„Reich der Notwendigkeit“ und „Reich der Freiheit“

von Emmerich Nyikos

1.

„Arbeit“ ist hier als produktive Tätigkeit (genauer: gebrauchswertproduktive) zu verstehen, nicht aber als „Lohnarbeit“, die auf dem Verkauf der Arbeitskraft beruht, welcher Verkauf dann für den Lohnarbeiter die eigentliche „Gewinnung des Lebensunterhalts“ darstellt; diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als die Arbeitskraft im Anschluss an ihren Verkauf auch für gänzlich unproduktive Zwecke genutzt werden kann, die mit der Gewinnung des Lebensunterhalts, von der Warte der Gesamtgesellschaft aus, gar nichts zu tun haben (wie etwa das Aktenordnen an der Börse, das Texten eines Werbespruchs oder das Nachschleppen der Schläger und Bälle auf dem Golfplatz). Der Sinn der Arbeit ist hier gänzlich pervertiert: Arbeit, ursprünglich Bedingung der Hominisierung („Hand und Wort“), wird als Lohnarbeit (oder als freelance) mehr und mehr zur unsinnigen Beschäftigung.

Verstanden als „Gewinnung des Lebensunterhalts“ im engeren Sinn weist Arbeit, als anthropologische Konstante (die sie zumindest bis hin zum post-modernen Zeitalter ist), stets zwei Hauptaspekte auf:

1. die Plackerei als Verausgabung von Lebenssubstanz, sei sie nun „materiell“ oder „geistig“ (aber streng zu unterscheiden vom Zwangscharakter der Arbeit in Klassengesellschaften, der wohl dafür verantwortlich ist, dass in vielen Sprachen der Ausdruck für „Arbeit“ ursprünglich die Bedeutungskomponente „Qual“ implizierte oder überhaupt darauf etymologisch zurückgeht) und

2. die produktive Bereitstellung von Gütern.
Die Betätigung der Arbeitskraft entzieht Lebenssubstanz, was sich am Ende des Arbeitsprozesses als Erschöpfung und Müdigkeit äußert; sie bringt aber auch stets Gebrauchswerte hervor, die (mehr oder weniger) notwendig sind für das menschliche Leben (als Basis der Konsumtion im weitesten Sinn) und nicht zuletzt auch notwendig zur Rekreation des Arbeitsvermögens.

Man muss hier aber strikt unterscheiden zwischen der Arbeit, die immer instrumentell im Hinblick auf die Konsumtionssphäre ist (direkt oder indirekt), und der freien Aktivität, die nicht-instrumentell ist, nicht induziert durch einen äußeren Zweck, sondern selbstreferent als ungebundene Betätigung der menschlichen Wesenskräfte als solche, was natürlich nicht heißt, dass sie nicht auch nützliche Resultate zeitigen kann. (Freie Aktivität – free activity – darf freilich auch nicht mit Spiel an und für sich verwechselt werden, sie kann auch ziemlich „harte Arbeit“, „geistige Knochenarbeit“, sein.)

2.

Ursprünglich freilich (vor dem Aufkommen der Maschinenarbeit) implizierte die Arbeit (und nicht nur die freie Aktivität) auch ein kreatives Moment, insofern sie auf der Realisierung eines ideellen Planes beruhte, der so in der Natur keineswegs vorkam: In diesem Sinne konnte sie als durchaus schöpferisch gelten.

Nur ist im Arbeitsprozess das Schöpferische stets sekundär, da es sich hier im Prinzip lediglich um die Gewinnung des Lebensunterhalts handelt, was bedingt, dass in den Arbeitsprozessen das einmal Bewährte stets wiederholt wird – dass die Arbeit mithin zur Routine gerät –, wodurch sich der kreative Aspekt der Tendenz nach verflüchtigt.

3.

