Die Krise kurz erklärt

Was Sie schon immer über die Krise wissen wollten, aber nie zu fragen wagten. Die etwas anderen FAQ zur kapitalistischen Dauerkrise

von Tomasz Konicz

erschienen auf Telepolis 23.12.2011

Haben Sie sich in der Dauerkrise schon häuslich eingerichtet? Können Sie noch den Überblick behalten, bei all den über uns zusammenbrechenden Schuldenbergen? Für alle, die endlich im Krisendickicht durchblicken wollen, hier nun ein ganz besonderer Service: Werden Sie in wenigen Minuten zum Krisenexperten und Bescheidwisser, mit den großen FAQ zur Krise – diesmal mit verbesserter Kapitalismuskritikformel! In wenigen Antworten auf selbst erfundene Fragen werden die Krisenursachen benannt und die häufigsten Krisenmythen entlarvt. Der Clou dabei: Am Ende einer jeden Antwort finden sich Links zu Texten, die weitergehende Infos und Hintergründe zu den entsprechenden Themenkomplexen bieten. Soviel Krise war noch nie – jetzt neu mit krisenbedingter Zufriedenheitsgarantie!

Überall türmen sich gigantische Schuldenberge auf. Wer ist nun schuld an der gegenwärtigen Schuldenkrise? Die faulen Südeuropäer oder unsere gierigen Banker?

Statt nach „Schuldigen“ müssen wir nach den systemischen Ursachen der Verschuldungsdynamik suchen. Diese gigantischen Schuldenberge sind in den vergangenen Jahrzehnten entstanden, weil sie notwendig waren, um den Kapitalismus überhaupt funktionsfähig zu erhalten. Ohne Schuldenmacherei zerbricht das System an sich selbst. Private und/oder staatliche Verschuldung stellt im zunehmenden Maße eine Systemvoraussetzung dar, ohne die der Kapitalismus nicht mehr reproduktionsfähig ist.

Wir müssen uns nur vergegenwärtigen, dass die Kreditaufnahme eigentlich einen Wechsel auf die Zukunft darstellt, bei dem Finanzmittel im Hier und Jetzt zur Verfügung gestellt werden, die erst später vom Kreditnehmer erwirtschaftet und zurückgezahlt werden müssen. Und diese Kredite werden ja für Investitionen, Bautätigkeit oder Konsum aufgewendet. Somit schafft die Verschuldung eine zusätzliche, kreditfinanzierte Nachfrage, die stimulierend auf die Wirtschaft wirkt.

Im Endeffekt ist es egal, ob der Staat, die private Wirtschaft oder die Konsumenten sich verschulden: Gemeinhin stimuliert diese kreditgenerierte Nachfrage die Konjunktur und führt zu weiterem Wirtschaftswachstum. Ob nun der amerikanische Staat neue Marschflugkörper ordert, in Spanien zu Spekulationszwecken neue Ferienhäuser gebaut oder in Osteuropa Konsumentenkredite vergeben werden: All diese Aktionen generieren Nachfrage, schaffen Arbeitsplätze und beleben die entsprechenden Industriezweige. Wenn die Verschuldungsdynamik stark genug ist, dann entsteht eine sogenannte Defizitkonjunktur. Hierbei handelt es sich um einen Wirtschaftsaufschwung, der durch das Anhäufen von Schulden, also von Defiziten, getragen wird.

Es waren gerade diese Defizitkonjunkturen, die in der Epoche vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in 2008 als maßgeblicher Motor der Weltwirtschaft fungierten. Hierbei handelt es sich um einen langfristigen, graduell an Intensität gewinnenden Prozess, der zeitgleich mit der Durchsetzung des Neoliberalismus und dem Aufstieg des Finanzsektors in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte. Diese mit der Expansion der Finanzmärkte einhergehende Verschuldungsdynamik ging mit der Ausbildung von gigantischen Spekulationsblasen auf dem Finanzsektor einher, die ebenfalls – bis zu ihrem Zusammenbruch – stimulierend auf die Wirtschaft wirkten. Hier sind insbesondere die zwischen 2007 und 2008 geplatzten Immobilienblasen zu nennen, die ja vielfältige belebende Effekte auf die Industrie zeitigten, da sie ja mit realer Bautätigkeit einhergingen.

