Einen Ort lesen

Materialien für ein topisches Theater

von Andreas Staudinger

von der 110. etage des world trade centers (welche ironie, dass der beobachter gerade dieses gebäude damals ausgesucht hatte!) sehe man manhattan auf ganz besondere art, beschreibt michel de certeau 1980 in seiner „kunst des handelns“ 1. „unter dem vom wind aufgewirbelten dunst liegt die stadt-insel. (…) eine dünung aus vertikalen. für einen moment ist die bewegung durch den anblick erstarrt. die gigantische masse wird unter den augen unbeweglich. sie verwandelt sich in ein textgewebe, in der die extreme des aufwärtsstrebens und des verfalls zusammenfallen, die brutalen gegensätze von gebäudegenerationen und stilen, die kontraste zwischen gestern geschaffenen buildings, die bereits zu mülleimern geworden sind, und die heutigen urbanen erruptionen, die den raum versperren. im gegensatz zu rom hat new york niemals die kunst des alterns und des spielerischen umgangs mit der vergangenheit erlernt. seine gegenwart wird von stunde zu stunde erfunden, indem das vorhandene verworfen und das zukünftige herausgefordert wird. eine stadt, die aus paroxystischen orten in form von monumentalen reliefs besteht. der betrachter kann hier in einem universum lesen, das höchste lust hervorruft. dort stehen die architektonischen figuren der coincidatio oppositorum geschrieben, die früher in mystischen miniaturen und textgeweben entworfen worden sind. auf dieser bühne aus beton, stahl und glas, bilden die größten schriftzeichen der welt eine gigantische rhetorik des exzesses an verschwendung und produktion.“

mit welcher „erotik des wissens“ fragt sich certeau dann, der hier die perspektive von dädalus, des ersten voyeurs, der alles „von oben sah“ einnimmt, könne die ekstase, einen solchen kosmos „zu entziffern“ verglichen werden und woher die lust komme, diesen maßlosesten aller „menschlichen texte“ zu buchstabieren … fragen dieser art sind es auch, die ich mir seit jahren stelle und die mich antreiben, örtliche textgewebe aller art in ihrer komplexität lesbar und dadurch in weiterer folge szenisch gestaltbar zu machen, die dem gewöhnlichen benutzer eines ortes entgehen, da er drinnen, inmitten dieses ortes lebt und längst aufgehört hat, mit allen sinnen das ihn umgebende wahrzunehmen. denn die ortebewohner, die fußgänger, die wandersmänner und eilboten, deren körper dem mehr oder weniger deutlichen schriftbild des orts-textes folgen, schreiben ihn ja, ohne ihn lesen zu können. ortebewohner spielen mit den unsichtbaren räumen, in denen sie sich blind auskennen, wie sich die körper der liebenden verstehen. und alles funktioniert ja heute so, als ob eine kollektive blindheit die organisierten praktiken eines bewohnten ortes charakterisierte. die netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden schriften bilden ohne autor oder zuschauer eine vielfältige geschichte, die sich in bruchstücken von bewegungsbahnen, von alltäglichen ritualen und in räumlichen veränderungen formiert.

die metapher des „lesens“ von orten („texturologie“), die nicht nur von certeau, sondern einer vielzahl von architekten, philosophen, geographen, abenteurern, flaneuren besonders in hinblick auf die stadt verwendet wurde und wird („stadtraum-textraum“, jähner, „wer oder was schreibt die stadt?“, lach, „die großstadt als text“, smuda, ua.) 2, hat für das theater (also den performativen umgang mit räumlicher wirklichkeit) einen ungewöhnlichen reiz. gewohnt, als dramatiker texte zu schreiben, nach denen dann orte (bühnenbilder) „gebaut“ werden, erfüllt einen die umkehrung des prozesses, nämlich durch die lektüre eines ortes hin zu sprachlichen „gebäuden“ zu kommen, die dann in einem dialektischen spannungsverhältnis zum realen gebäude, zur realen situation stehen, mit einer ganz neuen, unbekannten lust. eine landschaft, einen wald, einen garten durch das körperliche durchziehen des raums zu lesen wie eine sich ständig erneuernde enzyklopädie, baum für baum, fluss für fluss, stein für stein, eine stadt als lebendiges, sich allzeit in bewegung befindliches, organisches museum, als kollektiven und zugleich individuellen gedächtnisraum zu sehen (der die poesie der fenstergitter speichert genauso wie die traurigkeit der müllcontainer, die schönheit der verkehrsschilderwälder, die ästhetik der highway-verknotungen, die synästhetischen farb-symphonien der leuchtreklame-fassaden, etc.), das ist eine ganz neue art der erfahrung!

da ich jedoch kein historiker, kein linguist, kein architekt, kein archäologe bin, lese ich orte nie nach ausschließlich wissenschaftlichen kriterien, gehe den sachen nicht immer ganz genau auf den grund und damit auf den leim. vieles erfahre ich dadurch nicht, und das selbst ge- und erfundene und in den orts-text hineingelesene kann vermutlich nicht immer gegen das faktische bestehen. das faktische dominiert ja heutzutage beinah alles, löscht sehr oft das andere, das persönliche, das subtile, das, was vorher da war oder auch da ist, aus. und trotzdem gibt es, meiner erfahrung nach, beim individuellen lesen eines ortes immer einen ästhetischen mehrwert, einen gewinn an möglichkeiten. ich mißtraue offiziellen les- und übersetzungsarten und entwickle lieber meine eigenen lese- und dechiffrierungsprogramme, die auf dialektische, sonderbare, vor allem aber meine weise mit den jeweiligen orten verbunden sind … ein anderer kann diesen meinen ort ja auch ganz anders lesen. es gibt so viele lesebrillen.

orte sind wie offene, begehbare bücher, jeder kann auf seine weise in sie eintauchen.