In einer Klassengesellschaft schließlich sondern sich voneinander Arbeit und freie Betätigung ab, zwei Bereiche, die zuvor noch eng verflochten waren, wie zahlreiche ethnographische Berichte über „primitive Gesellschaften“ betonen. Denn das Jagen und Sammeln wechselt hier mit der Ausführung von Riten ab, die aber bis zu einem bestimmten Punkt selbst instrumentell im Hinblick auf die Produktion sind, und diese wiederum mit der Zubereitung des Essens usw. Dabei wird die Arbeit den subalternen Klassen aufgehalst – eine Plackerei, deren Mühsal durch den Zwangscharakter der Arbeit dann nur noch verschärft wird –, während den herrschenden Klassen infolge ihrer Freistellung vom gesellschaftlichen Arbeitsprozess die freie Aktivität zufallen kann, da sie allein – insofern sie das Mehrprodukt absorbieren – über die Muße verfügen, die die Bedingung für free activity ist. Das wussten schon die frühen Theoretiker der Klassengesellschaft, allen voran der große Aristoteles.

Die Arbeit verliert darüber hinaus oftmals auch gänzlich ihre kreativen Aspekte (oder das, was als solche nachsichtigerweise noch durchgehen kann), dann nämlich, wenn die Elite die Planung und Leitung von der Ausführung ablöst und exklusiv für sich reklamiert, wobei es freilich auch vorkommen kann, dass das Planen und Leiten an Spezialisten subalterner Natur delegiert wird (an die Verwalter der Latifundien mit ihren Aufsehern, die selbst Sklaven sind, an die Vögte der Gutshöfe und an die Manager und Ingenieure der modernen Fabriken), da die herrschende Klasse selbst zumeist jede Art von Arbeit verachtet und als Banausentum schmäht, wobei sich hier vor allem antike Schriftsteller wie Aristoteles und Xenophon hervorgetan haben.

4.

Mit der kapitalistischen Produktion, der Lohnarbeit und dem Verkauf des Arbeitsvermögens, also der totalen Subsumtion unter das Prinzip der Verwertung, ist schließlich ein Endpunkt erreicht: Nicht nur wird die Trennung von geistigem Entwurf und Realisierung in der Zerstückelung und Zerlegung des Arbeitsprozesses in Handgriffspartikel zu einer Konsequenz der Technologie (im Gegensatz zur Option früherer Zeiten), also irreversibel, auch die Entfremdung der Arbeit von ihrem Produkt steigert sich bis zum Extrem, da der Maschinenarbeiter als solcher (also als eine Person) in der Tat nichts mehr herstellt, insofern das greifbare Produkt das Resultat der anonymen Handgriffe von vielen Arbeitern ist.

Die Arbeit wird hier gänzlich zur Qual, die lediglich übertüncht wird durch die Illusion, aufgrund des Lohns „auf eigenen Beinen“ zu stehen. – In der bürgerlichen Gesellschaft, so Marx, ist die Arbeit „nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin hervor, dass, sobald kein physischer Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird.“ (K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW 40, S. 514)

5.

Heißt das nun, dass wir der verlorenen Welt der kleinen Produktion, die irgendwie noch kreative Aspekte besaß, nachtrauern sollen? Durchaus nicht. Denn einmal abgesehen davon, dass jedes Nachtrauern als witzlos erscheint, sobald man die Sache, der man hinterherweint, objektiv nicht mehr wiederherstellen kann, und ganz abgesehen davon, dass diese „kleine Produktion“, was ihre kreativen Aspekte betrifft, doch ziemlich armselig war, ist es doch so, dass das System, das vom Kapitalverhältnis beherrscht wird, notwendigerweise die Bedingungen schafft, welche die „Arbeit“ als solche – als eine Aktivität, die von einem äußeren Zweck dominiert wird – überhaupt obsolet werden lassen.