Es verschuldeten sich aber nicht alle Länder gleichmäßig: Die stärksten Defizitkonjunkturen – mitsamt den einhergehenden Schuldenbergen – bildenden mit weitem Abstand die USA aus, gefolgt von Südeuropa, Osteuropa, Irland und Großbritannien. Diese Länder und Regionen wiesen immer weiter ansteigende Leistungsbilanz- und/oder Handelsdefizite aus, während sie zugleich eine fortschreitende Deindustrialisierung erfuhren.

Daneben bildete sich in einem scharfen Verdrängungswettbewerb eine Reihe von Ländern aus, die enorme Handelsüberschüsse erwirtschaften konnten und weiterhin über einen nennenswerten Industriesektor verfügen. In diesem Zusammenhang müssen China, Deutschland, Japan oder Südkorea genannt werden. Diese Länder konnten vermittels ihrer Handelsüberschüsse von den Verschuldungsprozessen in den USA oder Südeuropa profitieren, ohne sich selber verschulden zu müssen. Die enormen globalen und europäischen „Ungleichgewichte“ in den Handelsbilanzen sind genau auf diese Entwicklung zurückzuführen.

Der Kapitalismus als ein Weltsystem kann ohne diese Defizitkonjunkturen und die damit einhergehenden Ungleichgewichte nicht mehr funktionieren: Sobald die – private oder staatliche – kreditgenerierte Nachfrage wegbricht, setzt eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale ein, in der Überproduktion zu Massenentlassungen führt, die wiederum die Nachfrage senken und weitere Entlassungswellen nach sich ziehen.

Weitere Informationen:

Das Ende des „Goldenen Zeitalters“ des Kapitalismus und der Aufstieg des Neoliberalismus
Explosionsartige Ausweitung der Finanzmärkte in der Clinton-Ära
Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur

Wieso sollte der Kapitalismus, der als eine auf höchstmögliche Effizienz ausgelegte Wirtschaftsweise gilt, nicht mehr ohne Schuldenmacherei funktionieren? Was ist die Ursache dieser angeblichen Abhängigkeit des kapitalistischen Weltsystems vom Kredit?

Es ist gerade diese in den vergangenen Jahren immer weiter gesteigerte betriebswirtschaftliche Effizienz, die den Kapitalismus auf volkswirtschaftlicher Ebene in einen regelrechten Verschuldungszwang treibt. Das System ist zu produktiv, um weiterhin seine Reproduktion innerhalb seiner Produktionsverhältnisse ohne Defizitbildung aufrechterhalten zu können.

Frei nach Marx ließe sich zusammenfassen: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der Produktionsverhältnisse. Diese kapitalistische Systemkrise ist also tatsächlich eine Krise des Kapitals. Das Kapital muss hierbei als ein soziales Verhältnis, als ein Produktionsverhältnis begriffen werden: Der Unternehmer investiert sein als Kapital fungierendes Geld in Maschinen, Arbeitskräfte und Rohstoffe, um in Fabriken hieraus neue Waren zu schaffen, die mit Gewinn auf dem Markt verkauft werden. Das hiernach vergrößerte Kapital wird in diesem uferlosen Verwertungsprozess des Kapitals reinvestiert, um wiederum noch mehr Waren herzustellen. Dieser Prozess der Akkumulation oder Verwertung von Kapital funktioniert nicht mehr ohne die besagte Schuldenmacherei.

Um diese Diagnose vollauf verständlich zu machen, müssen die berühmten Widersprüche kurz dargelegt werden, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnen. Neben dem bekannten Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit prägt das System noch eine weitere fundamentale Unvereinbarkeit, die einen permanenten Strukturwandel zur Folge hat.

