Wir müssen draußen bleiben

Stigmatisierung, Marginalisierung und Exklusion als zentrale Reflexe bürgerlicher Krisenideologie und -praxis

von Tomasz Konicz

aus: Telepolis 28.3.2012

Vergangenen Monat musste Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) harsche Kritik für seinen Vorstoß einstecken, das in sozioökonomische Desintegration übergehende Griechenland möglichst kostengünstig zu entsorgen. Der bayrische Hardliner im Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel legte Athen kurz vor der Abstimmung über ein weiteres sogenanntes „Hilfspaket“ für Griechenland nahe, doch endlich „freiwillig“ aus der Eurozone auszuscheiden. Die Dementis aus dem Regierungslager folgten prompt, bei denen etliche Regierungskollegen von einem „falschen Signal“ sprachen und auch Merkels Sprecher sich ausdrücklich distanzierte.

Dennoch stand – und steht – Friedrich wahrlich nicht alleine dar. Neben weiteren Parteifreunden – wie etwa Bayerns Finanzminister Markus Söder -, die sich an die Seite Friedrichs stellten, wächst auch innerhalb des deutschen Managements der Unwille gegenüber Athen, wie eine Umfrage des Manager Magazins unter rund 300 „Führungskräften“ der deutschen Industrie ergab, bei der 57 Prozent für ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone plädierten. Klartext sprach in diesem Zusammenhang auch der Bosch-Chef Franz Fehrenbach, der im Interview mit dem Manager Magazin Athen zum Austritt auffordert. Griechenland sei „marode und in einer Solidargemeinschaft eine untragbare Belastung“, so Fehrenbach unter Anwendung des inzwischen beim deutschen Griechenland-Diskurs üblichen Neusprech. Deutschlands Industriekapitäne können hierbei einen Großteil der lohnabhängigen Bevölkerung hinter sich wissen, die sich bei einer Emnid-Umfrage zu 63 Prozent gegen weitere Hilfen für Griechenland aussprach.

Die in der Bevölkerung dominierende Stimmungslage, die anhand dieser Umfrageergebnisse zutage tritt, ist somit von reflexartigen Tendenzen zur Exklusion, zum Ausschluss der als übermäßige Kostenfaktoren – als das sprichwörtliche „Fass ohne Boden“ – stigmatisierten Griechen geprägt. Die Mehrheitsmeinung will keine weiteren Milliarden für „die faulen und korrupten Griechen“ mehr „verschwenden“. Stattdessen sollen sich „die Griechen selber helfen“, wie es Söder formulierte.

Im Endeffekt zielen diese populistischen Forderungen darauf hinaus, die Krisenkosten zu beschränken, ein im Zusammenbruch befindliches Land zu „entsorgen“. Denn selbstverständlich würde das in den Kollaps getriebene Mittelmeerland bei einem Austritt aus der Eurozone eine irreversible Kapitalflucht erfahren, deren Folgen Griechenland auf das gesellschaftliche Niveau eines Dritte-Welt-Staates fallen ließen. Dieser in der deutschen Öffentlichkeit aufkommende Wunsch nach einer raschen Beseitigung des Kostenfaktors Athen ist um so problematischer, da es ja maßgeblich die Kahlschlagpolitik der Regierung Merkel war, die Athen in die gegenwärtige Depression getrieben hat. Die Folgen des Scheiterns der deutschen Austeritätspolitik soll somit allein die Bevölkerung Griechenlands tragen, indem das Land aus der Eurozone ausgeschlossen wird.

Dieser populistisch ausgeschlachtete Reflex zur Exklusion von Krisenopfern bildet ein grundlegendes Element der gegenwärtigen Krisenideologie, deren Grundannahmen beängstigend primitiv sind: Die Krisenopfer werden zur Ursache der Krise halluziniert. Somit findet eine Personifizierung der Krisenursachen statt, bei der die imaginierten Eigenschaften, oder das angebliche Fehlverhalten der Krisenopfer zum Auslöser der gegenwärtigen Verwerfungen erklärt werden. Im Falle Griechenlands – wie auch abgeschwächt Südeuropas – sind ja die entsprechenden Krisenmythen längst zum Allgemeingut geworden, denen zufolge die Sparmaßnahmen in Hellas an der ausartenden Korruption, Vetternwirtschaft und der massenhaften Steuerhinterziehung gescheitert seien. Die Griechen hätten aufgrund ihrer – kulturell oder rassisch bedingten? – Neigung zur Vetternwirtschaft und Steuerhinterziehung die gegenwärtige Krise ausgelöst und deren Überwindung hintertrieben, so das populistische Mantra hierzulande – das sich angesichts eines wegen Vetternwirtschaft zurückgetretenen Bundespräsidenten und eines bundesweiten Volumens an jährlichen Steuerhinterziehungen von rund 30 Milliarden Euro recht skurril ausnimmt.

