»Noch nie war es so schlimm«

Über die neuen ungarischen Verhältnisse und den Rechtsruck auch andernorts

G.M. Tamás im Gespräch

Tipp: Tamás heute auf ö1, 16 Uhr

Der Philosoph G. M. Tamás, ein Siebenbürger Ungar, geboren 1948 in Kolozsvár/Clujin (Rumänien), emigrierte 1978 nach Ungarn, wo er jedoch alsbald als Dissident mit Berufsverbot belegt wurde. Er gehörte zu den Mitbegründern der neuen ungarischen Republik 1989/90 und war bis 1994 Abgeordneter im ungarischen Parlament. Danach widmete er sich wieder seiner Profession. In der neuen Ära wurde er als Forschungsprofessor (früher Direktor) des Philosophischen Instituts in Budapest abgesetzt. Mit dem Vorsitzenden der »Grünen Linken Ungarns« sprach in Berlin Karlen.

ND: Europa ist stark beunruhigt über das neue Mediengesetz in Ungarn. Wie schlimm ist es?
Tamás: Es ist schlimm, ganz schlimm. Es sind nicht nur subversive oder oppositionelle Diskurse verboten, man schreibt auch Inhalte vor. Alle Zeitungen haben die Pflicht, Angelegenheiten von »nationaler Bedeutung« zu veröffentlichen. Und eine Zentralbehörde fabriziert die Nachrichten.

Wie im Realsozialismus? Das neue Mediengesetz scheint aber nur die Spitze des Eisberges zu sein. Einen ganzen Katalog undemokratischer Maßnahmen hat die neue Regierung in Budapest unter Viktor Orbán erlassen.
157 neue Gesetze und neun Vefassungsänderungen sind seit Frühjahr vorigen Jahres, seit die neue Regierung im Amt ist, verabschiedet worden. Das ist furchtbar. Die Fidesz-Partei hat im Parlament eine Zweidrittelmehrheit. Und unsere Verfassung erlaubt es, mit einer solchen Mehrheit alles, auch die Verfassung zu ändern. Es gibt in der ungarischen Verfassung keine Ewigkeitsklauseln wie im deutschen Grundgesetz.

Und deshalb schreitet auch das Verfassungsgericht nicht ein?
Das Verfassungsgericht ist kastriert, hat keine wirklichen Befugnisse. Zum Beispiel kann es nicht mehr Budgetfragen beurteilen. Und was ist nicht alles damit verknüpft! Praktisch alles. Schon sind Theatern und der Filmindustrie die Gelder entzogen. Das Problem sind aber nicht nur die neuen Gesetze. Tausende Menschen sind aus den öffentlich-rechtlichen Medien und dem öffentlichen Dienst entlassen und ersetzt worden durch engagierte Parteileute der Rechten, teilweise der extremen Rechten. Es gibt ein neues Beamtengesetz, das die Entlassung öffentlich Bediensteter ohne jegliche Begründung gestattet. An Lehr- und Forschungseinrichtungen finden politische Säuberungen statt. Das 1956er Institut ist dicht. Und und und.

Erstaunlich, dass der europaweite Aufschrei nicht schon früher erfolgte, sondern erst mit dem neuen Mediengesetz.
Natürlich. Die Weltpresse ist sehr provinziell geworden. Erst wenn das Interesse der Journalistenprofession bedroht ist, ist das Geschrei groß.

Die Einschränkung des Streikrechts in Ungarn hat beispielsweise nicht diesen Protest gefunden.
Europäische Gewerkschaften haben zwar protestiert, aber das finde ich in keiner einzigen von 7000 Zeitungen, die es in Europa gibt. In keiner einzigen. Naja.

Und die Dame Justitia ist in Ungarn auch in rechter Hand?
Ja. Der Generalstaatsanwalt ist ein rechter Parteimann. Der Vorsitzende des Rechnungshofes ist ein Rechtsabgeordneter. Alle Mitglieder der neue Medienbehörde sind rechte Politiker.

Und alle wurden auf neun Jahre ins Amt berufen. Eine lange Zeit. Was hat es mit dieser Zahl auf sich?
Das reicht über drei Parlamentsperioden. Auch an der Spitze der Regierungsbüros der 22 Komitate, unsere traditionellen Gebietseinteilung, befinden sich ausschließlich rechte Gesinnungstäter. In allen Komitatsversammlungen, die vergleichbar mit den Länderparlamenten in der Bundesrepublik sind, gibt es eine rechte Mehrheit. Die Rechten haben also in Ungarn eine sehr starke administrative und legislative Kraft. Von 23 Großstädten in Ungarn werden 22 von konservativen Bürgermeistern regiert. Und in den Dörfern sind 93 Prozent der Bürgermeister Rechte.

Wie hat es zu diesem starken Rechtsruck kommen können?
Durch das Versagen und den Zusammenbruch der sozialistischen Partei. Wir haben nicht wahr haben wollen, was eine bürgerliche Partei sich zu leisten wagt. Ich bin Herrn Orbán dankbar, dass er den ehrlichen, aufrechten Demokraten jetzt gezeigt hat, dass die bürgerliche Demokratie kein Garant für die Freiheit ist. Die antidemokratische Wende in Ungarn vollzog sich im Rahmen der Verfassung.

