Vielleicht besser?

von Friederike Habermann

Gegenseitig ausrotten“ lautet das Betreff der Mail von meiner Freundin Edith. Ohne weiteren Kommentar schickt sie mir den Link zu einem Artikel mit der Überschrift „Jäger erschießt Jäger“: Ersterer hatte ein Wildtier erlegt und Zweiterem bedeutet, er möge das Auto holen – dieser tat es, näherte sich anschließend wieder zu Fuß dem toten Tier, und wurde dabei von dem vermutlich noch Erregten für das nächste Großwild gehalten und ebenfalls erledigt.

Seit letztem Herbst bekomme ich immer wieder solche Geschichten – leider trifft es aber nicht immer Jäger: mal nur als Schreck, wie die Familie, die gerade an der gedeckten Kaffeetafel saß (Thüringer Allgemeine, 1.2.2013), mal als Kopfschuss bei der Gartenarbeit (nordbayern.de, 17.9.2012). Oder es sitzt wer im Wagen, freut sich womöglich gerade über die sinkende statistische Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, als sich ein tödlicher Querschläger durch den Kopf bohrt (thelocal.fr, 28.1.2013). Oder liegt im Bett – hier wahrscheinlich nicht mit Tötungsstatistiken beschäftigt; und tatsächlich ging in diesem konkreten Fall die Kugel um zehn Zentimeter daneben (Kleine Zeitung, 6.11.2012). Allerdings könnte wer in diesem Falle „zu achtzig Prozent“ selbst schuld sein, so wie jener Schweizer mit einem Abfallsack, denn, so der Jäger, dieser machte ein Geräusch „wie ein nach Luft schnappendes Wildschwein“ (BLICK, 6./7.10.2012). Ob vor oder nach dem tödlichen Treffer, ist nicht überliefert.

Doch offen gestanden ist es nicht die Frage, ob jemand durch sein Auto oder anderweitig umgebracht wird, weshalb Edith mir solches zukommen lässt. Grund sind jene Toten und Verletzten, die keine Meldung wert sind. Weil sie – so definiert es das Tier Mensch – als Tiere gelten. Trifft es dann die Mörder selbst, löst dies offensichtlich sowohl bei Edith als auch mir ein Gefühl aus, das schon mal als ,klammheimliche Freude‘ bezeichnet worden ist.

Denn im Herbst im Jahre zuvor hielt ich mich anlässlich eines Seminars zu „Gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ in einer zu einem Tagungshaus umgebauten Wassermühle in einem Wald unweit von Berlin auf. Noch auf Ankommende wartend machte ich vormittags einen Spaziergang – doch weit kam ich nicht. Keine 100 Meter hinterm Haus stieß ich auf ein Reh, das sich in einen neben dem Weg verlaufenden Bach gekauert hatte, während ein Dackel das Tier von hinten zu attackieren wollen schien; es gelang mir, diesen abzurufen und festzuhalten. Als das Reh nach einigen Minuten begriff, dass wir ihm nichts mehr tun würden, sprang es auf und davon.

Und ich sah, dass sein Oberschenkel nur noch Skelett war. Nur Knochen, nicht einmal Reste von Fleisch. Aber es funktionierte. Noch.

Was dieser Anblick bei mir auslöste, beschreibe ich besser nicht. Also weiter im Text: Inzwischen hörte ich links von mir Schüsse und rechts von mir Männerstimmen – offensichtlich eine Treibjagd, in deren Mitte ich geraten war. Den Dackel noch auf dem Arm haltend und selber ,Hallo‘ rufend, bewegte ich mich vorwärts. Hinter einem einzelnen Draht traf ich auf einen Mann in Warnweste; von ihm bekam ich als Reaktion auf meine Schilderung allerdings nur, dass er mich anfuhr, ich solle seinen Hund herunterlassen, das Reh werde eben „nachgejagt“ und dies sei eine angemeldete Treibjagd!

Ja, es sei einem Jäger sogar verboten, in dieser Situation weiter nach dem Reh zu jagen, teilte mir die Jagdbehörde Barnim mit: Die „Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft“ sei wichtiger als „das Anbringen eines sofortigen Fangschusses eines verletzten Tieres bzw. ein sofortiges Nachsuchen (während der Jagd) und Versorgen eines verletzten Tieres“.

Die Treibjagd dauerte in diesem Fall noch viele Stunden an – das Reh kann dann kaum noch gelebt haben. Während sich die Deutschen also trefflich über die Unmenschlichkeit des Schächtens aufregen können, weil dabei Tiere langsam verbluten, ist es Jagdalltag, Tiere nicht nur zu erschießen, sondern mit derartigen Kalibern zu verletzen, dass das Fleisch weggeschossen wird, während die Knochen noch stehen bleiben. Auf der Werbeseite des Jagdmunition-Verkäufers RWS heißt das dann beispielsweise so: „zerlegt sich nach dem Auftreffen im Wildkörper sehr rasch unter starker Splitter- und Energieabgabe“. Wieso hatte ich mir das eigentlich noch nie so vergegenwärtigt? Welche Art des Sterbens hatte ich mit Jagd verbunden? Nun, wohl so: Das Reh bekommt einen Herzschuss, ist nur noch zu einem letzten Seufzer fähig, und bricht dann mit einem herzzerreißenden Augenaufschlag tot zusammen.

Dabei ist doch bekannt, dass es selbst im Schlachthof nicht so zugeht: Viele Rinder erleben trotz Bolzenschuss bei Bewusstsein mit, wie sie aufgeschnitten und aufgehängt werden; alleine in Deutschland erleben jährlich eine halbe Million Schweine noch, wie sie ins kochende Wasser geworfen werden; und bei 430.000 Morden täglich in einem einzigen Geflügelschlachthof, wie er gerade im norddeutschen Wietze entsteht, mag wohl auch mal das ein oder andere Fehlerchen unterlaufen.
Am besten ist es aber wohl, nicht weiter darüber nachzudenken. Denn ist es nicht so, dass das Leid von Lebewesen auf der Erde abnehmen würde, wenn es die Menschheit nicht mehr gäbe? Klar, auch Löwen sind keine Veganer, aber industrielle Massentötungen sind halt ein Unterschied dazu. Und warum empfinde ich dann nicht auch bei anderen Gelegenheiten klammheimliche Freude? War mein Kampf in den 1980ern gegen den Atomkrieg verblendet? Ist es falsch, immer dagegen angehen zu wollen, dass sich die Menschen gegenseitig ausrotten?

Nun, ganz so weit bin ich noch nicht. Aber offen gestanden so weit schon: Früher war die Ausrottung der Menschheit für mich eine unvorstellbare Horrorvision. Heute liegt ein gewisser Trost für mich darin, dass es für andere Lebewesen dadurch vielleicht besser wird.

Naja, bis die nächste Spezies soweit ist – schließlich stammen auch wir von Ratten ab. Ich tippe übrigens auf Waschbären als unsere Nachfolger – den Ratten nicht unähnlich und so intelligent wie Affen. Nun, wir werden es nicht mehr erleben.