Krise der EU und Europaskepsis

Die in der Bundesrepublik um sich greifende Europaskepsis, wie die damit korrespondierende Neigung, allgemeine Missstände des Kapitalismus oder bestimmte Krisenphänomene auf „den Griechen“ oder „die Südeuropäer“ zu projizieren, hat aber ein handfestes ökonomisches Fundament. Zum einen wird Südeuropa aufgrund der dort einsetzenden Rezession nicht mehr eine zentrale Rolle als Absatzmarkt der deutschen Industrie spielen können, sodass die enormen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands gegenüber diesen Ländern zwangsläufig abnehmen, während die Krisenkosten weiter ansteigen werden. Europa droht somit zu einem schlechten Geschäft für Deutschlands Exportindustrie zu verkommen.

Andrerseits würde der Ausschluss Griechenlands – und perspektivisch auch weiterer südeuropäischer Euroländer – nur den Folgen des bisherigen Krisenverlaufs auch institutionell auf europäischer Ebene Rechnung tragen. Griechenland erlebt aufgrund des deutschen Spardiktats einen dauerhaften sozioökonomischen Einbruch, der nicht mehr von einem Abschwung abgelöst wird. Ähnliche Tendenzen zum permanenten Abstieg in die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems deuten sich in Spanien, Portugal und abgeschwächt auch in Italien an. Es ist, als ob sich im Gefolge der Krise die „Dritte Welt“ von Nordafrika aus nordwärts über das Mittelmeer bis nach Südeuropa ausbreiten würde und die relativen „Wohlstandsinseln“ in Europa weiter abschmelzen würden.

Die Expansion der „Dritten Welt“ über das Mittelmeer löst somit gegenüber Südeuropa auch dieselben Reflexe aus, wie sie gegenüber den Krisenopfern aus Afrika längst politischer Konsens sind: Schotten dicht, selbst wenn hierbei Tausende absaufen. Dabei bildet der gegenwärtige Krisenschub nur die jüngste Phase einer fundamentalen Systemkrise des Kapitalismus, die sich in einem jahrzehntelangen Prozess von der Peripherie ins Zentrum des Weltsystems frisst. Das Scheitern von Modernisierungsstrategien, Zusammenbrüche der Industrie und drakonische Austeritätsprogramme des IWF durchlebten in den 1980ern viele der Staaten der „Dritten Welt“, die im hiesigen Diskurs höchstens in Zusammenhang mit Flüchtlingsabwehr noch Erwähnung finden. Die Region wirtschaftlich „verbrannter Erde“, wo kaum noch Warenproduktion im volkswirtschaftlich nennenswerten Maßstab vonstattengeht, rückt somit weiter an die Zentren des kapitalistischen Weltsystems heran.

In diesen abschmelzenden Regionen des relativen Wohlstands gewinnen die illusionären Vorstellungen überhand, mittels der Exklusion der neuen südeuropäischen Krisenopfer die eigene soziale und wirtschaftliche Position aufrechterhalten zu können. Wenn in der herrschenden Ideologie die Krisenopfer als die Schuldigen der Krise imaginiert werden – und nicht die Widersprüche des Kapitalismus -, dann könnte der Krise einfach durch deren Ausschluss ein Ende gesetzt werden. Diese Krisenpolitik des Ausschlusses der Krisenverlierer beschränkt sich somit darauf, die Krise zu exekutieren: Die im Krisenverlauf ökonomisch marginalisierten Menschen werden nun auch politisch und institutionell marginalisiert. Diese widerliche Krisentendenz besteht somit darin, die gesamte Last der Krisenauswirkungen einfach auf die Krisenopfer abzuwälzen.

Die auf europäischer Ebene zunehmende Tendenz zur Exklusion der Krisenverlierer schlägt sich längst auch auf die bundesdeutsche Innenpolitik nieder. So lässt die Bundesregierung das seit 1953 geltende europäische Fürsorgeabkommen aushebeln, das auf Arbeitssuche befindlichen EU-Bürgern Anrecht auf Sozialleistungen gewährt. Künftig sollen somit EU-Ausländer kein Hartz IV beantragen können. Das Heer der Marginalisierten Südeuropas, das nicht zuletzt aufgrund der von Berlin europaweit durchgesetzten Austeritätspolitik rasch anschwillt, soll somit von der Inanspruchnahme der kümmerlichen Überreste des einmaligen deutschen Sozialstaates ausgeschlossen werden.