ALPHABET GRAMMAITK RHETORIK EINES ORTES: SEINE ATMOSPHÄRE

akzeptiert man die „lese-metapher“ als handwerkszeug im umgang mit orten, dann muss jeder ort sein bestimmtes alphabet (landschaftliche oder archtektonische objekte), seine grammatik (funktion, regeln, abmachungen) und seine rhetorik (praxis) haben. die meisten menschen sind allerdings so damit beschäftigt, diesen ihren orts-text zu schreiben, dass sie verlernt haben, sein alphabet zu buchstabieren oder sich auf seine grammatikalischen strukturen einzulassen. wir sprechen unsere muttersprache ja auch, ohne über das wesen der grammatik nachzudenken (das tun wir nur in der schule und normalerweise mit beträchtlichem widerwillen), denn dort, wo man täglich lebt, wird man am ganzen körper blind oder noch schlimmer: zu einem funktionierenden automaten, einer google-übersetzungsmaschine. auch sind viele buchstaben inzwischen nicht mehr bekannt: wie die zeichen der keilschrift liegen sie zwar vor uns, erkennbar für das auge, aber unentzifferbar für unseren verstand.

der semiotiker ferdinand de saussure 3 bietet für die untersuchung von sprachen die unterscheidung in langue (den komplex von regeln und konventionen, die eine sprache konstituieren) und parole (die praktizierte sprache, in der diese regeln ausgedrückt werden) an, eine unterscheidung die auch beim orte-lesen brauchbar ist. in diesem sinn betrachtet certeau einen ort als ein geordnetes und ordnendes system, das erst durch örtliche praktiken (das gehen, sich bewegen am ort) realisiert wird. und genau wie de saussure die langue begreift als etwas, das immer erst in einer praxis realisiert werden muss, aber nie völlig manifest wird in einzelnen linguistischen äußerungen, macht er deutlich, dass – obwohl die straßen von den stadtplanern geometrisch definiert seien – erst die gehenden sie in einen ort transformierten. auf dieselbe art, wie der leseakt werde der raum erst durch die praktiken eines bestimmten ortes erzeugt.

dabei sei der „akt des gehens für das urbane system das, was die äußerung (der sprechakt) für die sprache oder für formulierte aussagen ist. auf der elementarsten ebene gibt es in der tat eine dreifache funktion der äußerung: zum einen gibt es den prozess der aneignung des topographischen systems durch den fußgänger (ebenso wie der sprechende die sprache übernimmt oder sich aneignet); dann eine räumliche realisierung des ortes (ebenso wie der sprechakt eine lautliche realisierung der sprache ist); und schließlich beinhaltet er beziehungen zwischen unterschiedlichen positionen, das heißt pragmatische „übereinkünfte“ in form von bewegungen (ebenso wie das verbale aussagen eine „anrede“ ist, die den angesprochenen festlegt und die übereinkünfte zwischen mitredenden ins spiel bringt).
das gehen ist der raum der äußerung
.“ 4

die muskeln spannen sich, der fuß hebt sich, weg vom boden, das eine bein hält den körper zwischen himmel und erde, das andere strebt weg von uns, wird geschwungen, das gleichgewicht verlagert sich, ferse und dann zehen berühren den boden … gehen … scheinbar die einfachste sache der welt und zugleich die komplizierteste. ein vorgang, den wir unbewusst tagtäglich ausführen, der uns zu vertraut ist, als dass wir ihn wirklich verstünden, ein willkürlicher akt, der unwillkürlichen rhythmen unseres körpers am ehesten entspricht – dem rhythmus unseres herzens. für die meisten menschen ist das gehen, nachdem sie es einmal erlernt haben, ein vorgang rein praktischer natur, eine methode der fortbewegung zwischen zwei orten. aus dem gehen aber eine besondere handlung, ein ritual, eine meditation zu machen, ist für das lesen eines ortes unabdingbar.

das pirschen, beispielsweise, ist eine spezialform des bewussten gehens.

„die spiele der schritte sind gestaltungen von räumen. sie weben die grundstruktur von orten. in diesem sinn erzeugt die motorik der fußgänger eines jener realen systeme, deren existenz eigentlich den stadtkern ausmacht, die aber keinen materialisierungspunkt haben. sie können nicht lokalisiert werden, denn sie schaffen erst den raum. sie sind ebensowenig faßbar wie die chinesischen buchstaben, deren umrisse die sprecher mit einem finger auf ihrer hand skizzieren. sicher, die prozesse des gehens können auf stadt- oder landschaftsplänen eingetragen werden, indem man die (hier sehr dichten und dort sehr schwachen) spuren und die wegbahnen überträgt. aber diese dicken oder dünnen linien verweisen wie wörter lediglich auf die anwesenheit dessen, was geschehen ist. bei der aufzeichnung von fußwegen geht genau das verloren, was gewesen ist: der eigentliche akt des vorübergehens.“ 5

mit dem begehen (oder im konkreten fall dem sich „anpirschen“), der körperlichen komponente der wahrnehmung und raumerfahrung, dem gegenpol zur dominanz des auges, beginnt also alles … ein ort wird ja auch zuallererst benutzt und nicht wahrgenommen. es ist jenes herstellen der wirklichkeit durch das begehen, wie sie in alten kulturen noch lebendig ist (etwa bei den aborigines mit ihren „walkabouts“ entlang der „songlines“). durch das begehen/durchwandern verleiben wir uns den weg ein, seine geschichte, seine menschen, die vor uns zur wirklichkeit des ortes beigetragen haben – all das vermischt sich mit uns und unserer wirklichkeit. als „gehender“ fügt sich unser körper dem druck des „textes“, den wir mitschreiben, aber vorerst noch nicht lesen können.

