Lauter Lustbarkeiten – trotz alledem

von Maria Wölflingseder

Am Ende von Interviews werden Künstler/innen und Wissenschaftler/innen gerne gefragt, worum es im Leben gehe. Oft kommt darauf die Antwort: „Um Liebe und Tod.“ – Ja, aber was ist mit der Lust? Mit der Lust in all ihren unendlichen Variationen? Lust, der Welt mit allen Sinnen zu begegnen:feinfühlig,hellhörig, scharfsichtig, geruchs-undgeschmacksintensiv?Was ist mit der Neugierde? Auf Menschen, von denen wir uns angezogen fühlen, die wir begehren, denen wir uns seelenverwandt fühlen? Auf Städte mit ihren Plätzen und ihrer Architektur, die uns staunen machen? Auf die Natur mit all ihren Geheimnissen und Wundern. Auf Landschaften in all ihren faszinierenden Formationen, die uns mitunter nicht mehr loslassen? Auf die Magie von Gewässern, die wir am liebsten nie wieder verlassen würden? Und was ist mit der Neugierde auf die phantastischen Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst? Was ist mit der Lust auf alles Spielerische? Auf alles Verführerische? Was ist mit der Neugierde auf Erfahrungen und Erkenntnisse? Was ist mit der Lust auf den ewigen Reigen von Eindruck und Ausdruck? Lust, sich hinzugeben, sich überraschen und beeindrucken zu lassen? Und Lust, wiederum sich auszudrücken, um andere zu überraschen?

 

Brennen – Leuchten – Funkeln

Lust ist nicht nur eine herbeigesehnte körperliche, geistige und seelische Verfassung, sondern sie erfordert auch unsere Bereitschaft. Unsere Bereitschaft zu Empfänglichkeit. Der reisende Schriftsteller Bernhard Hüttenegger stellt fest: „Das Abenteurertum beginnt mit der Erlebnisfähigkeit. Der Sensibelste ist der größte Abenteurer.“ (S. 67)

Ist Lust nicht Voraussetzung und Ergebnis? Ist Lust nicht Ursprung und „Gewinn“ von Staunen und Freude, von Spontaneität und Humor, von Leidenschaft und Faszination, von Ironie und Leichtigkeit, von Inspiration und Kreativität, von Sinnlichkeit und Begehren, von Freundschaft und Liebe? Ein Perpetuum mobile? – Und ist Lust nicht eine unbändige Lebenskraft? Ist nicht in jeder Lust auch Eros? Das Erotische ist ja weit mehr als nur der sexuelle Trieb. Ist Lust nicht Quelle, Beweggrund und Ernte des Daseins?

Einem, dem es großartig gelungen ist, viele Facetten der Lust zu erleben und aufs anschaulichste und innigste mitzuteilen, ist Stefan Zweig. Seine Reiseberichte, seine Aufsätze und Vorträge und seine Werke über andere Dichter und Wissenschaftler zeugen von höchst feinsinniger, leidenschaftlicher Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit. Welch atemberaubender Zauber! Welch seltener Gleichklang mit meinem eigenen Empfinden und Erkennen. Zweig gelingt das exzellente Kunststück, Gegensätzliches lustvoll zu verknüpfen. Die Texte sind überaus intim und gefühlvoll, und gleichzeitig äußerst klar und nüchtern reflektiert und präzise formuliert. „… meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind gering. Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen, Geschehnissen und Gestalten…“ (Zweig 1960, S. 114) Gerade dadurch werden seine Erlebnisse und Erkenntnisse so plastisch, so lebendig.