Arbeitsplatzkonkurrenz, Mobbing, Sexismus

Dabei unterliegen die unter dem Begriff Hartz IV zusammengefassten Arbeitsgesetze derselben Krisenlogik von Stigmatisierung und Exklusion der Krisenverlierer, wie sie derzeit auch gegenüber Südeuropa zur Entfaltung gelangt. Auch binnenpolitisch konnten die Opfer der Krise der Arbeitsgesellschaft als deren Verursacher stigmatisiert werden. Die Einführung von Regelsätzen auf Armutsniveau, Zwangsarbeit und umfassender Entmündigung von Arbeitslosen in Deutschland wurde von einer entsprechenden Kampagne begleitet, in der der Missbrauch von Sozialleistungen und die angebliche Faulheit und Passivität der aus dem Erwerbsleben herausgefallenen Menschen skandalisiert wurden. Die Opfer der Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft wurden so – ähnlich den Südeuropäern heute – zu den Krisenverursachern aufgebaut. Wiederum folge hier eine Exekution des Krisenverlaufs statt, bei der die ökonomisch marginalisierten Menschen nach ideologischer Stigmatisierung auch institutionell und rechtlich marginalisiert wurden – bis hin zur Zwangsarbeit und Aufhebung der Niederlassungsfreiheit.

Die Durchsetzung der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 erwies sich aber für die deutsche Industrie als voller Erfolg, die von dem fallenden Lohnniveau und der zunehmenden Prekarisierung des Arbeitslebens in Deutschland in Gestalt wachsender Exportüberschüsse profitieren konnte. Für die Lohnabhängigen brachte die Agenda 2010 hingegen eine Intensivierung der Leistungshetze und die damit einhergehende zunehmende Arbeitsplatzkonkurrenz mit sich. Die Furcht vor der totalen Marginalisierung bei Arbeitsplatzverlust, die seit Einführung von Hartz IV im Arbeitsleben vieler Lohnabhängigen virulent ist, ließ nicht nur die Löhne absinken – sie führte auch zu zunehmender Konkurrenz untereinander. Inzwischen opfern viele Lohnabhängige sogar das Mittagessen dem Bemühen, als „besonders engagiert“ zu erscheinen. Der Krisenreflex zur Exklusion äußert sich auch auf betrieblicher Ebene in zunehmendem Mobbing von Kollegen, die als Arbeitsplatzkonkurrenten wahrgenommen werden, oder in dem inzwischen zur Volkskrankheit avancierten Burnout-Syndrom.

Auf die mit zunehmender Prekarisierung und Arbeitsplatzunsicherheit einhergehende Krise der Arbeitsgesellschaft reagieren viele Lohnabhängige leider tatsächlich mit Mobbingattacken – mit dem Reflex zur Exklusion von Konkurrenten. Mittlerweile scheinen sich diese systematischen Schikanen zu einem regelrechten Massenphänomen entwickelt zu haben, wie eine im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz- und Arbeitsmedizin durchgeführte Studie ergab:

Danach ist potenziell jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland mit systematischen Intrigen, Schikanen und Benachteiligungen am Arbeitsplatz konfrontiert. Vor allem Chefs und Vorgesetzte sind dabei die Aggressoren.

Diese „schleichende Entsolidarisierung“ ist auch innerhalb der ohnehin abschmelzenden Arbeiterschaft zu konstatieren, wie eine soziologische Studie der Universität Jena konstatierte. Es entwickele sich innerhalb vieler Stammbelegschaften eine Art von „Wagenburgmentalität“, mit der die eigene Stellung als festangestellter Lohnarbeiter verteidigt werden soll: „Die eigenen Chancen auf Beschäftigungssicherheit steigen, wenn man den Club der Festangestellten einigermaßen exklusiv hält.“ In den Belegschaften mache sich das Gefühl breit, das „es nun nicht mehr für alle reicht“. Wie weit die Reflexe zur Exklusion, zum Ausschluss von Krisenopfern auch innerhalb der Arbeiterschaft verbreitet sind, legten Befragungen im Rahmen der Studie offen:

Mehr als die Hälfte der Befragten (westdeutschen Facharbeiter) ist der Meinung, auf Arbeitslose solle größerer Druck ausgeübt werden, ein weiteres Drittel stimmt dem zumindest teilweise zu. Und fast die Hälfte bejaht die Aussage: „Eine Gesellschaft, in der jedermann aufgefangen wird, ist nicht überlebensfähig.