das herkömmliche theater kappt zentrale formen der wahrnehmung, indem es den menschen in einer black-box zu sitzen und sich wie in einem restaurant bedienen zu lassen zwingt: behauptete orte und die darin behaupteten erzählungen werden so seinen augen, ohne dass er sich körperlich beteiligen muss, „serviert“. beim topischen theater ist der zuseher ein mitgeher, ein beteiligter, seine persönliche erfahrung und die damit verbundenen entscheidungs- und handlungsmöglichkeiten, seine eigenverantwortlichkeit stehen im zentrum – aber nicht im sinn von eventartiger „überwältigung“, sondern im sinn von „intensität“ und „begreifen“ im wahrsten sinn des wortes – er muß sich einen ort buchstäblich ergehen, erwandern, erklettern, mit bussen, zügen, schiffen erfahren, etc. – kurz: seine leiblichkeit in einen neuen, ungewohnten kontext versetzen und mit seinem ganzen körper wahrnehmen.

welche elemente bestimmen nun das, was man als „rhetorik“ eines ortes bezeichnen könnte?
nach eva holling 6 weisen vor allem die funktion (die meist durch architektonische- oder landschaftsgestalterische planung gegeben ist), identität und namen auf wichtige einflüsse eines ortes auf den menschen (und umgekehrt) hin. roland barthes beschreibt zum beispiel den stadtraum als „ein gewebe von merkmaltragenden und merkmallosen elementen“ 7 , ähnlich wie augé, der in „orte und nicht-orte“ 8 darauf hinweist, dass ein „anthropologischer ort“ seine identität durch elemente wie lebendigkeit, sozialen und kulturellen charakter erhalte, die eben einem „nicht-ort“ fehlen würden. dazu kommt, dass sich die rhetorik eines ortes sowohl aus der rhetorik des ihn benutzenden menschen als auch der des ortes zusammensetzt. die funktion eines ortes ist zumeist eher konzeptuell, während der umgang mit dem ort (seine nutzung) durch den menschen erst praktisch festzustellen ist. ein lebendiger umgang schließlich macht ja nach augé einen raum erst zum ort. besonders diese „lücken“ zwischen funktion, planung eines ortes und seiner nutzung sind ein fruchtbares feld für das spätere „neu-schreiben“ eines orts-textes im rahmen einer inszenierung.

beim lesen (beim „be-gehen“), beim entziffern von orten geht es also nicht nur um die einzelnen dinge (die einzelnen buchstaben), die man wahrnimmt, sondern um das ganze, um die grammatik (dieses system aus regeln, abmachungen, die einen ort definieren), um das, was man empfindet, wenn man sich an einen ort begibt: die sich aus den buchstaben entwickelnden wörter und sätze, anders gesagt, die situationen, die atmosphären.

ATMOSPHÄRRE, SITUATIONEN

wie lässt sich dieser durch vielfältige aktivitäten erzeugte ort nun in der praxis lesen – oder um von der sprachmetapher einmal wegzugehen – wahrnehmen? grundsätzlich ist es so, dass man – wenn man einen ort betritt – auf eine vorerst schwer definierbare art und weise „gestimmt“ wird. das, was man allgemein als atmosphäre bezeichnet (dieses noch unbestimmte gemisch aus „langue“ und „parole“ eines ortes, der räumlich bestimmte zusammenhang von sachverhalten, in denen das situierte steht, das stets auch mit dem lesenden/begehenden zu tun hat) ist für unser befinden entscheidend. erst wenn man sozusagen in die atmosphäre eingetaucht ist, kann man die einzelnen objekte (buchstaben) des ortes identifizieren und vielleicht dann auch noch später seine uns bestimmenden regeln (grammatik) entschlüsseln und wahrnehmen.

das wort atmosphäre, das wir in der umgangssprache so gern und unreflektiert verwenden, spielt im ästhetischen diskurs eine gewisse rolle. allerdings ist seine offenheit, seine vagheit, nicht dazu angetan, es häufig einzusetzen. fast scheint es, als würde es nur dann benützt, wenn man damit etwas unbestimmtes, schwer auszudrückendes benennen möchte, als sei es nur dazu da, die eigene bezeichnungsunfähigkeit zu maskieren, ja etwas anzudeuten, wovon man rational keine rechenschaft ablegen könne. die verwendung des begriffs ist selbst in ästhetischen texten zwischen emphase und verlegenheit angesiedelt, ganz ähnlich dem politischen diskurs, in dem ja bekanntlich auch alles auf die atmosphäre ankommt.

kommen wir vorerst einmal auf die umgangssprache zurück, denn sie verfügt offenbar über einen reichen wortschatz, um atmosphären zu charakterisieren. wir verwenden wörter wie „heiter, melancholisch, bedrückend, erhebend, achtungsgebietend, einladend, erotisch,“ etc. ja ununterbrochen. sieht man genauer, kann man aber erkennen, dass diese atmosphärischen zustände vor allem in bezug auf ihren ontlogischen status unbestimmt sind. man weiß nicht recht, soll man sie den objekten oder orten, von denen sie ausgehen, zuschreiben oder den subjekten, die sie erfahren. sie scheinen gewissermaßen schwebend den raum mit einem gefühlston zu erfüllen. „dabei wird atmosphäre aber nur dann zum begriff, wenn es einem gelingt, sich den eigentümlichen zwischenstatus von atmosphären zwischen subjekt und objekt rechenschaft zu geben.“ 9

auch walter benjamin verwendet in „das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit“ 00 einen ähnlichen begriff: er redet nicht von atmosphäre, sondern verwendet den eher altmodischen begriff der „aura“. die ist für ihn „ein sonderbares gespinst aus raum und zeit: einmalige erscheinung einer ferne, so nahe sie sein mag. an einem sommernachmittag ruhend einem gebirgszug am horizont oder einem zweig folgen, der seinen schatten auf den ruhenden wirft – das heißt die aura dieser berge, dieses zweiges atmen.“ das, was benjamin hier mit aura meint, ist also nicht ausschließlich auf kunst oder gar nur auf originale gemünzt. eine aura eines ortes spüren heißt da vor allem, sie leiblich erfahren. und was gefühlt wird, ist eine unbestimmt räumlich ergossene gefühlsqualität.

