienen, also in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs, und er berichtet von einer literarischen Entdeckung, die Orwell gemacht hat: von Henry Miller, einem Autor, der Orwells Einschätzung zufolge in krassem Gegensatz zu den Zeitläuften steht. Die beiden Bücher, auf die sich Orwell bezieht, Wendekreis des Krebses von 1935 und Schwarzer Frühling aus dem Jahre 1936, gehören, so Orwell, zu denen, „die einen Nachhall hinterlassen“ (S. 90 – Alle Seitenangaben nach: George Orwell, Im Innern des Wals – Ausgewählte Essays I, S. 87 ff.). Wendekreis des Krebses bezeichnet er sogar als „ein vollkommenes Werk. … Selbst wenn einzelne Stellen einen anwidern, es bleibt einem im Gedächtnis haften.“ (S. 136) Bei dem Versuch, sich diese nachhaltige Wirkung zu erklären, kommt Orwell immer wieder auf die Atmosphäre der Alltäglichkeit zu sprechen, die Millers Figuren ausstrahlen. „Seine Figuren sind nicht nur glaubhaft, sie sind vertraut, man hat das Gefühl, dass man alle ihre Abenteuer selbst erlebt hat.“ (S. 91) Obwohl das Milieu, in dem sich diese Figuren bewegen, keineswegs das der normalen Bürger ist – es ist eine schräge Szene von amerikanischen Bohemiens und Möchte-Gern-Künstlern, die sich im Paris der Weltwirtschaftskrise mit Gelegenheitsjobs und kleinen Gaunereien durchs Leben schlagen –, kommt Orwell zu dem Schluss, dass es Miller gelingt, dem einfachen „Mann auf der Straße“ eine Stimme zu geben. Es gelinge ihm weit besser „als den meisten engagierten Schreibern“ jener Zeit (S. 98).

Das liegt zum einen an der Sprache: „Die Wahrheit ist nämlich, dass viele durchschnittliche Menschen, vielleicht sogar die Mehrheit, genauso sprechen und sich in derselben Weise benehmen“, wie es hier aufgezeichnet ist (S. 92). Zum andern aber an der von Miller durchgängig eingenommenen Haltung, die Orwell als eine Haltung des Bejahens bezeichnet: „Nach Jahren eines Lebens als Lumpen-Proletarier, Jahren des Hungers, des Herumtreibens, des Schmutzes, der Misserfolge, der Nächte im Freien, der Streitigkeiten mit Einwanderungsbehörden, endloser Kämpfe um ein bisschen Geld findet Miller, dass er mit sich glücklich ist.“ (S. 95)

Und diese „Feier des Lebens“ ist, so könnte man sagen, die eigentliche Obszönität, die Orwell hinter der sexuellen Freizügigkeit Millers ausfindig macht. Denn sie funktioniert nur, indem Miller sich keinen Deut um die großen Zeitereignisse schert. Zur Zeit Walt Whitmans, eines Geistesverwandten Millers in der Mitte des 19. Jahrhunderts, befand sich die bürgerliche Gesellschaft in ihrer aufsteigenden, expansiven Phase. Whitmans optimistische Sicht auf das „Leben“ befand sich, so Orwell, im Einklang mit den Zeitläuften, seine Gedichte waren ein angemessener Ausdruck des Zeitgeistes. Wenn einer aber in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Ja zum Leben sagt, „ was bejaht er (dann) eigentlich?“ Nicht jene von Walt Whitman besungene Zeit des Aufbruchs und der Freiheit, in der die kleinen Leute der amerikanischen Nordstaaten gegen die aristokratischen Sklavenhalter der Südstaaten beherzt in den Krieg zogen, „sondern die Ära der Furcht, der Tyrannei und der Verordnung. Wenn ich in einer Zeit wie der unseren zum Leben ,Ja‘ sage, ist dies ein ‚Ja’ zu Konzentrationslagern, Gummiknüppeln, zu Hitler und Stalin, Bomben, Flugzeugen, Konserven, Maschinengewehren, Putschen, Säuberungen, Slogans, … geheimen Gefängnissen, Aspirin, Hollywood-Filmen und politischen Morden“ (S. 97).

