Der Neoliberalismus wurde zum Paten der Finanzindustrie

Interview mit Ernst Lohoff und Norbert Trenkle über die Wirtschafts- und Finanzkrise – Teil 3

Fragen von Reinhard Jellen

In der Epoche des Keynesianismus hat sich der Staat mit seinen direkten und indirekten Eingriffen als aktiver Förderer des Wirtschaftslebens etabliert. Jedoch wurde der grundlegende Widerspruch zwischen dem stofflichen Output und seiner abstrakten und krisenhaften Verwertung in der bürgerlichen Ökonomie nicht angetastet. Somit blieb das Grunddilemma, dass eine Steigerung der Produktivität bei gleichbleibender oder stagnierender Akkumulationsquote mit dem tendenziellen Abbau von Arbeitsplätzen einhergeht und die Basis der Realakkumulation zunehmend erodiert wird, bestehen.

Als die Rezepte des Keynesianismus Ende der 70er Jahre nicht mehr auf die Privatinvestitionen positiv wirkten, wurde dieser durch den Neoliberalismus abgelöst, der das brachliegende Anlagekapital in die spekulative Sphäre der Finanzindustrie lenkte. Dies hatte die wachsende Abhängigkeit der Realwirtschaft von Impulsen der Finanzmärkte zufolge, die sich ihrerseits zunehmend negativ auf ihre ökonomische Basis auswirkten, was periodisch wiederum eine zunehmende Aufblähung von ungedeckten Finanztiteln zur Folge hatte. Nach dem Platzen der New Economy- und der Immobilien-Blase wird nun allmählich mit der Erosion der Staatsfinanzen das Ausmaß der Krise offenbar.

Sie koppeln den jeweiligen Siegeszug des Keynesianismus beziehungsweise Neo-Liberalismus an verschiedene Phasen der wirtschaftlichen Verwertungsdynamik im Kapitalismus. Können Sie das erläutern?

Norbert Trenkle:

Der relative Erfolg des Keynesianismus im Nachkriegsboom war an bestimmte strukturelle Voraussetzungen gebunden, die außerhalb seines Zugriffs lagen, die er also nicht selbst erzeugt hatte und erzeugen konnte. Solange die industrielle Massenarbeit expandierte und den Motor eines selbstragenden Booms der Kapitalverwertung ausmachte, war die keynesianische Regulations- und Umverteilungspolitik durchaus funktional. Der Ausbau der Sozialsysteme und der Anstieg der Reallöhne trugen nicht nur zur sozialen Befriedung bei, sondern stabilisierten auch den Wirtschaftsaufschwung, weil sie den Massenkonsum stärkten. Mindestens genauso wichtig war der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, ohne den die flächendeckende Industrialisierung und die Durchökonomisierung der Gesellschaft nicht funktioniert hätte: Autos konnten ohne eine dichtes Straßennetz nicht fahren, die Elektrifizierung der Haushalte erforderte eine ausreichende Stromversorgung und für die Ausbildung von Fachkräften war ein gutes, breitgefächertes Schul- und Hochschulwesen notwendig.

Dem Staat fiel also eine zentrale Rolle zu und das nährte die Vorstellung, er sei auch in der Lage, die wirtschaftliche Entwicklung langfristig in Gang zu halten, zu steuern und zu stabilisieren. Aber als der fordistische Nachkriegsboom zu Ende ging, erwies sich das als Illusion. Denn in dem Maße, wie die Kapitalverwertung ins Stocken kam, weil aufgrund der rapide steigenden Produktivität immer mehr Arbeitskräfte freigesetzt wurden, versiegte nicht nur die Quelle für die Finanzierung der staatlichen Aktivitäten. Gravierender noch war, dass es trotz massiver kreditfinanzierter Konjunktur- und Wachstumsprogramme nicht gelang, einen neuen Schub selbsttragender Kapitalverwertung in Gang zu setzen.

Aus unserer Sicht ist das auch keinesfalls verwunderlich. Denn der Staat kann zwar bis zu einem gewissen Grad in die Marktmechanismen eingreifen, aber er hat keinen Zugriff auf den Basisprozess, der von dem inneren kapitalistischen Selbstwiderspruch angetrieben wird. Anders gesagt: der flächendeckenden Rationalisierung im Gefolge der dritten industriellen Revolution, die letztlich die Grundlagen der Kapitalverwertung untergräbt, stand der Keynesianismus hilflos gegenüber. Alle Versuche, die Realwirtschaft aus der Stagflation herauszuführen, scheiterten kläglich.