Obwohl Lohnarbeit die Substanz des Kapitals bildet, strebt das Kapital zugleich danach, die Lohnarbeit möglichst weitgehend durch Rationalisierung aus dem Produktionsprozess zu verbannen: Es ist eine Art Wettlauf mit den Maschinen. Die Marktkonkurrenz zwingt die Unternehmer in allen Industriezweigen dazu, ihre Produktion dank wissenschaftlich-technischer Innovationen immer weiter zu rationalisieren, sodass die Beschäftigung in den Wirtschaftszweigen immer weiter fällt, die schon längere Zeit etabliert sind und deren Märkte schon erschlossen sind.

Der gleiche technische Fortschritt, der zum Arbeitsplatzabbau in den etablierten Industriezweigen führt, lässt aber auch neue Industriezweige entstehen. Schon immer gab es in der Geschichte des Kapitalismus einen Strukturwandel, bei dem alte Industrien verschwanden und neue hinzukamen, die wiederum Felder für Investitionen und Lohnarbeit eröffneten. Folglich ist die Geschichte des Kapitalismus durch eine Abfolge von Leitsektoren der Wirtschaft gekennzeichnet, die als Akkumulations-, Konjunktur-, und insbesondere Beschäftigungslokomotiven fungierten: Textilindustrie, Schwerindustrie, Chemie, Elektroindustrie, Fahrzeugbau.

Dieser Strukturwandel funktioniert aber mit dem Aufkommen der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik und Informationstechnologie nicht mehr. Die IT-Industrie schafft zwar Arbeitsplätze, aber ihre Technologien und Produkte erfahren eine gesamtwirtschaftliche Anwendung, bei der im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen weitaus mehr Arbeitsplätze verschwinden. Es findet ein Prozess des Abschmelzens der Lohnarbeit innerhalb der Warenproduktion statt: Immer weniger Arbeiter können in immer kürzerer Zeit immer mehr Waren herstellen.

Die avancierten kapitalistischen Gesellschaften gerieten folglich in die Krise der Arbeitsgesellschaft, die mit steigender Arbeitslosigkeit, allgemeiner Prekarisierung und/oder einem stagnierenden Lohnniveau einhergeht. Zugleich steigen mit dem technischen Niveau der Produktion die Aufwendungen für Infrastruktur, Bildung oder Produktionsinvestitionen, was wiederum die Massennachfrage und/oder die Unternehmensgewinne belastet. Die gesamtgesellschaftlichen notwendigen Investitionen zur Aufrechterhaltung der Akkumulation von Kapital wachsen immer weiter an, wodurch das Verhältnis zwischen profitabler Kapitalverwertung und den hierfür notwendigen Aufwendungen sich zugunsten der Letzteren verschiebt.

Die wahren Krisenursachen liegen also konträr zu der populistischen Parole, wonach die Bevölkerung der Schuldenländer Europas oder der USA „über ihren Verhältnissen“ gelebt habe. Es verhält sich gerade umgekehrt: Der Kapitalismus hat ein derartig hohes Produktivitätsniveau erreicht, dass er nur noch durch ein „Leben über den Verhältnissen“, also durch Schuldenmacherei eine Zeit lang eine Art Zombieleben führen kann – bis zum großen Crash.

Weitere Informationen:

Krisenmythos Griechenland
Roboter statt Arbeiter
Der Wettlauf mit den Maschinen
Ein Leichnam regiert die Gesellschaft
Vielleicht sind wir alle schon die Insassen eines Gesamt-Irrenhauses
Von Schulden und Jobs

Welche Rolle spielen die Finanzmärkte? Es heißt doch überall, die bösen „Bankster“ haben uns die Krise mit ihrer maßlosen Gier eingebrockt

Da der Finanzkrach dem Wirtschaftseinbruch vorangeht, kann der Eindruck entstehen, dass die Finanzmärkte die reale Wirtschaft in den Abgrund gestoßen haben. Tatsächlich aber hielten die Finanzmärkte durch ihre Kreditvergabe die reale Wirtschaft überhaupt am Laufen, indem sie – wie ausgeführt – kreditfinanzierte Massennachfrage erzeugten. Die Finanzmärkte ermöglichten erst die besagten Defizitkonjunkturen, da der Kredit ja generell die wichtigste „Ware“ der Finanzwirtschaft bildet.