„aura“, „atmosphäre“, „situation“ – alles versuche, das, was uns ergreift, wenn wir einen ort betreten, uns in eine räumliche situation (einen ortstext) begeben, zu beschreiben. versucht man diesen begriffen nachzugehen, sie als genaues instrumentarium für den lesevorgang von orten zu benützen – wie gernot böhme 11 dies beispielsweise tut – so lässt sich zusammenfassen:
„atmosphären sind immer räumlich „randlos“, ergossen, dabei ortlos, dh. nicht lokalisierbar, sie sind ergreifende gefühlsmächte, räumliche träger von stimmungen. der mensch muss nämlich wesentlich als leib gedacht werden, dh. so, dass er in seiner selbstgegebenheit, seinem sich-spüren ursprünglich räumlich ist: sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer umgebung befinde, wie mir zumute ist.“ 12 atmosphären „sind räume, insofern sie durch die anwesenheit von dingen, von menschen oder umgebungskonstellationen, dh. von deren „ekstasen tingiert“ sind. sie sind selbst sphären der anwesenheit von etwas, ihre wirklichkeit im raum.“ sie sind das, was „von den dingen, von menschen oder deren konstellationen ausgeht und geschaffen wird. die atmosphären sind so konzipiert weder als etwas objektives, nämlich eigenschaften, die die dinge haben, und doch sind sie etwas dinghaftes, zum ding gehöriges, insofern nämlich die dinge durch ihre eigenschaften – als ekstasen gedacht – die sphären ihrer anwesenheit artikulieren. noch sind die atmosphären etwas subjektives, etwa bestimmungen eines seelenzustandes. und doch sind sie subjekthaft, gehören zu subjekten, insofern sie in leiblicher anwesenheit durch menschen gespürt werden und dieses spüren zugleich ein leibliches sich-befinden der subjekte im raum ist.“ 13

sinnlich (sensitive) wahrnehmung von atmosphären überschreitet also die grenzen diskursiv erkennenden bewusstseins. das ergebnis dieses prozesses erzeugt eine andere form von bewusstsein: sie führt uns vor augen, wie die welt und die dinge in ihrer besonderheit, in ihrer vielfalt und fülle, in ihrer unvergleichlichkeit in der gegenwart erscheinen. die atmosphäre von orten (sei es nun städtischer räume oder der von landschaft) assoziiert vergangenheit und zukunft, bringt biographisches und historisches wissen ins spiel, träume, gefühle und facetten einer lebenssituation werden wachgerufen. martin seel nennt das „korresponsives ästhetisches bewusstsein“ 14. atmosphäre muss nicht notwendigerweise in bewusster reflexion wahrgenommen werden. gerade das evozieren von gefühlen geschieht oft unbewusst oder am rande des bewusstseins. schon walter benjamin 15 beurteilte die rezeption von architektur in diesem sinn: sie finde in beiläufigem bemerken und viel weniger in gespanntem aufmerken statt. atmosphäre wirkt zurück, sie erzeugt eine stimmung, beeinflusst verhalten.

dieser schillernde, changierende status von atmosphären zwischen subjekt und objekt ist es aber gerade, was ihn für ein neue sicht auf das theater so ungemein interessant macht. das lesen von atmosphären beschränkt sich aber keinesfalls nur auf oberflächen, vielmehr sind es die strukturen, regeln, gesetzmäßigkeiten, besonderheiten (grammatik) von orten (insbesondere von gebäuden), die es mit den mitteln der kunst vorort zu untersuchen gilt. atmosphären der erhabenheit, des ergriffenseins und der kontemplation, wie sie beispielsweise im kirchenbau festzumachen sind, atmosphären der massen-begeisterung, wie sie sportstadien oder aufmarschplätze entwickeln oder die der macht, einschüchterung oder disziplinierung, wie foucault in „überwachen und strafen“ 16 für gefängnisse, schulen, gerichtssäle, etc. dargestellt hat, um nur ein paar beispiele zu geben, sind dafür ein fruchtbares spiel- und erkenntnisfeld.

WAHRNEHMEN/LESEN

untrennbar verbunden mit dem begriff der atmosphäre eines ortes ist natürlich der der wahrnehmung, oder um im bild zu bleiben: der des lesens. geht man also so daran, subtile lesarten/lesweisen für orte zu entwickeln, landet man unweigerlich bei einer genaueren untersuchung der art und weise, wie wir wahrnehmen.

das verhältnis zwischen blick und körperlicher haltung hat sich im zwanzigsten jahrhundert grundsätzlich gewandelt: der körper führt unter der dominanz des auges meistens nur mehr minimale bewegungen aus. offenbar beeinflusst das moderne leben (vor allem das in der stadt) sowohl visuelle als auch körperliche gewohnheiten. geschwindigkeit und flüchtigkeit gewinnt im umfeld des menschen immer mehr raum, und die optischen erfahrungen passen sich der beschleunigung des umfelds an.
„wir wissen es gar nicht mehr, wie wir in dieser zeit sehen gelernt haben. wie wir optisch assoziieren, optisch folgern, optisch denken gelernt haben, wie geläufig uns optische metaphern, optische symbole, optische begriffe geworden sind.“ 17