Mit dieser Passage, so könnte man meinen, ist Miller bereits gerichtet. Wer das klassische Links-Rechts-Schema im Kopf hat, weiß sofort, was er von jemandem zu halten hat, der politisch keine Stellung bezieht und sich bloß um seine eigene höchstpersönliche Befindlichkeit kümmert. So einfach aber kann es sich Orwell, ein früher Vertreter der Totalitarismus-These, nicht machen. Für ihn funktioniert das Links-Rechts-Schema, wie schon die Erwähnung Stalins in einem Atemzug mit Hitler zeigt, nicht mehr. Nach seiner Beobachtung besitzt die kommunistische Bewegung in Westeuropa keine eigene Substanz in der Stimmungslage der Massen, sie ist vielmehr zum Instrument der russischen Außenpolitik verkommen. Um dies zu kaschieren, müssen die Parteiblätter bei jedem Schwenk dieser Außenpolitik groteske Verrenkungen vollführen, um daraus eine schöpferische Anwendung des Marxismus zu machen. Winston Churchill, zuvor ein verhasster Imperialist, war von 1935 ab, als der Anti-Faschismus und die Volksfront zur „richtigen Linie“ erklärt wurden, der „blauäugige Knabe des Daily Worker“ (S. 118). Die kommunistische Linke ist für Orwell zu einem Synonym für ideologische Verklemmtheit und Unaufrichtigkeit verkommen. Vom neuerlichen Schwenk zum Hitler-Stalin-Pakt (August 1939), der wiederum den Anti-Faschismus von einem Tag zum andern von der Bildfläche verschwinden ließ, konnte er sich in dieser Einschätzung nur bestätigt fühlen. „Fortschritt und Reaktion“, so resümiert er die politischen Strömungen seiner Zeit, „haben sich beide als Schwindel herausgestellt“ (S. 135).

Auf diesen „Schwindel“ aber hatten sich die jungen Literaten, die seit Anfang der 30er Jahre in England tonangebend geworden waren (Orwell nennt unter anderem die Namen von Auden, Spender, MacNeice), eingelassen. Nachdem die Vorgängergeneration der Eliot und Joyce sich in erster Linie durch ihr Künstlertum definiert hatte und zur modernen Gesellschaft mit ihrer vulgären Geschäftigkeit insgesamt auf Distanz gegangen war, legten die Jungen Wert darauf, in dieser Gesellschaft Stellung zu beziehen. „Mit anderen Worten, es gibt wieder ein Ziel, die jüngeren Schriftsteller sind in die Politik‘ gegangen.“ (S. 113) Insbesondere der Marxismus als Universalerklärungsschlüssel für alle Lebensbereiche war zur intellektuellen Mode geworden. Das politische Besserwissertum indes, wie es sich etwa in den Büchern zum Spanischen Bürgerkrieg aufspreizte, ebnete den linken Schriftstellern keineswegs den Weg zu den Massen, dafür schadete es der literarischen Qualität ihrer Produkte (S. 98). „Die Atmosphäre einer Ideologie ist für die Prosa immer verderblich. … Gute Romane stammen nicht aus der Feder von Gesinnungsschnüfflern oder Leuten, die fortwährend in der Angst leben, nicht linientreu zu sein.“ (S. 124 f.)