Erst der Zusammenbruch der Immobilienblasen in 2008 und die damit einhergehende „Kreditklemme“ ließen die Nachfrage wegbrechen, was zur Wirtschaftskrise von 2009 führte. Das jahrzehntelange Wachstum der Finanzmärkte ist selbst Folge der oben beschriebenen, aus fortschreitenden Rationalisierungsschüben resultierenden Krise der Arbeitsgesellschaft. Kapital strömt nun mal dort hin, wo die höchsten Renditen zu erwarten sind. Den Bankern maßlose Gier vorzuwerfen, ist geradezu absurd, da „Gier“ – als die höchstmögliche Kapitalvermehrung – das Wesen des Kapitals bildet.

Dies gilt aber nicht nur für die Finanzbranche, sondern auch für die Warenproduktion. Wenn die Verwertung von Kapital in der realen, warenproduzierenden Wirtschaft stockt und zunehmende Verdrängungskonkurrenz die Renditen absenkt, dann strömt anlagewilliges Kapital nun mal in die Finanzmärkte. Generell gilt, dass Finanzexzesse auf eine Krise in der Warenproduktion hindeuten.

Somit schienen die rasch expandierenden Finanzmärkte die Rolle des beschriebenen Leitsektors der Wirtschaft einzunehmen, da der besagte Strukturwandel in der realen Wirtschaft nicht mehr funktionierte. Diese finanzielle Explosion ab den 80ern – und verstärkt ab den 90ern – Jahren des 20. Jahrhunderts war aber auf Dauer nicht tragfähig, obwohl selbstverständlich auch im Finanzsektor viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. Dieses explosionsartige Wachstum der Finanzwirtschaft war auf Sand gebaut. Kapitalistischer, sich in Warenfülle äußernder Reichtum muss im Rahmen der dargelegten Kapitalverwertung tatsächlich erarbeitet werden. Die Finanzmärkte können zu diesem Prozess beitragen, indem sie Unternehmen Kredite gewähren, die zur Modernisierung der Produktionsanlagen und/oder Ausweitung der Produktionsmengen verwendet werden.

Aufgrund der beschriebenen systemischen Überproduktionskrise in der realen Wirtschaft verlief die Expansion der Finanzmärkte hauptsächlich in eine andere Richtung: in die reine Spekulation, die letztendlich immer zur Blasenbildung führen muss. Wir haben es seit gut zwei Jahrzehnten mit einer Art Finanzblasenkapitalismus zu tun, der durch das Aufsteigen immer größerer Spekulationsblasen gekennzeichnet ist, die in ihrer Aufstiegsphase als regelrechte Konjunkturmotoren fungieren – und die beim Platzen immer größere Verwüstungen hinterlassen.

Hierbei handelt es sich um einen langwierigen Prozess, in dem die Abhängigkeit des Gesamtsystems von der Verschuldungsdynamik sukzessive ansteigt: Angefangen von der Asienkrise Ende der 90er, über die Hightech-Blase von 2000, die 2008 geplatzte Immobilienspekulation, bis zur gegenwärtig zusammenbrechenden Liquiditätsblase. Dabei konnten bisher die verheerenden Folgen dieser zusammenbrechenden Spekulationsdynamik nur durch erneute Blasenbildung – durch eine blinde „Flucht nach vorn“ in weitere Spekulationsexzesse- hinausgezögert werden.

Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass die derzeitige Staatsschuldenkrise größtenteils auf das Platzen der Spekulationsblasen auf dem Immobiliensektor zurückzuführen ist. Spanien oder Irland wiesen vor Krisenausbruch in 2008 eine niedrigere Staatsverschuldung als etwa die Bundesrepublik auf. Erst durch die milliardenschweren „Hilfsmaßnahmen“ für die taumelnden Finanzmärkte und die „Sozialisierung“ der Krisenverluste explodierte die Staatsverschuldung in vielen Ländern. Es scheint paradox, aber tatsächlich haben die Staaten die Finanzmärkte im Endeffekt durch weitere Verschuldung auf den Finanzmärkten stabilisiert. Damit wird die europäische Staatsschuldenkrise aber auch automatisch zu einer Finanzmarktkrise, da Staatspleiten sofort die Banken in den Bankrott treiben werden, die Staatsanleihen aufgekauft haben.

Beide Pole kapitalistischer Vergesellschaftung – der Staat wie das Kapital – sind somit in einer Krisensymbiose aneinander gefesselt. Es lohnt, sich in Erinnerung zu rufen, dass staatliche und private Schulden denselben gesamtgesellschaftlichen Effekt zeitigten: die Stimulierung der Wirtschaft. Folglich bilden die nun angehäuften Schuldenberge ebenfalls eine gesamtgesellschaftliche Belastung. Die Schuldenkrise ist nicht nur eine Krise der Staaten oder der Banken, sondern des gesamten Systems.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein wucherungsartig anschwellender Finanzsektor als ein eindeutiges Krisenphänomen zu deuten ist – nicht aber als die Krisenursache. Es ist der stürmisch vom Kapitalismus vorangetriebene Fortschritt der Produktivkräfte, der die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise unterminiert. Die Krise hat ihre Ursache nicht im Finanzsektor, sondern in den Widersprüchen der warenproduzierenden Industrie. Gerade das exzessive Wuchern der Finanzmärkte hat die unter einer latenten Überproduktion leidende reale Wirtschaft durch schuldengenerierte Nachfrage am Leben gehalten.

Weitere Infos:

Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur
Das Wunder an der Wall Street
Hurra, der (Pseudo-) Aufschwung ist da!

Was können die finanziell klammen Staaten nun überhaupt noch unternehmen? Welche Optionen hat die Politik noch?

Die Politik kann mit dem ihr zur Verfügung stehenden Instrumentarium die gegenwärtige Krise nicht lösen, sie kann aber sehr wohl den drohenden schweren Wirtschaftseinbruch hinauszögern.

Die Krisenpolitik befindet sich in einer Aporie, in einem unlösbaren Selbstwiderspruch, bei dem sie nur zwischen zwei unterschiedlichen Wegen in die Krise wählen kann: Die Politik kann einerseits die Staatsverschuldung immer höher treiben, um den wirtschaftlichen Absturz zu verhindern. Dieser Ansatz, der zumeist mit einer expansiven Geldpolitik einhergeht, führt letzten Endes zur Inflation oder zum Staatsbankrott – da letzten Endes die Notenpresse angeworfen werden muss, um die Verschuldungsdynamik aufrechtzuerhalten. Andererseits können Regierungen versuchen, die staatlichen Schuldenberge durch drakonische Kürzungen abzubauen. Dies jedoch bewirkt einen sofortigen ökonomischen Einbruch, der auch zu erheblicher Verelendung in der betroffenen Gesellschaft führt.

Die meisten Regierungen entschieden sich zuerst für die Schuldenmacherei: Die Staaten haben nach Krisenausbruch die auf den Finanzmärkten betriebene Verschuldungsdynamik im Endeffekt durch kreditfinanzierte Konjunkturprogramme ab 2008 weiter aufrecht gehalten. Die vormals durch die Finanzmärkte organisierte Defizitkonjunktur, bei der die Anhäufung von Schulden konjunkturbelebend wirkt, wurde nach Krisenausbruch verstaatlicht – bis die Staaten selber an ihre finanzielle Belastungsgrenze stießen. Mit zunehmender Krisenintensität eskalieren auch die Streitereien um die Krisenpolitik. Derzeit konnte die deutsche Regierung die Europäische Union auf strikte Sparprogramme verpflichten, während etwa die USA auf einer Fortführung von Verschuldung und Anleiheaufkäufen beharren.