distanz – genauer das prinzip der isolierung – ist per definitionem bestandteil jeder ästhetik. ein ästhetischer ansatz erfordert die isolierung des betrachters von vielen funktionalen und sonstigen bedeutungen, die der gegenstand des ästhetischen interesses noch hat. bei einem bild zum beispiel fällt uns das leicht, wir gehen schon räumlich auf distanz, und wir können auch von praktischen belangen leicht abstrahieren. 18 bei der auseinandersetzung mit orten würden wir ihnen aber niemals gerecht werden, wenn wir in bloße bildbetrachtung verfielen und zum beispiel die fotografische oder grafische qualität eines gebäudes oder eines städtischen umfelds mit seiner architektonischen qualität gleichsetzten. bei orten sind wir immer selbst bestandteil der ästhetischen realität. „wir sind mit unserem körper teil des raumes, den wir erfahren. die situation, in der wir uns befinden, wird bestandteil jeder auch noch so distanzierten betrachtung. orte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur mit den augen, sondern mit allen sinnen, mit dem ganzen körper und nur in der bewegung vollständig wahrgenommen werden können. deswegen sind wir als betrachter gleichzeitig akteur.“ 19 vor ort sind wir immer mitspieler, während wir in den bildkünsten lediglich „zuschauer“ bleiben.

im unterschied zum herkömmlichen theater sind vorort zuschauer und darsteller auf eine eigenartige weise derselbe mensch. man sieht sich selbst durch den raum gehen, der raum macht einen auf eine bestimmte weise gehend: er befördert, verlangsamt, saugt, beruhigt oder dehnt, etc.. man wird sich seines „im-raum-seins“ bewusst.

die wahrnehmung eines ortes beruht zunächst auf dem kinomatographischen effekt des gehens, des am ort anwesend seins. wir nehmen die dinge wahr, wie perlen auf einer schnur. aber wir bringen die dinge, die wir sehen, schon im wesentlichen mit. wenn wir beispielsweise mit einem kleinen kind spazieren gehen, sieht es die dinge normalerweise völlig anders als wir – es erinnert sich vielleicht daran, dass es hier einen käfer begraben hat oder dort auf die nase gefallen ist, dass es da zum ersten mal ein eis erhalten hat und so fort. im lauf seiner entwicklung lernt das kind aber immer mehr orte nach bestimmten vorstellungen, bildern, die sich durch bücher, playmobillandschaften, fernsehen, filme, werbung, pc-spiele in ihm festsetzen, „zu lesen“. daraus entwickeln sich vorkenntnisse, innere bilder, wie zum beispiel eine typischer „abenteuerspielplatz“, eine waldlandschaft aussehen soll, eine moderne stadt oder ein perfekter urlaubsort, etc.. entsprechend verglich der erste mann auf dem mond seinen eindruck auch mit dem grand canyon.

wahrnehmung von orten ist dementsprechend der quotient aus milliarden von eindrücken und dem, was der mensch im verlauf seiner entwicklung gelernt hat zu sehen und setzt ein kulturelles paket an früheren darstellungen voraus. denn nur in ausnahmefällen vermag der mensch etwas wahrzunehmen, was ihm nicht schon bildhaft oder literarisch vermittelt ist. diese kulturelle vermittlung ist in der regel eine anleitung zur selektion, also zur ausfiltrierung von eindrücken. die hunderttausend informationen, die auf einen einströmen, können ja nicht verarbeitet werden: soll im kopf so etwas wie ein bild von einem ort entstehen, so müssen die nicht dazugehörigen informationen unterdrückt oder verdrängt werden. so entsteht ein system, das sich zwischen den wahrnehmenden und sein betrachtungsfeld stellt, und das die beobachtung steuert, ja das von der betrachtung oft sogar auf das objekt zurückwirkt – in besonderen fällen sogar durch physische einwirkung, nämlich durch das entfernen von etwas, das unsere vorgeprägten vorstellungen stört (in organisierter form geschieht diese einwirkung zum beispiel durch bewegungen von der art des heimatschutzes, des naturschutzes, der denkmalpflege, des landschaftschutzes und der ortsbildpflege). 20

unsere wahrnehmung scheint also größtenteils gesteuert durch festlegungen, die selber aus früheren wahrnehmungen erarbeitet sind: wir sehen nur, was wir gelernt haben zu sehen. die subsumption ist demzufolge eine wahrnehmungstechnik, die der erneuerung der information entgegensteht. topisches theater könnte auf lustvolle weise zeigen, wie sehr unser „gewahr-werden“ bestimmter orte determiniert ist und könnte neue, ungewohnte beurteilungen / einschätzungen alt bekannter situationen ermöglichen, indem man die atmosphären von orten neu liest – sie quasi von der befrachtung und übermalung durch bildhafte oder literarische bildungsfragmente befreit oder – ganz im gegenteil – diese besetzung des ortes überzeichnet und dadurch sichtbar macht, kurz: den ortebewohnern die verlorene sinnlichkeit, die zugemüllte wahrnehmungsgabe – ihre lesefähigkeit – wieder zurückgibt, ein neues sinnnesbewußtsein entwickelt, aus dem heraus gesellschaftliches und politisches handeln eine neue dimension erhalten könnte. landschaft könnte so neu thematisiert werden und neue ästhetische oder sozio-politische haltungen zu stadt und urbanismus könnten sich herausbilden …

dazu muss man den begriff der wahrnehmung jedoch aus seiner verengung auf informationsverarbeitung, datenbeschaffung oder situationserkennung befreien. zur wahrnehmung gehört die affektive betroffenheit durch das wahrgenommene, gehört die wirklichkeit der bilder, gehört die leiblichkeit – das sich bewegen vorort. wahrnehmen ist im grunde die weise, in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder sich in umgebungen/situationen befindet. eine verfeinerte, entschlackte art der wahrnehmung, die diesen namen auch verdient, darf sich aber nicht nur auf die sphäre der kunst (und ihre ritualisierten räume) beschränken. sie muss vor allem eine auseinandersetzung mit der fortschreitenden ästhetisierung des alltags beinhalten. für diese aufgabe ist eine ästhetik als theorie der kunst oder des kunstwerks völlig unzureichend. mehr noch, da sie sich im handlungsentlasteten raum und unter bildungseliten abspielt, täuscht sie darüber hinweg, dass ästhetik eine reale gesellschaftliche macht darstellt. neben die ästhetik des kunstwerks müssen die ästhetik des alltags, die warenästhetik, die politische ästhetik als gleichberechtigt hinzutreten. 21

bevor ich einen ort inszeniere (in szene setze), versuche ich ihn (seine atmosphäre) unvoreingenommen zu lesen.