Vor diesem Hintergrund wirkt Millers Alltäglichkeit, „unbefleckt von jeder Sorge um das Gemeinwohl“ (S. 134), auf Orwell geradezu erfrischend. „Es ist, als hörte man eine Stimme, die zu einem spricht, eine freundliche, amerikanische Stimme, ohne zu faseln, ohne zu moralisieren, in der Annahme, dass wir alle gleich sind. Einen Augenblick ist man allen Lügen und Versimpelungen … entronnen und hat mit vertrauten Erlebnissen menschlicher Wesen zu tun.“ (S. 91) Die öffentliche Sphäre ist erfüllt vom Dröhnen der politischen Parolen, aber nichts davon dringt durch zum Alltag der Millerschen Figuren. Er lässt das Weltgeschehen Weltgeschehen sein und geht ins Bistro nebenan, weil es dort eine warme Mahlzeit gibt, die er sich leisten kann. Wie der biblische Jonas befindet sich Miller gleichsam „im Innern des Wals“, wo er, umgeben von „einer dicken Speckschicht“, von den politischen Stürmen der Zeit „kaum ein Säuseln“ vernimmt (S. 128). Es ist dieser absichtsvoll eingenommene Jonas-Standpunkt, „ein Zustand endgültiger, unüberbietbarer Verantwortungslosigkeit“, auf den Millers ‚Ja’ zum Leben hinausläuft. Orwell hält diese Abkehr vom geltenden literarischen Verhaltenskodex, wonach „Bücher immer eine positive Aussage enthalten, ernstgemeint und ,konstruktiv‘ sein müssen“ (S. 129), für berechtigt, weil sie mit einer „Aufrichtigkeit des Gefühls“ vorgetragen wird, „mit einem Feingefühl für Charaktere und einer technischen Meisterschaft“ (S. 91), die er bei den weltanschaulich „anspruchsvollen“ Romanen jener Zeit vermisst. Gerade mit seiner „Abkehr vom zoon politikon“, mit der Hinwendung „zum Standpunkt eines Mannes, der davon überzeugt ist, dass sich die globale Entwicklung seiner Kontrolle entzieht, und der auch kaum den Wunsch hat, sie zu kontrollieren“ (S. 99), gibt er dem „einfachen, nicht-politischen, nicht-moralischen, passiven Menschen“ eine Stimme.

Im Innern des Wals

Wenn es stimmt, dass Miller sich mit dieser politisch passiven Haltung an der Seite der Mehrheit befindet, dass er ein realistisches Bild von der im Alltagsleben verbreiteten Stimmung malt, dann kann man in ihm auch den Repräsentanten eines gesellschaftlichen Konsenses sehen. Eines unausgesprochenen Konsenses, muss man sagen, denn er propagiert seine Haltung ja nicht, ebensowenig wie es der Alltagsmensch tut, er praktiziert sie einfach. Die großen historischen Perspektiven und Konzepte gehen ihn schlicht nichts an, sie kommen in seinen Texten nicht vor. Er kümmert sich beim „Sich-Betrinken, Schwatzen, Nachdenken und Koitieren“ (S. 91) nicht um die Weltgeschichte, er kehrt den politischen Glaubensbekenntnissen den Rücken – und er tut dies durchaus bewusst, wie Orwell, der ihn 1936 persönlich kennenlernte, betont.

Wenige Jahre und einige zig Millionen Tote später war diese Abkehr, wie allgemein bekannt, auch in Deutschland angekommen und überhaupt in allen europäischen Ländern, die sich in den dreißiger Jahren noch im Zustand der ideologischen Erregung befunden hatten. Ein mentaler Umschwung, der von den Nachkriegs-Soziologen und -Politologen gleichsam offiziell beglaubigt wurde, indem sie Bücher schrieben über die „skeptische Generation“ und das „Zeitalter der Ideologien“, das jetzt zu Ende gegangen sei. Zieht man des Weiteren in Betracht, dass Henry Miller erst in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wirklich populär und zum fleißig übersetzten Bestsellerautor wurde, dann liegt der Gedanke nicht fern, dass er, der von geschichtlicher Sendung und Verantwortung nichts wissen wollte, eben mit dieser Haltung selbst so etwas markiert wie eine historische Wende, eine Änderung der historischen Großwetterlage. Dass sich mit ihm gleichsam das erste Zwitschern einer „neuen Zeit“ vernehmen lässt. Schon Orwell empfand dieses Neue. Auch er meint, dass mit Miller eine „neue literarische ,Schule‘“ beginnen könnte (S. 125), dass er eine „symptomatische Bedeutung“ besitzt (S. 137). Freilich ist er sich – im Jahre 1940 – nicht sicher, worin diese besteht.

