Selbstentfaltung

von Stefan Meretz

Have a lot of fun, lautet der legendäre Hackergruß. Spaß haben? Steht das nicht für die inhaltsentleerte dumpf-blöde „Spaßkultur“ von Comedy & Co? Weit gefehlt. Der Gruß verweist auf die Motivation, sich einer komplexen selbstgestellten Aufgabe hinzugeben – wie die der Entwicklung von Software oder anderen nützlichen und schönen Dingen. Das Entscheidende dabei ist die Freiwilligkeit, ist es, sich lustvoll einem selbstgewählten Ziel zu verschreiben, ist die Identität von Zweck und Selbstzweck.

Im emanzipatorischen Kontext wird für diese Form der Motivation der Begriff Selbstentfaltung verwendet. Das ist eine terminologische Gratwanderung, verwenden doch auch allerlei Esoteriken diese Bezeichnung, meinen damit aber etwas anderes. Es geht gerade nicht um eine Identität mit außerweltlichen Mächten, um ein Aufgehen im Nirwana, um die Unterordnung unter anderes oder andere. Sondern um Selbstbestimmung und Autonomie in Kooperation mit anderen.

Es geht auch nicht um ein bürgerliches Konzept der „Selbstverwirklichung“, das schon vom Wort her nahelegt, es gäbe dort ein fixes, identitäres „Selbst“, das nur mehr „wirklich“ werden müsse, das sich nur die passenden Accessoires zulegen müsse, um sich mit und in ihnen zu finden. Selbstverwirklichung als Warenmonade. Ich kaufe, also bin ich – selbst?

Marx und Engels definierten Selbstentfaltung im Kommunistischen Manifest als die „freie Entwicklung eines jeden“, die die „Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist. Sinngemäß, denn das heutige Wort kannten sie nicht. Aber den Kern hatten sie erfasst: Selbstentfaltung ist die Selbstentwicklung, die die Entwicklung aller anderen Menschen voraussetzt. Die anderen sind hier nicht mehr aus ethischen oder anderen äußerlichen Erwägungen freundlicherweise einzubeziehen, sondern sie sind einbezogen, strukturell und bedingungslos.

Selbstentfaltung hat zwei zentrale Voraussetzungen: Commons und Peering. Commons ist die Alternative zur Warenform. Es ist die soziale Form, in der die lebensnotwendigen Dinge nicht in getrennter Privatproduktion erzeugt und in einem nachgeschalteten Tausch vermittelt werden, sondern in der die Lebensbedingungen in einer im Vorhinein vermittelten und bedürfnisgetriebenen Weise entstehen.

Peering beschreibt dabei das Moment der Vermittlung im Vorhinein. Peering bedeutet Kommunikation und Verhandlung der Beteiligen als Gleichrangige. Peering ist ein Aspekt der Inklusionslogik. Peering konstruiert keine Anderen, die auszuschließen sind, sondern identifiziert andere Peers, die einbezogen werden. Für die Überwindung von Sexismus, Rassismus und sozialphobischen Ismen ist dies eine entscheidende Voraussetzung, wenn auch keine Garantie.

Selbstentfaltung bedeutet, sich als das zu erfahren, was wir alle sind: gesellschaftliche Menschen in der menschlichen Gesellschaft. Das ist nichts Besonderes, denn das sind wir immer. Nur erfahren wir es nicht. Wir erfahren uns getrennt von anderen. Ich mache mein Ding, die anderen ihres. Sich die eigene Entwicklung als von anderen getrennte vorzustellen, ist eigentlich absurd und dennoch gängig, denn wir erleben es so.

Selbstentfaltung erzeugt echte, lebendige Motivation, eine Motivation, die unter dem Diktat der allgegenwärtigen Verwertung nicht mehr zu haben ist. Doch lassen sich Motivation und Verwertung nicht geschickt kombinieren, lässt sich Selbstentfaltung nicht auch kaufen? So ermuntert uns das postmoderne Kapital: „Tu was du willst, Hauptsache, es rechnet sich.“

Die Antwort ist als Crowding-out-Effekt bekannt geworden. In zahlreichen Studien wurde untersucht, wie sich Menschen verhalten, wenn man ihnen für das, was sie ohnehin gerne tun, Geld gibt, wenn man selbstzweckhaftes Tun mit Belohnung und fremder Zweckerfüllung verbindet. Ob bei Kindern oder Erwachsenen, bei Armen oder Gutsituierten, es zeigt sich: Anstrengung und Ergebnisse gehen in den Keller. Es ist frustrierend, ja beleidigend, für eine lustvoll ausgeübte Tätigkeit „belohnt“ zu werden. Anerkennung ja, Bestechung nein.

Der Lustvertreibungseffekt allerdings, so ein zweites Ergebnis, zeigt sich nur unter den Bedingungen einer halbwegs abgesicherten Lebenssituation. Empfinden Menschen einen erheblichen Existenzdruck, so bleiben Anstrengung und Ergebnisse hoch oder nehmen gar zu, sofern Geld als Resultat winkt. Doch handelt es sich hier nicht um tatsächlich motivierte Aktivitäten, sondern um motivationsförmig verinnerlichten Zwang unter dem Druck prekärer Verhältnisse.

Wir alle kennen solche Gedanken: „Ich muss mich motivieren, um die Aufgabe anzupacken.“ Oder noch direkter: „Ohne Termindruck kriege ich gar nichts auf die Reihe.“ Dabei ahnen oder wissen wir doch: Sobald ich mich „zu etwas motivieren“ muss, ist es keine Motivation, sondern Überredung und Zwang. Selbst ausgeübter innerer Zwang, der sich als Motivation tarnt. Myriaden von Motivationsseminaren vermitteln die „Selbsttechniken“ dazu. Die Botschaft: „Es liegt allein an Dir.“

Selbstentfaltung und wirkliche Motivation sind etwas anderes. In der motivierten individuellen Entfaltung realisiere ich meine Potenz als Gesellschaftswesen auf eine reziprok-inklusive Weise. Unter kapitalistischen Rahmenbedingungen geht dies nur in Subräumen, die wir uns erst schaffen müssen, und das auch nur begrenzt. Aber es ist die Kraft, die die commonsbasierte Peer-Produktion vorantreibt.

Selbstentfaltung ist der Kern des Kommunistischen, und Kommunistisches ist in aller Geschichte. Es gab immer Menschen, die alle Schranken ihrer individuellen Entfaltung hinwegzuräumen trachteten, nur waren bisher die Bedingungen nicht danach. Eine verallgemeinerte reziproke Inklusion ließ sich nicht erreichen, irgendwann ging es immer auf die Knochen von Subalternen.

Das kann heute anders werden. Der Kapitalismus, die Inkarnation der strukturell-allgemeinen reziproken Exklusion, hat gerade jene materiellen Bedingungen geschaffen, die Selbstentfaltung nicht nur ermöglichen, sondern auch verallgemeinerbar machen können. Dafür ist es jedoch erforderlich, sich der Voraussetzungen der Selbstentfaltung bewusst zu werden.