Ist Ungarn kein demokratischer Staat mehr?
Wir haben eine halbe Diktatur. Und die Sozialisten, die eine neoliberale Politik betrieben haben, sind daran mitschuldig. Das ist ein Grund. Ein anderer ist die Eskalation der Konflikte innerhalb der Gesellschaft, die man in ganz Europa registrieren kann und die dort ebenso eines Tages umzuschlagen drohen. Da ist dieser neue wirtschaftliche Rassismus: kein Geld für Minderheiten und Fremde. Bei uns kann nur noch soziale Unterstützung erhalten, wer in »geordneten Verhältnissen« lebt; das bietet weiten Interpretationsraum. Das kann man auch in Italien und Frankreich beobachten. Sozialhilfe und Sozialversicherungen werden denunziert als unverdiente Geschenke an Farbige, Einwanderer, Faulenzer, Schmarotzer – blablabla. Man sagt das manchmal verblümt, manchmal auch ganz unverblümt. Bei uns, in Italien, in Frankreich.

Und in Deutschland.
Vielleicht noch nicht so krass. Der Sozialstaat wird als eine ungerechte Institution dargestellt, die nur unpopulären Minderheiten zu Gute komme. Dass diese Ansicht sich ausgebreitet hat, ist einer der Riesenerfolge der Rechten in den letzten Jahren. Nicht nur in Ungarn, nicht nur in Europa. Warum ist die Bevölkerung der Vereinigten Staaten gegen ein Sozialhilfesystem? Weil die Sozialhilfeempfänger mehrheitlich Schwarze sind. Es werden Stimmungen geschürt wie in den 50er und 60er Jahren.

Geschichte im Krebsgang?
Könnte man meinen. Es ist der Rechten in den USA gelungen, die unteren Schichten der Gesellschaft für Sozialkämpfe zu demotivieren. Das wäre Erstens. Zweitens gibt es den Generationskonflikt. Es wird Stimmung gegen die Rentner gemacht, überall. Und das ist furchtbar. Man spricht über sie, als wären sie Parasiten. Warum sterben sie nicht endlich? Das fragt man bei uns ganz offen. Und drittens wäre der erstarkte Nationalismus zu nennen. Die Orbán-Regierung behauptet, der Kapitalismus sei unserem Land fremd. Man polemisiert gegen die Globalisierung und gegen multinationale Konzerne, die uns ihre Fremdherrschaft aufzwingen wollten. Während bei Ihnen in Deutschland ein Horst Mahler eine extreme Randfigur ist, geben diesen Unsinn bei uns Mainstreamideologen von sich. Und all die Menschen, die gegen diesen aggressiven Nationalismus und militanten Rassismus protestieren, werden in der rechten konservativen Presse in Ungarn mit dem Etikett »fremdherzig« belegt. Ich bin auch ein fremdherziger Bürger.

Das erinnert an das Vokabular der Nazis: die »Fremdkörper«, die der »gesunden Volksgemeinschaft« schaden und »auszumerzen« sind. Erst zu Beginn des Jahres 2010 wurde in Ungarn ein Paragraf gegen die Leugnung des Holocaust verabschiedet
Und ist schon wieder aufgehoben. Es gibt auch keine Verbrechen ungarischer Faschisten, nur des deutschen Nationalsozialismus – und des Kommunismus. Es ist eine Straftat, wenn man sagt, dass es in den 60er Jahren eine größere Gerechtigkeit in der Gesellschaft gab als heute. Wer die mörderische Hatz gegen Sinti und Roma kritisiert oder den Antisemitismus verurteilt, gilt in Ungarn als Agent des Auslandes, ob wissentlich oder unwissentlich. Marxisten, Liberale, Sozialdemokraten, Grüne – alle sind fremdherzige und sippenfremde Agenten.

Die Leute stöhnen und schimpfen gegen die Multis. Und sie glauben, unsere Regierung schützt sie, verhindert, dass Ungarn unter das Joch fremder multinationaler Unternehmen fällt, denn sie hat ja Spezialsteuern gegen ausländische Banken, Versicherungsgesellschaften und Geschäftsketten erhoben. Die Regierung operiert mit antikapitalistischen Floskeln, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Sponsoren die reichen Kapitalisten sind. Nationalismus, Rassismus und Pseudo-Antikapitalismus ergeben eine sehr gefährliche Mischung.

Auch das erinnert an den Faschismus. Besteht die Gefahr eines Rückfalls in Ungarn?
Nein, es ist nicht nötig. Die Rechten können machen, was sie wollen. Noch nie war es so schlimm wie heute. Außer unter Horthy und der deutschen Okkupation.

Kann man nichts dagegen tun?
Doch, und man muss. Es ist schwer, sehr sehr schwer. Aber wir geben nicht auf.

aus: Neues Deutschland, 14. Januar 2011