Heute, wo die Demokratie allerorten auf Sympathie stößt, die Wahlbeteiligung gleichwohl sinkt, politische Passivität also Trumpf ist, sollte es uns leichter fallen, Miller in den großen historischen Trend einzuordnen. Offensichtlich geht mit ihm jenes mit der Französischen Revolution beginnende Zeitalter zu Ende, in dem die politische Sphäre den Menschen noch innige Glaubenserlebnisse verschaffen konnte, in dem es einen politischen Sinn gab, für den zu leben und zu sterben sich lohnte. Damit war die Politik aber natürlich nicht an ihrem Ende angelangt. Sie war vielmehr dabei, allgegenwärtig und zum gesellschaftlichen Normalzustand zu werden. Der moderne Alltagsmensch ist gleichsam auf allen Seiten von Politik umgeben, in allen Lebensbereichen trifft er auf die Gesetze und Verordnungen des Staates, sein ganzes Leben wird davon bestimmt. Die Falle ist zugeschnappt, scheint uns Miller zu sagen, es hat keinen Sinn mehr zu zappeln, sehen wir zu, wieviel Bewegungsspielraum uns bleibt. Auch diese Bedeutung wird mit dem Bild vom „Innern des Wals“ transportiert. Und die Beschränkung Millers auf Ereignisse, die sich im engen Umkreis der primären Körperfunktionen abspielen, tut ein Übriges, um dieses Bild stimmig erscheinen zu lassen. Der Raum, der abseits der vorgefertigten Laufbahnen und Verhaltensmuster für das sogenannte authentische Erleben zur Verfügung steht, wird immer enger.

Orwell hat sicher Recht, wenn er mit Miller eine „individualistische Einstellung“ zurückkehren sieht (S. 125). Aber der Indvidualismus, der sich hier zurückmeldet, ist auf einem weitaus höheren Vergesellschaftungsniveau angesiedelt, als derjenige, der im 19. Jahrhundert die großen psychologischen Romane hervorbrachte. Der „Kapitalismus“ war seinerzeit eine gesellschaftliche Gruppe unter anderen. Die verschiedenen Mentalitäten, Lebensperspektiven und politischen Konzepte, die sich dem gesellschaftlichen Sein von Adel, Bourgeoisie und Proletariat zurechnen ließen, besaßen eine je eigene Substanz, sie waren durch Abgründe voneinander getrennt, und die nächste Zukunft sah bis etwa in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein eher nach Bürgerkrieg als nach Weltkrieg aus. Orwells „einfacher Mensch“ ist das Produkt einer späteren Zeit – einer Zeit, in der sich der Kapitalismus, angewachsen zu großen industriellen Aggregaten, über die ganze Welt verbreitet hatte. Die verschiedenen Stände und Klassen der Gesellschaft verloren den Schein, selbständig für sich etwas zu sein. Sie wurden zu bloßen Funktionskategorien, deren Koordinierung und Abstimmung aufeinander eine einheitliche gesellschaftliche Struktur erforderlich machte. Einheit des Rechts, Einheit der moralischen Wertvorstellungen, Einheit der Mentalität: Der demokratische „Staat des ganzen Volkes“ trat auf den Plan – und mit ihm jene Vereinheitlichungsideologien, die zunächst noch an den Grenzen der jeweiligen Nation haltmachten. Nach zwei Weltkriegen waren auch diese Grenzen überschritten, und die Menschen sind heute frei, sich an der Konkurrenz um die Ausübung jeder beliebigen der ökonomischen oder administrativen Funktionen zu beteiligen. Bei aller Beweglichkeit und Durchlässigkeit der modernen Gesellschaft bleiben sie aber doch immer innen: im Rahmen jener vom Kapitalismus vorgegebenen Logik, die ihre Nützlichkeit daran misst, ob das Geld, mit dem sie bezahlt werden, in irgendeiner Weise dem Wachstum der weltweit zirkulierenden Geldsummen zugute kommt. Ohne Geld, das auf mehr Geld abzielt, läuft gar nichts.

Der Totalitarismus der „individualistischen Einstellung“

In dieser Allgegenwart der Verwertungslogik scheint mir der eigentliche Totalitarismus unserer Zeit zu bestehen, und Miller dürfte einer der ersten Autoren sein, der diesen Vergesellschaftungszustand literarisch gleichsam ratifiziert. Für ihn, den Amerikaner, stellt er bereits in den dreißiger Jahren eine Selbstverständlichkeit dar. Er muss davon kein Aufheben mehr machen. Die ideologischen Blüten, die der Übergang von der ständischen Gesellschaft zur Massengesellschaft in Europa hervortrieb, besitzen jedenfalls keinerlei Reiz für ihn. So pervers es auf der einen (Stalinschen) Seite des politischen Spektrums ist, ausgerechnet die Implementierung der Lohnarbeit als antikapitalistische Tat zu preisen, so absurd ist es auf der anderen (Hitlerschen), die banale Tatsache eines gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs zum Fetisch einer hysterisch beschworenen „Volksgemeinschaft“ aufzublasen, die um ihr nacktes biologisches Überleben kämpft. Hier gibt es nichts zu wählen. Hitler und Stalin bereiten den Konsens, der später einmal „westliche Demokratie“ heißen sollte, negativ vor. Das System, nachdem es uns einmal verschluckt hat, bereitet uns weniger Beschwerden ohne diese ideologischen Verrenkungen. Das etwa ist die Einsicht, von der Millers Figuren erleuchtet sind. Sie haben von dieser Einsicht keine Ahnung, aber sie praktizieren sie.