Die Auseinandersetzungen um die konkrete Ausgestaltung der kapitalistischen Krisenpolitik gewinnen auch deswegen an Härte, weil beide Fraktionen in diesem Disput die desaströsen Konsequenzen der Politik der Gegenseite durchaus zurecht fürchten. Fakt ist, dass etliche Länder ihre Haushaltsdefizite aufgrund ausartender Staatsverschuldung tatsächlich nicht mehr auf den Finanzmärkten refinanzieren können – und etwa unter den „Euro-Rettungsschirm“ flüchten mussten. Fakt ist aber auch, dass eine Einstellung der schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme zu einer Konjunkturflaute führt, die in Stagnation und Rezession mündet.

Somit befinden sich tatsächlich beide Seiten in dem finanzpolitischen Streit um die Ausgestaltung der künftigen Krisenpolitik bei ihrer Diagnose im Recht: Weitere Staatsverschuldung wird unweigerlich zum Staatsbanktrott oder zur Hyperinflation führen, ein Ende der staatlichen Verschuldung wird in die Rezession führen. Beide Parteien befinden sich aber auch auf dem Holzweg, wenn sie davon ausgehen, dass ihre „Therapien“, ihre Politikkonzepte, die fundamentale Krise der Weltwirtschaft lösen könnten, die seit 2008 nur durch ausufernde staatliche Verschuldung verlängert werden konnte.

Aus der Unmöglichkeit, diese Systemkrise mit dem Instrumentarium der Krisenpolitik zu bewältigen, resultieren auch die irrationellen und ins Chauvinistische tendierenden Reflexe, die in Politik und Massenmedien an Breite gewinnen – und bei denen die gegebenen kapitalistischen Ideologien ins Extrem gesteigert werden.

Weitere Infos:

Politik in der Krisenfalle

Krise und Wahn

Wieso bildet Europa derzeit das globale Krisenzentrum, obwohl andere Staaten – wie etwa die USA – ähnlich hoch verschuldet sind?

Die Schuldenberge der USA und Europas sind in ähnlich gigantische Dimensionen angewachsen, und auch die Ursachen der Schuldenbildung auf beiden Seiten des Altantik sind auf den gescheiterten Strukturwandel und die besagte Krise der Arbeitsgesellschaft zurückzuführen. Konfrontiert mit der obig dargelegten Krisenfalle, hat die Politik in den USA aber einen anderen Weg eingeschlagen als in der Eurozone.

Der Unterschied zwischen den USA und der EU besteht in der Bereitschaft der USA, die Verschuldungsdynamik des US-amerikanischen Staates durch Aufkäufe von Staatsanleihen aufrechtzuerhalten – und mittelfristig eine ausartende Inflation in Kauf zu nehmen. Indem die US-Notenbank Fed notfalls im großen Stil die amerikanischen Staatsanleihen aufkauft, wird die Zinslast der USA niedrig gehalten und ein katastrophaler Wirtschaftseinbruch verhindert, da zumindest die staatliche Verschuldungsdynamik – und somit auch die kreditfinanzierte staatliche Nachfrage – weiter aufrechterhalten werden kann.

In der EU setzte sich hingegen Deutschland mit der Forderung nach sofortiger Haushaltssanierung durch, während die Aufkäufe von Staatsanleihen durch die EZB von Berlin vehement abgelehnt werden. Ohne Anleiheaufkäufe durch die EZB oder den ESM wird die Zinslast der südeuropäischen Schuldenstaaten bald untragbar sein, ein Auseinanderbrechen der Eurozone wird so sehr wahrscheinlich. Ohne fortgesetzte Verschuldung wird die Eurozone in einer schweren Rezession versinken, die sich bereits mit europaweit fallender Industrieproduktion ankündigt. Ein Schuldenabbau wir so vollends illusionär.

