Die Große Entwertung: Krisentheorie 2.0

Eine Rezension
von Julian Bierwirth

Während weite Teile der linken, außerparlamentarischen Bewegung zu einer Demonstration zum ,european day of action against capitalism‘ aufrufen, ist nun das passende Buch zur Demonstration erschienen. Der Aufruf zur Demonstration gibt die Schuld an den sich vor unseren Augen vollziehenden kapitalistischen Krisenprozessen nicht einzelnen kapitalistischen AkteurInnen, sondern dem System als Ganzem. Wie genau die systemischen Ursachen der Krise jedoch beschaffen sind, kann ein solcher Aufruf (naturgemäß) nicht liefern. Ernst Lohoff und Norbert Trenkle haben mit ihrem Buch „Die große Entwertung – Warum Spekulanten und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind“ nun auf 300 Seiten die theoretischen und empirischen Hintergründe aufgerollt, die dazu geeignet sind, die Perspektive des Demo-Aufrufes zu untermauern. Irgendwie muss die Fahrt nach Frankfurt ja schließlich überbrückt werden.

Bereits seit einigen Jahrzehnten weisen Lohoff und Trenkle, beide Mitglieder der wertkritischen Gruppe Krisis, auf einen dem Kapitalismus eigentümlichen Widerspruch hin: Während jener auf der einen Seite auf die Verausgabung von Arbeitskraft zur steten Ausdehnung der kapitalistischen Verwertung angewiesen ist, untergraben Konkurrenz und Produktivkraftentwicklung gleichzeitig dieses Unterfangen. Während dieser Widerspruch lange Zeit durch eine ebenso stetige Erhöhung der Produktion ausgeglichen werden konnte, hat dieser Ausgleichsmechanismus seit den 1970er Jahren seine Wirkmächtigkeit verloren. Nicht zuletzt durch die mikroelektronische Revolution, die Robotertechnologie und IT in den Mittelpunkt der Produktionsprozesse gerückt hat, konnte die Verdrängung von lebendiger Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess nicht mehr durch die Ausdehnung der Produktion kompensiert werden.

Lohoff und Trenkle zeichnen im ersten Teil ihres Buches diesen Prozess sowohl theoretisch als auch empirisch nach. Sie erzählen die Geschichte vom Aufstieg des Kapitalismus, von seinem kurzen „goldenen Zeitalter“ und vom mit dem Ende des Fordismus verbundenen Ende der keynesianischen Hoffnungen auf eine regulier- und planbare Ökonomie. Detailliert beschreiben sie die Mechanismen der Krise, ihre empirischen Auswirkungen und liefern eine Fülle an Datenmaterial, um die Argumentation zu unterfüttern. Dabei gehen sie nicht zuletzt auch auf die Mängel alternativer Erklärungsmodelle etwa keynesianischer oder regulationstheoretischer Herkunft ein und diskutieren auch die aus deren Perspektive vorgetragene Kritik am Ansatz der wertkritischen Krisentheorie.

Im zweiten und dritten Teil des Buches widmen sich die Autoren dann einer in der wertkritischen Debatte bislang sträflich vernachlässigten Fragestellung. Denn vor dem Hintergrund der vorgetragenen Krisenanalyse stellt sich die Frage, wie denn nun die Tatsache zu erklären ist, dass der Kapitalismus trotz Krise der Arbeit noch immer fröhlich vor sich hin akkumulieren kann – wie also das historisch beispiellose Abheben des Finanzsektors theoretisch zu fassen ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Kategorie des „fiktiven Kapitals“, die anhand der hierzu lediglich spärlich vorliegenden Marx’schen Ausführungen rekonstruiert und in ihrer Bedeutung für die Funktionsmechanismen des postfordistischen Kapitalismus beleuchtet wird. Mit diesem Terminus, so die Autoren, habe Marx die Tatsache reflektiert, dass Geld im Kapitalismus nicht nur zwischen Waren vermittle, sondern selber Ware werde. Als solche „Ware 2ter Ordnung“ verdoppele es sich mit jeder Finanztransaktion und bringe so eine spezifische Form der Kapitalakkumulation mit sich, die sich von der Wertverwertung unterscheide und nicht auf bereits verausgabte, sondern auf in der Zukunft zu verausgabende Arbeit beziehe. In einem beeindruckenden Parforceritt durch die offenen Fragestellungen (nicht nur) marxistischer Geld- und Kapitaltheorie machen die Autoren dabei ihre Annahme vom „fiktiven Kapital“ als wesentlichen Bestandteil postfordistischer Krisenverwaltung plausibel.