LESESCHRITTE

um es vorweg zu sagen: das lesen von orten (also das ganzkörperliche wahrnehmen von atmosphären) ist ein prozess, der zeit und den gesamten körper fordert und kein spontaner erkenntnisakt. ich misstraue vorschnellen leseergebnissen, weil sie allzu oft nur ein oberflächliches aufkleben von bedeutungen auf orte sind, ein resultat von reflexion und nicht von intensivem lesen. das heißt nicht, dass die reflexion über einen ort keinen platz im topischen theater hätte, ganz im gegenteil, aber der prozess der erarbeitung beginnt vor dem konkreten ort und niemals mit dem nachdenken über einen ort und schon gar nichts hat er zu tun, mit dem überstülpen einer idee über die wirklicheit eines ortes. all die spielarten des grassierenden „freiluft-theaters“ gehören nicht in diesen kontext. sie sind die instantversionen einer zeit, die den schnellen kitzel, die eventisierung von inhalten ins zentrum stellt und nicht den ort selbst. immer auf der suche nach dem nächsten „kick“ benützt man hier orte, deren oberflächenstruktur man sich meist nur in kommerzieller hinsicht bedient.

aus der erfahrung vieler projekte habe ich für mich inzwischen eine „lesemethode“ entwickelt, in der ich mich wie ein „feldforscher“ einem ort annähere und die bestimmte, wesentliche „leseschritte“ beinhaltet

ÜBERBLICK

alles beginnt mit dem begehen. bevor ich mir erlaube, ideen zu haben, muss ich mich an einem ort erst orientieren, muss mich zurechtfinden, muss versuchen, mir einen groben überblick über das zu verschaffen, was da ist. es ist das erste flanieren, bei dem ich es noch vermeide, genauer zu sehen: das ganze (das was ich vorher versucht habe, als „atmosphäre“ zu charakterisieren), wirkt dabei viel stärker als das einzelne detail. dieses sich hineinziehen lassen in eine bestimmte anwesenheit ist der ausgangspunkt für alles andere.

orte lügen im gegensatz zu menschen nie. ein buch kann geschlossen oder beendet werden, orte hingegen sind stets offen, ausgebreitet, frei, entfaltet, aufgedeckt, niemals verbirgt eine seite die andere. sie sind organisiert wie zugleich offene und geschlossene knoten, wie sterne oder noch lebende körper. alle sinne sind da gefragt, nicht die vorherrschaft des allumfassenden verstandes, der sofort be-schreiben will, definieren, erklären, erkunden … erst wenn alle exakte wissenschaft schweigt, ausgeschaltet ist, kann ein ort beginnen, sich zu entfalten wie wein, der die richtige temperatur hat. diskurs und abstraktion bleiben ja allemal hinter der wirklichkeit des gehenden und wahrnehmenden körpers zurück: gebärden, farben, gerüche, riten, mischungen, kreuzungen, identitäten als summe oder kombination aus andersartigem – all das wächst einem nur so entgegen … erste kontakte mit den bewohnern oder den menschen (institutionen), die mich eingeladen haben, mich mit dem ort zu beschäftigen, folgen. in diesem konkreten fall waren das der künstler und temporäre schlossherr aramis und seine lebensgefährtin britta sievers, die mich in „ihren“ ort einließen … diese menschen, die einen ort bewohnen, sind es ja, die den ortstext bewusst oder unbewusst „schreiben“, die ihre abdrücke hinterlassen, agieren, interagieren, intrigieren, vegetieren, die einen ort wie ein könig beherrschen oder an ihm leiden, sich ihm unterordnen oder von ihm diszipliniert werden. es ist die zeit des zuhörens und nicht die des fragenstellens, es ist die zeit des aufnehmens, des einsaugens von sprach- und sprechnuancen, von benanntem und unbenanntem. und je nachdem ob es sich um einen urbanen kontext oder einen landschaftlichen handelt, werden die ortebewohner auch andere erzählweisen anwenden: eine begegnung in einem dorfgasthaus zeichnet ein anderes bild als eine gemeinsame fahrt mit einem bus oder einem privatauto durch eine stadt, eine gemeinsame tour durch unwegsames, alpines gelände wird sich anders anfühlen als ein irren durch einen stadtdschungel.

NAHBLICK

erst dann (vielleicht beim zweiten oder dritten besuch des ortes) schaue ich genauer, richte meinen blick auf details, auffälligkeiten, besonderheiten des orts: dafür muss ich allein gehen. die einsamkeit an so einem ort, das nicht-abgelenkt-sein, das frei-sein von einflüsterungen der unterschiedlichsten art, das sich versenken, ermöglicht erst einen „neuzugang“ zu einem ort. all das, was sich durch die ersten besuche angesammelt, angereichert hat, darf jetzt vor ort hinterfragt werden. jetzt erst kann man eventuell erste regeln, grammatische strukturen des ortes erkennen: wie organisiert er sich? wer organisiert ihn? wer wird von ihm organisiert? was ist das „besondere“ an diesem ort, das „auffällige“, (was fällt allen auf, was keinem, was fällt mir zu?). sind es die gebäude, die den ort bestimmen, ist es die natur oder sind es die menschen, die dem ort ihre vorstellungen aufzwingen?
ich lege nun zeichnungen an, mache photos, videos, fertige erste individuelle pläne des ortes an und notiere mir auffälligkeiten.