Lust wird in Stefan Zweigs Reisetexten oft direkt angesprochen: „…um der Lust willen des Nicht-zu-Hause-Seins und deshalb Nicht-sich-selbst-Seins“ (2004, S. 261), „…jede Reise“ wird „zur Entdeckung nicht nur der äußeren, sondern auch unserer eigenen inneren Welt.“ (S. 263) Darin liege „alle Wollust“. (S. 417) – In „Die Welt von gestern“ beschreibt Zweig in einem eigenen Kapitel das Paris in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Um wie viel sinnlicher und aufgeschlossener war diese Stadt, verglichen mit allen anderen europäischen. „Schon das bloße Flanieren war eine Lust und zugleich eine ständige Lektion…“ (1960, S. 150)

 

Lust nach Vorschrift?

Was ist heute aus der Lust, die Welt mit allen Sinnen offenherzig zu entdecken und kreativ in ihr zu wirken, geworden? Wurde sie nicht regelrecht zu einer Pflicht gemacht? Wenn etwas ständig beschworen wird, ist Gefahr in Verzug. Nicht unsere eigenen Ideen und Vorstellungen nämlich sollen wir verwirklichen, sondern all unsere Fähigkeiten lustvoll in den Dienst der Verwertung, der ökonomischen Effizienz stellen. Und wer keinen Job hat, muss doppelt so optimistisch strahlen. Vergeht einem da nicht alle Lust? Offenbar nicht. Früher wurde Arbeit als Mühsal und Zwang betrachtet, heute wird sie zum Genuss erklärt. Die, die noch Arbeit haben, können gar nicht aufhören damit. Das höchste der Gefühle: Im Job gut gefordert und leistungsstark zu sein, auf dass der viel beschworene Flow über uns komme – die völlige Vertiefung und das Aufgehen in einer Tätigkeit. Die passende Übersetzung dafür wäre wohl eher „Funktionslust“ denn „Schaffensrausch“. Warum aber sind wir massenhaft ausgelaugt, depressiv und ausgebrannt, wenn wir doch so hochmotiviert arbeiten?

Bezeichnend für unsere blindwütige Betriebsamkeit ist auch die Sinnverkehrung des Spruchs „Carpe diem“. Dieses Zitat aus der Ode „An Leukonoë“ des römischen Dichters Horaz heißt „Genieße (pflücke) den Tag“. Eine Aufforderung, die knappe Lebenszeit heute zu genießen, anstatt es auf morgen zu verschieben. Im Deutschen wurde daraus fälschlicher Weise „Nutze den Tag“.

Erschöpft, aber emsig und rastlos geht es nach der Arbeit ins Freizeitvergnügen. Dieses wurde wiederum längst zur Arbeit einerseits und zur Ware andererseits. Wellness und Schönheitschirurgie, Internet, Sex und Pornographie im digitalen second life – das sind nicht nur die angesagten Lüste von heute, sondern vor allem die boomenden Branchen. Am Wochenende ist dann ein Flash gegen den Flow nötig, um „herunterzukommen“. Der immense Drogengenuss ebenfalls ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. – Selbst der kulinarische Genuss gelingt immer weniger. Viele leiden an Übergewicht oder Magersucht. Und je mehr Fernsehköche wir am Bildschirm verfolgen, desto mehr Fastfood futtern wir.

Dem nicht genug. Sogar die schlichte Lust des Lachens ist unter Kuratel gestellt worden. Das Lachen hat Karriere gemacht. Sogar zum Weltlachtag (6. Mai) haben wir es gebracht. Kein Wunder: sobald wir nichts mehr zu lachen haben, sobald uns das Lachen angesichts der Verhältnisse vergangen ist, kann es – wie so vieles andere – zum Event stilisiert und zum Kauf angeboten werden. Lachseminare und Lachjoga sind ein Hit. „Eine Minute Lachen ist so herzerfrischend wie 45 Minuten Entspannungstraining.“ – Es gibt offenbar nichts, das nicht rationalisiert werden könnte. Ähnlich wie dem Lachen ist es auch dem Kuscheln ergangen. „Absichtsloses Berühren“ (sic!) wird heute auf kostenpflichtigen Kuschelpartys unter fachlicher Aufsicht vollzogen – ein „bewährtes Anti-Stress-Mittel“. Klinisch erprobt, streng reglementiert, garantiert steril.