Das war der tiefere Grund für den Siegeszug des Neoliberalismus. Der hatte zwar auch kein Konzept um die Kapitalverwertung wieder auf Touren zu bringen, aber er bereitete den Boden für die Verlagerung der wirtschaftlichen Dynamik hin zur „Finanzindustrie“ und damit für den Krisenaufschub der nächsten drei Jahrzehnte. Entscheidend dafür war einerseits die konsequente Liberalisierung der Finanzmärkte und andererseits die Aufblähung der Staatsverschuldung durch die Reagan-Regierung, die eine Art gigantischer Anschubfinanzierung für die Akkumulation des fiktiven Kapitals leistet. Die Zerschlagung der fordistischen Strukturen durch Entmachtung der Gewerkschaften etcetera tat ihr Übriges dazu, während gleichzeitig die Privatisierung des öffentlichen Sektors neue Felder für Finanzanlagen eröffnete, zum Beispiel durch die Umwandlung der staatlichen Rentensysteme in private Lebensversicherungen.

Welche Rolle spielt dabei die IT-Revolution?

Norbert Trenkle: So wie der Keynesianismus die Expansion der industriellen Massenproduktion sekundierte, wurde der Neoliberalismus zum Paten der „Finanzindustrie“. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass er damit zugleich der dritten industriellen Revolution erst richtig zum Durchbruch verhalf. Auf sich gestellt, hätte diese an ihrer eigenen Produktivität ersticken müssen. Aber die Akkumulation fiktiven Kapitals verschaffte die nötigen Spielräume für eine breitflächige Installation der IuK-Technologien. Die gewaltigen Rationalisierungseffekte, die eine massenhafte Verdrängung lebendiger Arbeitskraft aus den Kernsektoren der Verwertung zur Folge hatten, konnten vorübergehend durch das Ansaugen künftigen Werts überspielt werden. Das Ergebnis ist allerdings, eine fortschreitende Untergrabung der Wertproduktion, die in ihren Dimensionen erst jetzt, in der Krise des fiktiven Kapitals, richtig spürbar wird.

Sie vergleichen in Ihrem Buch die Volkswirtschaftslehre mit einer „Zeichenschule, die den Radiergummi als einziges Instrument für das Portraitieren vorschreibt.“ Was meinen Sie damit?

Ernst Lohoff: Das führt uns zur Anfangsfrage im ersten Teil des Interviews zurück. Die Volkswirtschaftslehre, egal welcher Schule, kann die Krise schon deshalb nicht verstehen, weil sie den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Reichtumsformen, stofflicher Reichtum und abstrakter Reichtum, auslöscht. In den Eingangskapitalen der VWL-Bücher heißt es immer, der Zweck des Wirtschaftens sei die Bedürfnisbefriedigung und die optimale Versorgung der Menschen mit Gütern, und dies könne unter den Bedingungen entwickelter Arbeitsteilung nur die Marktwirtschaft leisten.

Dabei wird die Marktwirtschaft so beschrieben, als funktionierte sie nach dem Prinzip des einfachen Warentauschs, so wie auf einem idealisierten dörflichen Marktplatz, wo Schuhe gegen Schweinhälften und Eier gegen Wollknäuel getaucht werden. So wird systematisch ausgeblendet, was eigentlich völlig offensichtlich ist, dass nämlich unter kapitalistischen Bedingungen immer nur produziert wird, um aus Geld mehr Geld zu machen, dass also der Zweck der Produktion die Vermehrung des abstrakten Reichtums ist und die Waren bloß ein Mittel sind um diesen selbstbezüglichen Prozess in Gang zu halten. Mit anderen Worten: schon auf der Ebene der Grundannahmen setzt die VWL den Radiergummi an und löscht das Spezifikum der kapitalistischen Produktionsweise. Es kann daher nicht verwundern, dass sie unfähig ist, die Ursachen der Krise zu erkennen.

Sie machen an der personifizierten Kritik an Spekulanten und Banker antisemitische und rassistische Mechanismen aus. Warum das? Nach 2008, wurde doch die Kritik an Bankern – anders als in den 20er Jahren, als zum Beispiel bei den Karikaturen mit antisemitischen Bildern gearbeitet wurde- nicht mit judenfeindlichen Klischees unterlegt. – Oder habe ich ein Wahrnehmungsdefizit?

Norbert Trenkle: Zunächst einmal grenzen wir uns ganz grundsätzlich von jeder personifizierenden Kritik ab, die derzeit in allen möglichen Formen ins Kraut schießt. Die Krise des fiktiven Kapitals ist auch eine Krise des Euros. Und wie wird die verarbeitet? Schuld sollen die „faulen Griechen“ sein, die angeblich „unser gutes Geld“ verprasst haben. Diese Personifizierung verstellt nicht nur den Blick für die Verrücktheit, dass eine Gesellschaft inmitten des Überflusses verarmt, nur weil aller Reichtum durch das Nadelöhr der Warenproduktion gezwängt werden muss. Schlimmer noch ist, dass die Wut über die Misere auf bestimmte konstruierte Kollektivsubjekte projiziert wird, die damit faktisch zum Abschuss freigegeben werden.