Zudem muss beachtet werden, dass der Euro zur Ausbildung gigantischer Ungleichgewichte in der Eurozone beigetragen hat – und dass die Krisenpolitik der EU von eskalierenden nationalen Interessensgegensätzen geprägt ist. In der Eurozone wurden Volkswirtschaften mit sehr unterschiedlichen Produktivitätsniveaus in einem Währungsraum zusammengefasst, sodass die ökonomisch unterlegenen Länder in Südeuropa ohnehin zur Ausbildung von Handelsdefiziten gegenüber den überlegenen Ländern im Zentrum neigten. Der Euro nahm den schwächeren Staaten die Möglichkeit, mittels Währungsabwertungen ihre Konkurrenzfähigkeit wiederherzustellen.

Zusätzlich setzte in der Bundesrepublik wenige Jahre nach der Einführung des Euro ein rabiater Sozialkahlschlag ein, der in der Einführung der Hartz-IV-Gesetze gipfelte und zur allgemeinen Prekarisierung des Arbeitslebens und einer Absenkung des Lohnniveaus beitrug. Hierdurch konnte die deutsche Exportwirtschaft weitere Exportvorteile gegenüber der Eurozone gewinnen und einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuss von inzwischen 770 Milliarden Euro akkumulieren. Bei der EU handelte es sich also bereits um eine Transferunion – um eine Transferunion zugunsten der deutschen Exportindustrie, die nicht zuletzt dank sinkender Löhne und der Prekarisierung der Lohnabhängigen in der BRD ermöglicht wurde.

Diese deutschen Exportüberschüsse in die Eurozone trugen also maßgeblich zur Ausbildung der Schuldenberge in der Eurozone bei – die Exportüberschüsse Deutschlands sind logischerweise die Defizite der Zielländer deutscher Exportoffensiven.

Rückblickend betrachtet war die „europäische Integration“ selber ein Reflex auf diese Krise. Das „Europäische Haus“ wurde spätestens seit der Euroeinführung auf einem beständig wachsenden Schuldenberg errichtet, der bis zum Platzen dieser Schuldenblase allen Beteiligten die Illusion gab, an einem allgemein vorteilhaften Integrationsprozess beteiligt zu sein: Deutschlands Industrie erhielt dank des Euro Exportmärkte, während Europas Schuldenstaaten ihre kreditfinanzierte Defizitkonjunktur erfuhren.

Weitere Infos:

Krisenmythos Griechenland


Zerbricht Europa an der Krise?

Transatlantischer Schuldenturmbau im Vergleich
Die Weltwirtschaftskrise als Schuldenkrise

Wie schlimm wird die Krise werden? Worauf müssen wir uns einstellen?

Kurzfristig wird das System mit Sicherheit in einer schweren Wirtschaftskrise versinken, sobald die Verschuldungsdynamik zusammenbricht, die den Kapitalismus – noch – am Laufen hält. Die anstehende globale Depression könne durchaus die Schärfe und Dramatik der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts erreichen, inklusive schwerwiegender sozialer und politischer Verwerfungen und Umbrüche. Der Wirtschaftseinbruch in Südeuropa wird nicht mehr von einem späteren Aufschwung abgelöst werden. Stattdessen findet in der Peripherie der EU ein dauerhafter wirtschaftlicher und sozialer Abstieg statt, der die betroffenen Länder in ihrer zivilisatorischen Entwicklung zurückwerfen wird. Es ist, als ob die „Dritte Welt“ sich von Nordafrika über das Mittelmeer bis nach Südeuropa ausbreiten würde. Es findet derzeit ein Prozess des „Abschmelzens“ der reaktiven Wohlstandsinseln der „Ersten Welt“ im globalen Maßstab statt.