Auch die polyamoröse Bewegung erscheint mit ihrem Hang zu Kategorisierung, Normierung oder gar Ideologisierung alles andere als lustvoll. Wer will denn nach „anerkannten Maßstäben“ (wikipedia unter Polyamorie) lieben? Unermesslich sei die Lust!

Die wenigen Stimmen gegen die gesellschaftlichen Deformierungen alles Lustvollen müssen in unseren westlichen Gefilden mit der Lupe gesucht werden. Eine rare ist die des Musikers Christian Muthspiel. In seiner Eröffnungsrede für die Paul Hofhaimer Tage 2007 sprach er von seiner „Sehnsucht nach der Renaissance“. Diese war geprägt von Vielseitigkeit – vor allem auch alles Musische betreffend – anstatt wie heute von immer diffizilerem Spezialistentum. Schöpferische Tätigkeiten aller Art, „zweckfrei, ohne Anlass, ohne Grund“ vermisst Muthspiel schmerzlich. Er war schockiert, wie „ungehemmt und wild und phantasievoll malenden“ Kindern im Kindergarten durch „sukzessive Einengung, Bedrängung und schließlich Auslöschung gestalterischer Fähigkeiten“ die Lust sich auszudrücken genommen wird. Er selbst habe alle Ausbildungen in Graz abgebrochen, um an einer kanadischen Schule zwei Lehrer zu finden, die ihm erstmals nicht „herablassend-kumpelhaft“, sondern „als eigenständigem Künstler mit speziellen Fähigkeiten neugierig, offen und anerkennend“ begegnet sind. Ein Befreiungsschlag.

 

Filterlos genießen

Wo sind die „Spielräume“, in denen wir nach Lust und Laune unvermittelt genießen können? Sinnlich live anstatt anonym und digital. Ohne Wellness-Tempel und Therapeut. Jenseits der Warenform. Im Hier und Jetzt, die Magie des Augenblicks auskostend? Wo sind spannende Mehrdeutigkeiten anstatt Einheitsbrei mit Einheitsgeschmack? Wo überraschende Leckerbissen? – So wie der aus Rumänien stammende Psychologe und Schriftsteller Catalin Florescu vermisse ich „eine Leidenschaft, die sich im Funkeln der Augen ausdrückt“, und „Leute, die mich mit ihren Geschichten bezaubern können. Es herrscht der milde Ton, die vorsichtige Bewegung, die banale Sprache. Die Monotonie durchzieht die westlichen Länder.“ (S. 57)

Warum mündete die sexuelle Befreiung sogleich in jegliche Reizlosigkeit? Warum kippte die Überwindung alter Normen und Verbote prompt in Gleichgültigkeit? Berührung fällt zunehmend unter sexuelle Belästigung. Und die Kunst des Flirtens ist schon fast gänzlich ausgestorben? Anstatt dessen regiert die Angst vor Übergriffen. Scheuklappen, Panzer und Stöpsel in den Ohren scheinen zur Grundausstattung des gestylten Menschen zu gehören. Obendrein wirkt die sexual correctness als Chlorbleiche der Lust. – Die Schriftstellerin Tzveta Sofronieva aus Bulgarien stellte fest, sie brauche in Deutschland oft viel Energie, um ihr spontanes Genießen nicht in Gesten und Berührungen zu zeigen. Lust aber hat für sie „mit Verlangen, mit Wollen zu tun. Mit Erinnerung an Gerüche. Mit Berühren und mit Ästhetik. Mit spontaner Körperlichkeit und bedachtem Forschen. Mit Genuss.“ (S. 230)