Orwells Schwierigkeit bei der Einschätzung Millers rührt daher, dass er das Zeitalter des Totalitarismus, das er heraufziehen sieht, nicht mit Millers „individualistischer Einstellung“ zusammendenken kann. Die „totalitären Diktaturen“, die er 1940 vor Augen hat, machen es schwer vorstellbar, dass ausgerechnet Autoren wie Miller die literarische Zukunft gehören sollte. Daher die Frage, ob es sich bei ihm nicht lediglich um den versprengten Nachzügler einer vergangenen Epoche handelt, der Epoche „des laissez-faire -Kapitalismus und der liberal-christlichen Kultur“ (S. 134) – kurz bevor die „Literatur des Totalitarismus“ die Bühne betritt. Heute dagegen, fast achtzig Jahre später, darf man wohl mit einiger Berechtigung sagen, dass es gerade der Totalitarismus ist, der sich mit Miller literarisch bemerkbar macht. Und zwar handelt es sich hier um den eigentlichen oder wirklichen Totalitarismus, der es, anders als seine unentwickelten Vorgänger, nicht mehr nötig hat, politische Bekenntnisse einzufordern. Vom totalen Herrschen eines bestimmten gesellschaftlichen Systems kann man ja im Ernst erst sprechen, wenn der Streit für oder gegen aufgehört hat, wenn es, allseits als objektive Gegebenheit akzeptiert, automatisch funktioniert, sodass es auf das jeweils regierende Personal nicht mehr ankommt. Orwell schreibt, dass „die Literatur des Totalitarismus … noch nicht in Erscheinung getreten und kaum vorstellbar“ sei (S. 135). Aber ein solches ausdrückliches „In-Erscheinung-Treten“ darf man vom modernen Totalitarismus eben nicht erwarten. Wenn es nur noch einen einzigen politischen Glauben gibt, wie es bei der modernen Demokratie der Fall ist, kann er als solcher keine Rolle mehr spielen. Wenn alle Menschen, entblößt von den sozialen Attributen der Vormoderne, sich in der gleichen gesellschaftlichen Form des freien Marktteilnehmers befinden, wird diese Form zum bloßen Hintergrundrauschen, das als solches keine Beachtung mehr findet.

Die weitgehend gelungene Gleichschaltung der Menschen, für die politische Kontroversen keine Rolle mehr spielen, macht sicher einen Großteil des Erfolges aus, den man dem „westlichen Gesellschaftsmodell“ attestiert hat. Aber der gigantische Vernichtungsfeldzug gegen die natürlichen Grundlagen unseres Lebens, als welcher sich dieser Erfolg inzwischen entpuppt hat, geht ebenso auf das Konto der gleichgeschalteten Gesellschaft. Das Achselzucken, mit dem sich Miller von den politischen Glaubenskämpfen der dreißiger Jahre abkehrte, mochte seinerzeit imposant, kühn und hoch berechtigt erscheinen; die Sache selbst, der Vergesellschaftungsprozess, der im Windschatten dieser Kämpfe vonstatten ging, verdient dieses Achselzucken keineswegs.

Die modernen Produktivkräfte werden heute in einem gesellschaftlichen Zusammenhang betrieben, der die ganze Welt umfasst – aber von Menschen, die rechtlich und mental eingebannt sind in die Form des vereinzelten, autonomen, selbstverantwortlichen etc. Individuums. Eine katastrophenträchtige Situation, die der „individualistischen Einstellung“ Millers den Charme des Nonkonformismus genommen hat. Sie ist der Konformismus unserer Zeit: die nächste ideologische Klippe, die wir auf dem Weg in die Wirklichkeit zu überwinden haben.