Die kommende globale Depression bildet dabei nur das jüngste Stadium eines langfristigen, weltgeschichtlichen Prozesses, bei dem das kapitalistische Weltsystem nach einer gut 500-jährigen Entwicklungsperiode an die dargelegte innere Schranke seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und an seinen eskalierenden Widersprüchen zugrunde geht. Das System tritt nun in eine Phase des chaotischen Umbruchs ein, wobei die Richtung und der Ausgang dieses Prozesses nicht prognostizierbar sind. Der US-amerikanische Soziologe Immanuel Wallerstein hat diese Periode des systemischen Umbruchs folgendermaßen beschrieben: „Wir leben in einer Phase des Übergangs von unserem existierenden Weltsystem, der kapitalistischen Wirtschaft, zu einem anderen System oder anderen Systemen. Wir wissen nicht, ob dies zum Besseren oder zum Schlechteren sein wird. Wir werden dies erst wissen, wenn wir dorthin gelangt sind, was möglicherweise noch weitere 50 Jahre dauern kann. Wir wissen allerdings, dass die Periode des Übergangs für alle, die in ihr leben, eine sehr schwierige sein wird. … Es wird eine Zeit der Konflikte oder erheblicher Störungen … sein. Es wird auch, was nicht paradox ist, eine Zeit sein, in der der Faktor des freien Willens zum Maximum gesteigert wird, was bedeutet, dass jede individuelle und kollektive Handlung eine größere Wirkung bei Neuaufbau der Zukunft haben wird als in normalen Zeiten, also während der Fortdauer eines historischen Systems.“ (Immanuel Wallerstein, Utopistik, Wien, 2002, S. 43)

Im gewissen Sinne können die bereits global eskalierenden Auseinandersetzungen und Verwerfungen als Teil dieses Kampfes um die Ausgestaltung des künftigen Weltsystems aufgefasst werden, auch wenn dies den Akteuren dieser Kämpfe zumeist nicht klar ist. Die ungeheure Intensivierung der Umbrüche und Konflikte resultiert aus der Tatsache, dass das gegenwärtige System für immer mehr Menschen unerträglich wird, da es an seine Entwicklungsgrenzen stößt.

Immer mehr Menschen fallen aus dem Prozess der Kapitalakkumulation heraus, sie werden „überflüssig“ – während der Druck auf die noch in Arbeit befindlichen Lohnabhängigen immer weiter wächst. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen im arabischen Raum etwa bildete eine wichtige Triebkraft der Umbrüche in dieser Region. Deutschland kann als eine Burnout-Republik bezeichnet werden, während in Südeuropa zweistellige Arbeitslosenraten erreicht werden.

Mit zunehmender Krisenintensität werden sich diese Widersprüche verschärfen. Der Ausgang dieses chaotischen Transformationsprozesses ist – wie von Wallerstein konstatiert – völlig unklar, da er von den unendlich komplex verwobenen Handlungen der daran Beteiligten Menschen abhängig ist. Das kommende Weltsystem kann viel schlimmer (hieratischer und diktatorischer) als das Gegenwärtige werden – oder auch besser, egalitärer und demokratischer. Mit Sicherheit kann aber jetzt schon konstatiert werden, dass die aus dieser Transformation hervorgehende Gesellschaft keine kapitalistische sein wird, da es das dargelegte Kapitalverhältnis selbst ist, das an seine inneren Grenzen stößt und die tiefere Ursache der gegenwärtigen Krise bildet.

Letztendlich scheint es angebracht, diese Krise auch als Chance wahrzunehmen; als Chance auf die Errichtung eines besseren, demokratischeren und egalitären Gesellschaftssystems. Bei Abstrahierung von den konkreten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung nimmt die Krise ja einen regelrecht absurden Charakter an: Die Gesellschaft erstickt an ihrem Überfluss.

Der Kapitalismus verliert letztendlich seinen ewigen „Wettlauf mit den Maschinen.“ Weil zu viele Waren mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden können, versinken immer mehr Bevölkerungsgruppen und Weltregionen in Marginalisierung und Verelendung. Die technischen und materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Gesellschaft, die die Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit befriedigt, sind aber objektiv gegeben.

Weitere Infos:

Immanuel Wallerstein on the end of Capitalism
„In 30 Jahren wird es keinen Kapitalismus mehr geben“
Schleifung der Überkapazitäten
Zweite Welle der globalen Wirtschaftskrise innerhalb der nächsten Jahre

24. Dezember 2011