Da der Vollzug der kapitalistischen Normierung geografisch nicht überall gleich schnell und gleich gut klappt, sind Danko Rabrenović, als er als „unterentwickelter Balkanier“ in Deutschland landete, einige Besonderheiten aufgefallen: Hier „ist alles perfekt durchorganisiert – sogar das Freizeitvergnügen. Ich hatte den Eindruck, dass sich neunzig Prozent des sozialen Lebens in Vereinen und am Stammtisch abspielten. Selbst fürs Ausflippen gibt es feste Regeln: Beim Karneval oder auf dem Oktoberfest lässt man ein paar Tage ordentlich die Sau raus, danach herrscht wieder Ruhe. Neulich meinte ein deutscher Bekannter, viele Paare würden sogar das Fremdgehen organisieren, indem sie einmal im Jahr ohne Partner mit dem Kegelverein oder der Thekenmannschaft zum Ballermann nach Mallorca führen.“ –  Als Rabrenović bemerkte, dass es seiner Tochter im Kindergarten nicht möglich sei, ohne wochenlanges Vorausplanen eine Freundin zum Spielen einzuladen, weil deren Nachmittage mit Chorsingen, Schwimmen, Ballett und musikalischer Früherziehung verplant sind, überlegte er doch auch einen Verein zu gründen. „Einen Verein gegen straff organisierten Kinderalltag und gegen Freizeitstress bei Erwachsenen. In der Satzung stünde folgender Satz ganz oben: ,Wir wollen Spontaneität!‘ Und zwar jetzt – und nicht nächsten Freitag um 16 Uhr.“ (S. 80f.)

Lust wird in unserer Gesellschaft zwar hochgehalten. Aber offenbar nur, um uns gleichgeschaltet ins Reich der belanglosen Beliebigkeiten zu überführen. Die Lustbarkeiten geraten zunehmend in den Sog der endlosen Warenwelt, um dort der Banalität und Bedeutungslosigkeit anheimzufallen. – Wo bleibt die Lust, die ihren Namen verdient? Wo bleibt Vielfältigkeit statt Uniformiertheit, Fantasie statt Kopie, Humor statt Stupor? Ist Lust nicht per se nonkonform, aufmüpfig, ungeniert, furchtlos, verrückt?

 

Verkorkstes Denken und Sprechen

Vielerlei Unlustigem und vielerlei Pseudolust kann aus dem Weg gegangen werden, aber der Sprache, die einen umgibt, kann man sich schwer entziehen. Einerseits dem österreichweiten Pseudo-Hochdeutsch, der vermurksten Kopie der Sprache der Unterhaltungsindustrie. Die Dialekte hingegen mit ihrem einschlägigen Klang und den mannigfaltigen Ausdrücken sind immer weniger zu hören. Die Normierung fordert auch hier ihren Tribut.

Noch beklemmender aber ist die weit verbreitete Ausdrucksweise des liberalen Bildungsbürgertums, einschließlich der Linken und Alternativen. In diesem Sprachstil macht sich freilich wiederum das entsprechende Denken und Fühlen bemerkbar. Selbst wenn es im Alltag um Zwischenmenschliches geht, wird eine elaborierte Sprache verwendet, die wie aus einem Soziologielehrbuch klingt. Ist unser Leben zum Forschungsobjekt verkommen, das wir wie Wissenschaftler/innen cool „von außen“ betrachten? Da ist die Rede von „Liebesmanagement“, vom „Lebensabschnittspartner“, von der „On-Off-Beziehung“, oder von der „erziehungstechnischen Aufteilung des Kindes“ bei getrennten Paaren. Anstatt von Gefühlen wird von der „emotionalen Ebene“ gesprochen. Menschen sind nicht arm oder süchtig. Sie haben eine „Armutserfahrung“ oder ein „Alkoholproblem“. In wissenschaftlicher Manier wird das Leben, nein, der „Lebensentwurf“ und der „Lebensstil“ pausenlos reflektiert, diskutiert, evaluiert und neu konzipiert.