In dem Komplex der zunehmenden Arbeitsplatzkonkurrenz lässt sich auch die neudeutsche Frauenfeindschaft einfügen. Bei dieser neuen deutschen Welle des Sexismus wird ja oftmals eine massive Bevorteilung von Frauen durch eine allmächtige feministische Bewegung halluziniert, die in Anlehnung an den neurechten Diskurs als ein Exzess der „politischen Korrektheit“ wahrgenommen wird, der zur massiven Benachteiligung von Männern durch wild gewordene „Emanzen“ führt. Diese Wahnideen können angesichts der massiven Benachteiligung von Frauen in Deutschland nur deswegen um sich greifen, weil sie als ein ideologisches Instrument bei der verstärkten Arbeitsplatzkonkurrenz greifen, mit dem Männer etwaige Emanzipationsbestrebungen von Frauen im Berufsleben abwehren können. In keinem anderen Land Europas ist der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern – durchschnittlich 22 Prozent! – so hoch wie in Deutschland.

Alle Versuche, diese Benachteiligung von Frauen im Berufsleben zumindest etwas zu verringern, erscheinen den sich darüber empörenden Kritikern der Emanzipation als ein Akt der Diskriminierung – von Männern. Der neue deutsche Sexismus, der sich über den „Tugendterror politsicher Korrektheit“ empört, bedient sich somit selber – verzerrter – Argumentationsmuster der politischen Korrektheit. Beide Geschlechter sollen absolut gleich behandelt werden, so das scheinbar politisch korrekte Mantra der Antifeministen. Dadurch wird gerade die bestehende Ungleichheit und geschlechtsspezifische Diskriminierung im Arbeitsleben verfestigt.

Indes geht es bei diesem Antifeminismus längst nicht mehr darum, die reaktionären, erzkonservativen Frauenrollen gesellschaftlich durchzusetzen, die Weiblichkeit in der Sphäre jenseits der Lohnarbeit verorten (Küche, Kinder und Kirche). Der Kritiker des Feminismus sieht in der Frau vor allem den Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, den es bei dem Hauen und Stechen um gute Jobs aus dem Feld zu schlagen gilt. Alle Programme, die der strukturellen Benachteiligung von Frauen im Berufsleben entgegenwirken sollen, werden so als „Wettbewerbsverzerrung“ wahrgenommen.

Rassismus, Xenophobie und Krise

Die Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft produziert weltweit immer größere Massen von Menschen, die im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik unnütz sind, die nicht mehr gebraucht und verwertet werden können. Für die herrschende Ideologie, die den kriselnden Kapitalismus längst zu einer Naturvoraussetzung menschlicher Existenz schlechthin erklärt hat, haben diese „Ausgegrenzten der Moderne“ (Zygmunt Bauman) ihre Marginalisierung selbst verschuldet. Es geht nur noch darum, ideologisch diese Personifizierung der Krisenursachen zu rechtfertigen – es muss nur noch erklärt werden, wieso die Krisenopfer als Krisenverursacher angesehen werden sollen.

Die zentralen ideologischen Mittel zur Stigmatisierung der Krisenverlierer bilden Rassismus, Chauvinismus und Xenophobie. In Deutschland hat Thilo Sarrazin in dieser Hinsicht Pionierarbeit geleistet, indem er die Ressentiments gegen Ausländer und Arbeitslose zu einem einzelnen Feindbild einer unnützen und „überflüssigen“ Bevölkerungsschicht verschmolz:

In Berlin leben zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, von Hartz IV und Transfereinkommen. … Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. … Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht.

Die Tatsache einer beständig wachsenden „Unterschicht“ von wirtschaftlich überflüssigen Menschen wird von Sarrazin wahrgenommen, doch führt er die Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe auf deren „minderwertige“ genetische Ausstattung zurück. In dem rassistischen und biologistischen Delirium Sarrazins, das hierzulande so viele begeisterte Anhänger fand, sind es die schlechten Gene, die dazu führen, dass die Unterschicht dumm bleibt. Wiederum haben wir es mit der ideologischen Personifizierung der Krisenursachen zu tun: Die wachsende Unterschicht trägt aufgrund mangelhafter Gene die Schuld an ihrer Existenz.