HISTORISCH-WISSENSCHAFTLICHER BLICK (regeln, langue)

parallel dazu untersuche ich, was es an geschriebenem zu diesem ort gibt. existiert wissenschaftliche literatur über den ort, haben sich künstler mit ihm beschäftigt, hat er schriftsteller inspiriert, etwas zu schreiben, gibt es spezielle land- oder wanderkarten, ist es ein ort, der schon auf postkarten verewigt ist oder ist er gänzlich unberührt, unbeschrieben, unkartographiert? gibt es in der sekundärliteratur eventuell gebiete, die einem weiterhelfen können (wenn es sich beispielsweise um industriearchitektur handelt ist es unbedingt notwendig, den technischen hintergrund des produzierten zu verstehen; wenn es sich um ein krankenhaus handelt, kann man die welt der medizin und der lebensrettenden maschinen mit all ihren implikationen natürlich nicht ausblenden; etc.).

all das nehme ich mit, wenn ich den ort das nächste mal besuche. jetzt wird es interessant zu beobachten, was ich vom geschriebenen (vom verschriftlichten, gezeichneten ort) am ort selbst wiederfinden kann. wie sind die sozialen, politischen strukturen dieses ortes, was sind grundlegende problemkreise? spielen sie in meine arbeit hinein, wieweit konstituieren sie einen ort? welche sprachlichen topoi haben sich an diesem ort herausentwickelt, wie ist die sprachwerdung dieses ortes vor sich gegangen (manche orte werden nach den tätigkeiten benannt, die die menschen dort verrichten, manche orte werden nach namen von menschen benannt, die ihm ihren stempel aufgeprägt haben und manche orte haben überhaupt „sprechende namen“)? welche mythen (sprachgewordener ort) hat dieser ort hervorgebracht (mayerling beispielsweise ist eher eine historisch/mythische projektion als ein wirklicher ort, venedig ist längst mehr eine metapher über die ideale stadt als eine konkrete stadt, babylon nur mehr eine vorstellung, die nichts mehr mit den konkreten ruinen zu tun hat und was erzählt ein name wie „öd“ von einem ort)? was erzählen mir die menschen dieses ortes darüber? die methode der befragung, die ich allerdings niemals im streng wissenschaftlichen sinn durchführe, sondern „zufallsgelenkt, zufallsgesättigt“, gehört zu den notwendigen hilfsmitteln, die die eigene wahrnehmung erweitern, bereichern. die interviews, die ich niemals als interviews deklariere, sondern als „gespräche“ (denn interviewsituationen sind immer künstliche, konstruierte), können dann später sogar selbst (oder zumindest ihre essenz) in die performance mit einfließen.

HÖREN, RIECHEN – ERWEITERUNG DER SINNESWAHRNEHMUNG

wenn man endlich die augen gesättigt – und die visuelle und historische dimension eines ortes in sich aufgenommen hat, wird es zeit, sich auch den anderen sinnen bewusst zu öffnen. wie der körper, die haut, ist ein ort ja ein lebendiger organismus, dessen mannigfaltigkeit nur den kartographen, ortsplanern, bürgermeistern und joggern entgeht, er ist leicht oder schwer, schmal oder breit, hell oder dunkel, sinnlich oder kalt, trocken oder feucht … wie riecht dieser ort, was höre ich? wie fühlt er sich an? wie lässt sich dieser ort noch „wahr-nehmen“: wird die nacht einer stadt beispielsweise geschwängert durch bier- und pommes frites-gerüche oder ist es der duft der dönerkebabs, rieche ich weihrauch oder autoabgase? höre ich wasser rauschen oder den verkehr? ist die stille eine hervorbringung oder entsteht sie nur aus mangel an aktivität?
erst wenn ich so weit gekommen bin, wenn ich den ort aufgesogen habe mit allen poren, untersuche ich meine emotionale und physische verbundenheit mit einem ort genauer: wo fühle ich mich besonders angezogen, was beunruhigt mich an diesem ort, warum läßt dieser teil diese spezifische stimmung aufkommen? wo fühle ich mich wohl, wo entsteht beunruhigung? welche „raumgefühle“ entwickeln sich? was fordert mich heraus, was lässt mich kalt, was schüchtert mich ein? welche adjektive aus dem sortiment der atmosphären könnten nun gebraucht werden … ist es ein heiterer ort oder bedrückt er mich, ist er einladend oder sperrig, spröde, verweigert er sich, ist es ein ort der einen aufnimmt, sich anbietet oder verkauft er sich sofort an jeden, ist er farblos septisch, angstgebietend, einladend, abstoßend, bedrohlich und warum ist der das? ist er das nur für mich in einer konkreten situation oder empfinden seine bewohner genauso?
landschaft als spiegel für seelenzustände kennnen wir aus unzähligen büchern und filmen, in denen dunkle wolken mit depressionen korrespondieren, wüsten für vertrocknete beziehungen herhalten müssen, das meer für weite und entgrenztheit steht und so fort, von den sonnenuntergangstapeten zahlloser teenagerzimmer der achtziger jahre ganz zu schweigen.
kehrt man diesen prozess jetzt um und fragt sich, welche gefühle und stimmungen entstehen an einem ganz konkreten ort, wird dieser begriff schon bedeutend produktiver. der umgang mit seelischen projektionen und klischees von landschaft kann so durchaus interessant sein: das, was man in die landschaft hineinliest und was meist dann zu einem literarischen topos geronnen ist, lässt sich möglicherweise auch als erhellender kontrasttext zur real existierenden landschaft nutzen.