Die Wahrnehmung der Welt und der Menschen erfolgt überdies durch die Brille der political correctness. Sinnliche Eindrücke werden nur mehr durch unzählige Filter wahrgenommen. Das unvermittelte Leben wird auf Distanz gehalten. Dementsprechend fordern wir kein Leben voll Muße und Lust, sondern nur die rechtliche Gleichstellung von diesen und jenen Diskriminierten, die Homo-Ehe oder die Eintragung des dritten Geschlechts – transgender – im Pass. Das kann doch nicht alles sein?

 

Lust, Leid & Möglichkeit

Andere Verhältnisse wären möglich. Solche, in denen es wenig Misslichkeiten und Leid, aber viel Sinnlichkeit und Lust gäbe. Aber eine Welt ohne jegliches Leid ist wohl unwahrscheinlich. Auch wenn in der Antike entsprechende Philosophien – etwa der Hedonismus oder der Stoizismus – entworfen worden sind.

Die Lust wird zwar als Dauerzustand ersehnt – „Weh ruft: Vergeh! / Doch alle Lust will Ewigkeit, / will tiefe, tiefe Ewigkeit“ (Friedrich Nietzsche, Das trunkene Lied) –, doch wäre permanente Lust überhaupt eine? Dabei muss sie gar nicht von Unangenehmem unterbrochen werden. Ist Lust nicht auch einem natürlichen Rhythmus unterworfen? Tun und Lassen? Erleben und Nachfühlen? – Und weil zum Leben auch der Tod gehört, ist das Gegenteil der Lust nicht so sehr die Unlust als vielmehr die Vergänglichkeit. Aber ohne Vergänglichkeit gäbe es die Lust wiederum gar nicht.

Abgesehen von solchen „letzten“ Fragen, gibt es eine andere wichtige, eine viel zu selten gestellte: Wie wird Leid in einem Kulturkreis erlebt, verkraftet und überwunden? Wie kann es gelingen, angesichts des persönlichen Schmerzes und der gesellschaftlichen Katastrophen, angesichts der Präpotenz der Dummheit, die uns an den Rand der globalen Vernichtung gebracht hat, die Lust trotzdem nicht zu verlieren? Wie schaffen wir diese Quadratur des Kreises? – Nicht dadurch, dass wir Leidvolles leugnen und verdrängen. Auch nicht indem wir es – wie in der Esoterik – einfach positiv wenden und zu Sinnvollem, Notwendigem, Karmisch-Bedingtem erklären. Auch nicht, in dem wir in Arbeit und Konsum flüchten. Sondern nur dadurch, dass wir die eklatanten gesellschaftlichen Widersprüche, die persönlichen Unvereinbarkeiten des Lebens nicht nur sehen, sondern sie auch aushalten. Das Schwere leichter machen, ohne es zu leugnen. Was wäre dazu besser geeignet als die Kunst?

„Musik steht über all dem Dreck, der in der Welt passiert“, sagte Anita Lasker-Walfisch, die als Jugendliche das Konzentrationslager als Cellistin in der Lagerkapelle überlebt hat, in einer Radiosendung. „Jedes Leid wird erträglich, wenn man eine Geschichte darüber erzählt“, bemerkte Hannah Arendt. – Die Kunst ermöglicht, auf vielfältige Weise von der Macht des Faktischen zu abstrahieren, sie zu kritisieren und Schmerzliches zu bewältigen. Geschichten zu erzählen ist so wichtig wie die tägliche Nahrung. Die jüdische Erzähltradition ist ein anschauliches Beispiel dafür. Beeindruckend die Fülle an Büchern, die von Erniedrigung, Verfolgung und dem Holocaust handeln.

Ein ganz besonders kathartisch wirksames Mittel ist die Ironie, genauso wie die Groteske, die Burleske, die Satire und das Clowneske. Lachen wirkt reinigend – auch im größten Kummer. Hier sei beispielsweise an den Filmklassiker von 1942 „To Be or Not to Be“ von Ernst Lubitsch (1892–1947) erinnert und an das Remake von Mel Brooks (geb. 1926) aus dem Jahr 1983. Diese Persiflagen Hitlers sind eine großartige Verbindung von Sarkasmus und Ernsthaftigkeit. Gerade in katastrophalen Zeiten dürfen der Humor und die Vorwegnahme einer menschlichen Zukunft nicht fehlen.