„Kollektivsubjekte werden zum Abschuss freigegeben“

Auch die Schuldzuweisung an die Banker und die Spekulanten ist für sich genommen erst einmal „nur“ eine solche Personifizierung. Aber in ihr schwingt noch etwas anderes mit, das häufig unbewusst bleibt. Diese Personifizierung ist nämlich weitgehend deckungsgleich mit einem Grundmuster des Antisemitismus, der einen Gegensatz von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital konstruiert und das letztere mit „den Juden“ identifiziert. Dieses Grundmuster finden wir heute wieder in der weitverbreiteten Vorstellung, die Realwirtschaft sei von irgendwelchen gierigen Spekulanten zerstört worden und es komme daher darauf an, diese in die Schranken zu weisen.

Das heißt nicht, dass jeder, der gegen die Banker und Spekulanten wettert, schon Antisemit ist, aber dieses projektive Muster der Krisenverarbeitung, ist voll kompatibel mit dem antisemitischen Wahn. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass die Bildersprache immer wieder in diese Richtung abgleitet, so etwa im berüchtigten Ausdruck „Heuschrecke“, den Franz Müntefering hoffähig gemacht hat und sich dabei auch noch als Kapitalismuskritiker hinstellte. Die Formulierung „wie die Heuschrecken fallen sie über uns her“ entstammt dem Nazi-Propagandafilm Jud Süß, und wer diese gierigen Tiere sein sollen, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Auch andere Bilder wiederholen sich, so etwa die beliebte Darstellung des Finanzkapitals als Krake, welche die Welt umschlingt, die sich in fast der gleichen Form in der antisemitische Propaganda der Nazis wiederfindet. Hier ist also höchste Vorsicht geboten. Zwar ist in Deutschland der Übergang zur offenen antisemitischen Agitation noch weitgehend tabuisiert, aber es machen sich Tendenzen bemerkbar, die sehr gefährlich sind.

Welche politische und gesellschaftliche Praxis folgt konkret aus Ihrem theoretischen Modell?

Norbert Trenkle: Nun zunächst einmal folgt daraus eine ganz grundsätzliche Ablehnung jeder Sparpolitik. Es ist einfach völliger Irrwitz, dass angesichts des ungeheuer hohen Produktivitätsniveaus behauptet wird, wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt und müssten nun den Gürtel enger schnallen. Das Gegenteil ist doch der Fall. Würden die Möglichkeiten ausgeschöpft, die in den modernen Produktivkraftpotentialen enthalten sind, könnten längst alle Menschen auf der Welt gut leben und müssten nur einen Bruchteil ihrer Lebenszeit für die Produktion der materiellen Güter aufwenden.

„Zwänge der abstrakten Reichtumsproduktion“

Das geschieht nur deshalb nicht, weil die Gesellschaft sich wie selbstverständlich den Zwängen der abstrakten Reichtumsproduktion unterwirft, weil sie also daran festhält, dass stofflicher Reichtum nur anerkannt wird, soweit er „Wert“, darstellt. Dabei handelt es sich aber nicht einfach nur um eine Art verpasster Gelegenheit, eine nicht wahrgenommene Möglichkeit. Vielmehr bedeutet das Festhalten an der Logik der Wertproduktion auf dem erreichten Stand der Produktivität schlicht eine Katastrophe, denn es führt dazu, dass massenhaft Menschen als „überflüssig“ ausgeschlossen und auf dem Altar des Systemimperativs geopfert werden, den Fluss fiktiven Kapitals aus der Zukunft in die Gegenwart aufrechtzuerhalten.

Lösen wir uns aber von der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass Güter nur als Waren produziert werden können, eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Dann nämlich können wir fragen, wie und in welcher Form die vorhandenen Potentiale sinnvoll und zum allgemeinen Wohlergehen genutzt werden können ohne über „Finanzierbarkeit“, „Marktfähigkeit“ und „Rentabilität“ nachdenken zu müssen. Stattdessen wäre der Standpunkt des stofflichen Reichtums und der konkreten Bedürfnisse geltend zu machen. In der Praxis der sozialen Protestbewegungen geschieht das durchaus schon, so beispielsweise, wenn Zwangsräumungen von Wohnungen verhindert werden, weil es überhaupt nicht einzusehen ist, dass jemand auf der Straße oder im Zelt leben soll, nur weil er seine Raten oder seine Miete nicht mehr zahlen kann; oder wenn Menschen einfach Nein sagen zur Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen im Kultur- oder Sozialbereich. Das sind Ansätze, die in die richtige Richtung weisen. Wenn sich diese mit einer radikalen Kritik der abstrakten Reichtumsform verbinden, würden sich ganz neue Perspektiven gesellschaftlicher Emanzipation eröffnen.


ursprünglich erschienen: Telepolis 6.8.2012