Im dritten Teil des Buches wird die historische Entwicklung des „fiktiven Kapitals“ geschildert. Von seiner Rolle als Anhängsel der Kapitalverwertung während der industriellen Revolution über seine Funktion als Schrittmacher des Wirtschaftswachstums im Fordismus bis hin zu seiner Eigenschaft als wesentlicher Repräsentant zeitgenössischer Kapitalakkumulation wird die historische Entwicklung dieser Kategorie detailliert und ausführlich geschildert. Dabei wird deutlich herausgearbeitet, dass es sich beim Boom des Finanzsektors keinesfalls um einen Normalfall innerhalb kapitalistischer Verwertung handelt, sondern lediglich um die Aufschiebung der Krise durch die Akkumulation von Kapital 2ter Ordnung, das nicht mehr auf bereits geleisteter, sondern lediglich auf dem hypothetischen Versprechen in der Zukunft zu verausgabender Arbeit beruht. In diesem Sinne sprechen die Autoren von einem „inversen Kapitalismus“.

In einem abschließenden Kapital resümieren Lohoff und Trenkle noch einmal die Bedeutung der dargestellten Argumentation für die Perspektiven sozialer Kämpfe. Diese müssten losgelöst von monetärer Machbarkeit geführt werden und stets die konkrete Bedürfnisbefriedigung der Menschen in den Mittelpunkt stellen. Am Beispiel der Debatten um die „schwäbische Hausfrau“ und die immer wieder gehörte Behauptung, die Gesellschaft habe „über ihre Verhältnisse“ gelebt, führen sie diese Argumentation exemplarisch vor.

„Die große Verwertung“ stellt sich so als wesentlicher Beitrag zu einer kapitalistischen Krisentheorie dar. Die bisherige wertkritische Argumentation wurde an wesentlichen Punkten verfeinert, insbesondere was die Frage nach der relativen Stabilität des finanzmarktdominierten Kapitalismus angeht. Zudem werden häufig vorgebrachte Gegenargumente auf kategorialer wie auf empirischer Ebene umfangreich diskutiert und entkräftet. Durch die Schwerpunktsetzung gerade auf die bislang unterbelichteten Teile der eigenen Theoriebildung kann hier durchaus von einer Krisentheorie mit erweitertem Potential, von einer Krisentheoie 2.0 die Rede sein.

Doch so wichtig und weiterführend dieser Beitrag ist, so deutlich müssen auch seine Grenzen benannt werden. Denn „Die große Entwertung“ behandelt den Kapitalismus in weiten Teilen als rein ökonomisches Gebilde und weniger, wie es doch dem Anspruch der wertkritischen Theoriebildung entsprechen würde, als Gesellschaftsformation. Fragen etwa nach einem Wandel von Ideologiebildungen, den Transformationen des hierarchischen, bipolaren Geschlechterarrangements oder den diversen Vermittlungen der Krisenanalyse auf die vielfältigen Ebenen gesellschaftlicher Realität (Konsummuster, Subjektkonstitution, Wissensgesellschaft etc.) werden nicht gestellt und bleiben Forschungsdesiderat.

Ernst Lohoff, Norber Trenkle (Gruppe Krisis)
Die große Entwertung
Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind
Unrast Verlag: Münster, 1.Auflage März 2012, ca. Euro 18,-


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