Auf die Bedeutung von Möglichkeiten hat auch Robert Musil hingewiesen. Er wollte den Wirklichkeitssinn ergänzt wissen: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (S. 16)

Literatur lässt mittels der Kraft der Imagination eigene Bilder, eigene Welten im Leser entstehen. Eine abstrakte Darstellung löst eine Vorstellung aus. Das kann nicht nur sehr lustvoll sein, sondern ist auch gut geeignet, die Macht des Faktischen zu hinterfragen, anstatt ihr auf den Leim zu gehen. Christian Muthspiel zitierte in seiner Rede Joseph Brodsky: „Ein Mensch mit sicherem Geschmack, besonders in Stilfragen, ist nämlich weniger anfällig für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformeln, die jeder Art von politischer Demagogie eigen sind.“

 

„Trudle durch die Welt – sie ist so schön“

Kunst ist ein höchst lustvolles Mittel sich auszudrücken und sich beeindrucken zu lassen. Sie erweitert nicht nur den Horizont, sondern wirkt auch als Katalysator, als Verstärker des Lebens. Kunst ist etwas, das jeder von der Wiege bis zum Grabe, in fast jeder Lebenslage genießen kann: Musik, Geschichten, Bilder… Umso intensiver, je mehr wir uns den staunenden Blick des Kindes erhalten. Auch als Erwachsene sollten wir uns immer wieder zu Anfängen, zu neuen Entdeckungen verleiten lassen. Nur wer sich die Sinnlichkeit, also das Interesse an der Welt erhält, wird lustvoll alt werden.

Ein schönes Beispiel für Entdeckerlust: Der von Geburt an blinde Wiener Erich Schmid reist gerne alleine. Das ist zwar sehr anstrengend, aber nur so erlebt er Begegnungen und macht Erfahrungen, die ihm fehlen würden, wäre er im geschützten Kreis seiner Frau und seiner Kinder unterwegs.

Die Fähigkeit, mit all den herrschenden Paradoxien leben zu können, ist Voraussetzung, um weder der Lust noch des Widerstands überdrüssig zu werden. Was Kurt Tucholsky über „Die Kunst, richtig zu reisen“ schreibt, gilt wohl auch ein bisschen für die Lebensreise: „Entwirf deinen Reiseplan im Großen – und lass dich im Einzelnen von der bunten Stunde treiben. Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an. … Entspanne dich. Lass das Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön: gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben.“ (S. 118)

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Literatur

Catalin Florescu in: Feuer, Lebenslust!, Stuttgart 2003.

Bernhard Hüttenegger: Alphabet der Einsamkeit, Klagenfurt/Wien 2008.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. I, Reinbeck 1987.

Christian Muthspiel: Sehnsucht nach der Renaissance, Eröffnungsrede für die Paul Hofhaimer Tage 2007.  www.daszentrum.at/4_rueckblick/rueckblick_hofhaimer/2007/rueck_hofh_2007_rede_muthspiel.htm

Danko Rabrenović: Der Balkanizer – Ein Jugo in Deutschland, Köln 2012.

Tzveta Sofronieva in: Feuer, Lebenslust!, Stuttgart 2003.

Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 7, Reinbek bei Hamburg 1975.

Anita Lasker-Wallfisch: Mein Cello hat mir mein Leben gerettet, Gestaltung: Petra Herczeg und Rainer Rosenberg, 2.10.2011, Radio Ö1, Menschenbilder.

Stefan Zweig: Die Welt von gestern, Frankfurt/Main 1960.

Stefan Zweig: Zeiten und Schicksale – Aufsätze und Vorträge 1902–1942, Frankfurt/Main 1990.

Stefan Zweig: Auf Reisen, Frankfurt/Main 2004.