Man denke hier nur an die Automatisierungstendenz, welche die lebendige Arbeit nach und nach aus der Produktionswelt verdrängt. Denken wir uns – hypothetisch – zu dem noch hinzu, dass Mode und geplante Obsoleszenz – die moralische Veraltung der Dinge –, da an und für sich irrational, in einer befreiten Gesellschaft verschwinden und die Dauerhaftigkeit der Güter zur Norm gemacht wird. Denken wir uns weiter hinzu, dass das Produktionsvolumen dadurch gesenkt wird, dass die Gesellschaft Rüstungsgüter, Schnickschnack und sinnlosen Luxus nicht mehr hervorbringt, weil sie dies alles im Grunde nicht braucht. Denken wir uns schließlich noch dies eine hinzu, dass mit dem Ende der Warengesellschaft auch alle Tätigkeiten wegfallen müssen, die sich nur der spezifischen Form dieser Gesellschaft verdanken: Kommerz, Reklame, Finanz.

Dann allerdings haben wir eine Gesellschaft vor uns, wo die Arbeitszeit, die gesellschaftlich notwendig ist, in der Tat auf ein Minimum, das fast schon an Null grenzt, reduziert worden ist. (Und ganz nebenbei verschwinden mit dieser décroissance bis zu einem bestimmten Punkt auch die ökologischen Übel, die das „Wachstum“ der Produktion unvermeidlich hervorbringt.)

Damit aber wird die Zeit, über die die Gesellschaft verfügt, zu, wie Marx es genannt hat, free time, disposable time, die „teils zum Genuss der Produkte, teils zur free activity“ genutzt werden kann (K. Marx, Theorien über den Mehrwert, in: MEW 26.3, S. 253). Und diesmal für alle, und nicht nur – wie in der Klassengesellschaft – für eine Minorität.

Hier haben wir es dann natürlich nicht mehr mit „Freizeit“ zu tun, die nur Komplement der Arbeitszeit ist, weil sie bloß der Regeneration der Arbeitskraft dient: „Freie Zeit“ ist vielmehr die Zeit für kreative Betätigung ganz jenseits der Produktion. Sie „gehört zu einer freien Gesellschaft, Freizeit zu einer repressiven“. (H. Marcuse, Das Individuum in der „Great Society“, in: H. Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Suhrkamp (1976), S. 175)

Marx hat dies das „Reich der Freiheit“ genannt (K. Marx, Das Kapital III, in: MEW 25, S. 882), eine Freiheit, die für uns greifbar nah ist, weil das Kapitalsystem infolge der Produktion des relativen Mehrwerts – obgleich gänzlich unbewusst und von allem nichts ahnend – ihr schon auf das Erfreulichste vorgearbeitet hat. – „Die Schöpfung von viel disposable time außer der notwendigen Arbeitszeit für die Gesellschaft überhaupt und jedes Glied derselben …, diese Schöpfung von Nicht-Arbeitszeit erscheint auf dem Standpunkt des Kapitals, wie aller frühren Stufen, als Nicht-Arbeitszeit, freie Zeit für einige. Das Kapital fügt hinzu, dass es die Surplusarbeitszeit der Masse durch alle Mittel der Kunst und Wissenschaft vermehrt, weil sein Reichtum direkt in der Aneignung von Surplusarbeitszeit besteht; da sein Zweck direkt der Wert, nicht der Gebrauchswert. Es ist so, malgré lui, instrumental in creating the means of social disposable time, um die Arbeitszeit für die ganze Gesellschaft auf ein fallendes Minimum zu reduzieren; und so die Zeit aller frei für ihre eigne Entwicklung zu machen.“ (K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Dietz (1953), S. 595f.)

Die Befreiung selbst allerdings fällt uns nicht von allein in den Schoß: Sie muss – von uns – erarbeitet werden, und nicht nur in dem Sinn, dass eine Gesellschaft, die auf Gemeineigentum und Planung beruht, erst hergestellt werden will (was an und für sich schon eine Titanenarbeit ist), sondern auch, weil es durchaus nicht als selbstverständlich erscheint, dass free time zur free activity genutzt werden wird, was sich, wie man sich leicht vorstellen kann, als fatal herausstellen würde. Denn schlimmer noch als jede Plackerei ist der Müßiggang, wenn der Kopf leer ist. Hier müsste nicht nur die Produktions-, sondern auch die ganze Lebensweise umgewälzt werden. Und dies ist nun wirklich – transformatorische Knochenarbeit.