HEIMATGEFÜHL

nachdem ich so über einen längeren zeitraum einen ort gelesen habe, stelle ich immer wieder fest, dass plötzlich eine art heimatgefühl entstanden ist: man hat sich den ort zu eigen gemacht, man fühlt sich dem ort und vor allem auch den menschen, die diesen ort bewohnen, verbunden; man hat die bezeichnungen der „einheimischen“ übernommen, geht mit ihnen ganz natürlich um: kurz – aus einem besonderen, ausgewählten, exponierten ort ist ein alltäglicher geworden. interessanterweise kann es da dann allerdings passieren, dass man mit einem mal nichts mehr sieht. oder genauer: das, was man sieht, ist unsichtbar. die materielle und physische dimension des ortes löst sich auf. die sichtbare, reale ordnung wird dekonstruiert. man weicht von der normalen konvention ab, man „missversteht“ den ort, man entstellt das realitätsprinzip. der ort wird zum umschlagplatz von besetzungen und bedeutungen persönlicher (auch wechselnder) art. losgelöst von ihrer ursprünglich intendierten bedeutung erhalten die orte nun einen ganz privaten/neuen sinn. der aktuelle ort ruft erinnerungen wach und gibt anlass zum träumen, er öffnet einen (zeit-)raum der wünsche, sehnsüchte, projektionen, konstruktionen und möglichkeiten: er ist zu meinem ort geworden. das ist der humus, der urgrund aus dem sich die späteren inszenierungsideen entwickeln, das ist die basis, der fundus für die neubesetzung, umdeutung des ortes über die vielfältigsten performativen spielformen

das ist normalerweise ein guter zeitpunkt für mich, ein team zusammenzustellen. dabei gehe ich immer langsam und behutsam vor. da man schwer erklären kann, was man vor ort zu tun gedenkt (topisches theater ist ja nach wie vor kein begriff, den die meisten ortsbewohner in ihrem erfahrungsschatz haben), ist überzeugungsarbeit für diese art der künstlerischen „nahversorgung“, die die elitäre kunstproduktion überschreiten will und auch zu zivilgesellschaftlicher „ermächtigung“ (empowerment) führen soll, notwendig. gespräche mit bewohnern und damit potenziellen mitakteuren sind zu führen, einzelne gruppen können jetzt involviert werden (bürger- oder kunstinitiativen, vereine, schulen, randgruppen wie migranten, arbeitslose oder alte menschen). wobei, meiner erfahrung nach, diese akteure (denen man über zielgruppenspezifische theaterarbeit, rollenspiele, improtheater, etc. näher kommen kann, aber nicht muss) – wenn man sie erst einmal gewonnen hat – selber wieder aktiv werden und andere bewohner in das projekt hineinziehen. parallel dazu suche ich jetzt auch nach den passenden professionellen akteuren (schauspielern, tänzern, musikern, filmemachern, etc.) deren „fremden blick“ ich später in eine fruchtbare beziehung zu den bereits existierenden sichtweisen auf den ort setzen kann.

und erst jetzt denke ich an die „inszenierung“ dieses ortes. alles andere wäre ein fixes überstülpen von ideen über die wirklichkeit eines ortes.


anmerkungen

1 certeau: kunst des handelns; s 179f
2 holling, s47f.
3 vgl. de saussure, ferdinand: grundfragen der allgemeinen sprachwissenschaft; berlin 1967.
4 certeau: kunst des handelns; s 189
5 certeau: kunst des handelns; s 188f
6 holling, s 50
7 barthes, roland: semiologie und stadtplanung; s 202
8 vgl. augé: „orte und nicht-orte“
9 böhme, gernot: atmosphäre; frankfurt/main 1995; s 21ff
10 benjamin, walter: das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit; –in: gesammelte schriften, bd.I,2. frankfurt/main 1974; s 440
11 böhme: atmosphäre; s 29
12 böhme: atmosphäre; s 31
13 böhme: atmosphäre; s 33f.
14 seel, martin: ästhetik des erscheinens; münchen, wien 2000; s 152f
15 vgl. benjamin: das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit
16 vgl. foucault, michel: überwachen und strafen; frankfurt 1994
17 balázs, béla: der geist des films; berlin 1984, s53
18 wolfrum, sophie: szene stadt – der raum der stadt; – in: perspektive landschaft. hrsg. vom institut für landschaftsarchitektur und umweltplanung. berlin 2006; s 259
19 wolfrum: szene stadt; s 259
20 burckhardt: landschaft; s 257f
21 böhme: atmosphäre; s 47f

bibliographie

– burckhardt, lucius: warum ist landschaft schön? die spaziergangswissenschaft. kassel 1980
– de certeau, michael: kunst des handelns. berlin 1988
– holling, eva: ist alles gespielt? blicke auf den stadtraum im neuen theater. marburg 2007
– de saussure, ferdinand: grundfragen der allgemeinen sprachwissenschaft. berlin 1967.
– barthes, roland: semiologie und stadtplanung. – in: ders.: das semiologische abenteuer, frankfurt/main 1988
– augé, marc: orte und nicht-orte. vorüberlegungen zu einer ethnologie der einsamkeit. frankfurt/main 1994
– böhme, gernot: atmosphäre. frankfurt/main 1995
– benjamin, walter: das kunstwerk im zeitalter seiner technischen reproduzierbarkeit. –in: gesammelte schriften, bd.I,2. frankfurt/main 1974
– seel, martin: ästhetik des erscheinens. münchen, wien 2000
– foucault, michel: überwachen und strafen. frankfurt 1994
– balázs, béla: der geist des films. berlin 1984
– wolfrum, sophie: szene stadt – der raum der stadt. – in: perspektive landschaft. hrsg. vom institut für landschaftsarchitektur und umweltplanung. berlin 2006

aus: Andreas Staudinger, Pirsch. Materialien für ein topisches Theater, Kaiserverlag Wien 2008. S. 25-49.