Im Zentrum der Obsessionen Sarrazins stehen aber vor allem die Zuwanderer aus der Türkei – und auch dies ist ein Reflex auf den Krisenverlauf. Selbstverständlich trifft diese Krise der Arbeitsgesellschaft zuerst die Arbeitsmigranten, die ja in die BRD angeworben wurden, um die einfachen Dreckarbeiten zu erledigen, die während des Booms der 50er und 60er Jahre kaum ein Deutscher mehr verrichten wollte. Es sind aber gerade diese einfachen Tätigkeitsfelder, die in den letzten Dekaden von den Rationalisierungsprozessen besonders stark erfasst wurden. Jetzt, da die billigen Arbeitskräfte aus der Türkei nicht mehr gebraucht werden, erklärt ein Sarrazin diese Muslime für genetisch minderwertig und leitsungsunwillig:

So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen – bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten – eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlich hohen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.

Sarrazin empfiehlt als Lösungsstrategie, das „Auswachsen“ – also das Aussterben – der betreffenden überflüssigen Bevölkerungssicht zu fördern. In vielen krisengeschüttelten Regionen Osteuropas bringt der ressentimentgeladene Mob diese Geduld beim Umgang mit den Krisenopfern nicht mehr auf – er will der Biologie auf die Sprünge helfen. In mittelosteuropäischen Ländern wie Ungarn (Ungarn: „Kultur des Faschismus“), Bulgarien (Bulgarien in Pogromstimmung) oder Tschechien (Rassismus und Rechtsextremismus gedeihen in Osteuropa) ist es vor allem die Minderheit Roma, die unter der zunehmenden Exklusion und Stigmatisierung zu leiden hat. Der zunehmende antiziganische Hass manifestiert sich in einer Reihe von Pogromen, Mordanschlägen und rechtsextremen Kampagnen gegen die „Zigeuner“.

An den Roma wurde die rassistisch motivierte Ausgrenzung im krisengeschüttelten Spätkapitalismus ins Extrem getrieben. Die Roma bilden die extremste Personifikation der Exklusionstendenzen in dieser Krise. Die Mitglieder dieser marginalisierten Minderheit wurden innerhalb weniger Jahrzehnte in nahezu allen osteuropäischen Ländern aus der kriselnden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft gedrängt, sodass die Arbeitslosenquote innerhalb der Roma dieser Region zumeist bei weit über 50 Prozent liegt. Die nahezu konsensartigen Ressentiments und die allumfassende, apartheidsgleiche Diskriminierung der Roma in vielen Staaten Osteuropas führen dazu, dass alle wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen zuerst diese Gruppe treffen. Die Roma in Osteuropa kriegen somit zuerst die Folgen der Krise der Arbeitsgesellschaft zu spüren – sie werden als Erste gefeuert und als Letzte angestellt.

Den arbeitslosen und verelendeten Roma – die keine Anstellung finden können – wird von den Rechtsextremisten Osteuropas dann vorgeworfen, nicht arbeiten zu wollen und kriminell zu sein. Somit erschafft sich der Antiziganismus seine eigenen Feindbilder, indem er die Folgen der Diskriminierung der Roma – wie Arbeitslosigkeit und Elendskriminalität – zu den kollektiven Eigenschaften der Roma erklärt. Gemeinsam ist diesem an Intensität gewinnenden Antiziganismus die Darstellung der Roma als kriminell und als arbeitsscheu. Die Zigeunerhasser sehen ihren Hass aufgrund des Verhaltens der Roma wohlbegründet, die sich „nicht einfügen“ würden in die kapitalistische Arbeitsgesellschaft, und anstatt „ehrlicher Arbeit“ nachzugehen, lieber kriminell würden. Der „Zigeuner“ wird hierbei zum „arbeitsscheuen Parasiten“ ideologisiert, der vermittels seiner kriminellen Energie auf Kosten der Mehrheitsbevölkerung leben würde.

Diese antiziganischen Wahnbilder des „ewigen arbeitsscheuen Zigeuners“ können selbstverständlich nur unter Ausblendung der historischen Gegebenheiten in allen ehemals sozialistischen Gesellschaften aufrechterhalten werden: Die Roma haben während des real existierenden Sozialismus selbstverständlich ebenfalls arbeiten müssen. In vielen sozialistischen Ländern waren Roma als Landarbeiter oder als ungelernte Hilfskräfte in der Industrieproduktion tätig. Die Roma waren also in der staatssozialistischen Arbeitsgesellschaft zumindest marginal integriert, da sie zumeist einfache Tätigkeiten ausübten, die keine größeren Qualifikationen erforderten. Gerade diese Tätigkeitsfelder sind nach der Systemtransformation verschwunden.

Gut zwei Jahrzehnte reichten somit aus, um eine rassistische Ideologie erneut zum Vorschein zu bringen, die den im Staatssozialismus proletarisierten Roma eine prinzipielle Arbeitsunfähigkeit andichtet. Für das Elend der Roma werden in dieser Ideologie die Roma selber verantwortlich gemacht. Den Pogromteilnehmern in Tschechien, Ungarn oder Bulgarien scheint es somit, als ob Kriminalität, Verelendung und Arbeitslosigkeit im Gefolge der Vertreibung oder Ermordung der Roma ebenfalls verschwinden würden.

Alle gegen Alle

Ähnliche Verdrängungstendenzen der Mehrheitsgesellschaft kommen gegenüber den osteuropäischen Arbeitsmigranten zum Ausdruck, die vor Krisenausbruch in 2008 in vielen Ländern Westeuropas massenhaft zur Verrichtung unbeliebter und unterbezahlter Arbeiten angeworben wurden. In Holland etwa startete die rechtsextremistische sogenannte „Freiheitspartei“ des fanatischen Islamhassers Geert Wilders eine regelrechte Kampagne gegen Zuwanderer aus Osteuropa, bei der eine eigens eingerichtete Website zum Denunziantentum gegenüber Arbeitsmigranten aus Osteuropa aufruft. Zehntausende von Niederländern haben sich seit dem Start der Kampagne über „Arbeitsplatzklau“, Kleinkriminalität, Trunkenheit oder einfach nur Ruhestörung durch Osteuropäer beschwert. Die Motivation hinter dieser anschwellenden Tendenz zur Exklusion von ethnischen oder nationalen Minderheiten wird ebenfalls von diesem dumpfen, feindseligen Gefühl befeuert, dem zufolge es nun in der Krise „nicht mehr für alle reicht“.

Der Befund scheint deprimierend: Ob nun auf europäischer Ebene, im nationalen Rahmen, im Betrieb oder gegenüber Minderheiten: Die von der Krisendynamik betroffenen Menschen neigen dazu, übereinander herzufallen, anstatt die Verhältnisse infrage zu stellen, die sie in die Enge treiben. Bei dieser zunehmenden Exklusion immer größerer Menschengruppen werden nur die dem Kapitalismus eigenen Grundprinzipien ins extrem getrieben.

Konkurrenz und Selektion bilden die grundlegenden sozialen Mechanismen kapitalistischer Vergesellschaftung, denen alle Lohnabhängigen nun verstärkt unterworfen werden. Die korrespondierenden Ideologien des Rassismus, Sexismus und der Xenophobie verstärken und legitimieren den Drang, die „Überflüssigen“ Bevölkerungsschichten loszuwerden. Immer mehr Menschen müssen so „draußen bleiben“, während der Konkurrenzkampf innerhalb der abschmelzenden Mittelschichten immer brutaler wird. Tendenziell führt dieser Drang zur Exklusion in die Barbarei – der Konkurrenzkampf aller gegen alle würde zugespitzt in den totalen Krieg aller gegen alle münden.

Diese irre Krisenideologie reflektiert dabei nur den irrsinnigen Charakter der Krise. Die Ausgrenzung und Marginalisierung immer größerer Menschengruppen vollzieht sich gerade deshalb, weil der Kapitalismus an seiner Produktivität erstickt. Das Elend breitet sich also gerade deswegen aus, weil die Produktionspotenzen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen immer weiter anwachsen. Die Wahnvorstellung „Es reicht nicht für alle“ kann nur deshalb um sich greifen, weil die absurden Reproduktionsformen des Kapitalismus – bei denen die ganze Gesellschaft nur als eine Voraussetzung der selbstzweckhaften Kapitalakkumulation ihre Daseinsberechtigung hat – nicht infrage gestellt werden.

Das „Es“, dass da nicht mehr für „alle“ reicht, ist der kollabierende Prozess der Kapitalakkumulation, aus den immer mehr Menschen herausfallen. Die materiellen und technologischen Voraussetzungen eines guten Lebens für alle Erdenbewohner sind aber trotz voranschreitender ökologischer Verwüstungen immer noch gegeben – und sie verbessern sich permanent mit dem Fortschritt der Produktivkräfte, der gegenwärtig die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengt.