Nevermind

von Roger Behrens

Nach Wikipedia: „Eine Rückkopplung … ist ein Mechanismus in signalverstärkenden oder informationsverarbeitenden Systemen, bei dem ein Teil der Ausgangsgröße direkt oder in modifizierter Form auf den Eingang des Systems zurückgeführt wird … Rückkopplungen kommen überall in technischen, biologischen, geologischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen vor. Je nach Art und Richtung der rückgeführten Größe kommt es zur Selbstverstärkung des durch das System bedingten Prozesses oder zu dessen Abschwächung oder Selbstbegrenzung.

Pop ist ein System ideologischer Rückkopplung: Aufklärung wird zu einem Verblendungszusammenhang übersteuert. Es ist die bewusste Verstärkung des Fetischcharakters der Ware (den Marx im „Kapital“ bereits physikalisch mit dem „Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv“ analogisierte).

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Amy Winehouse, 1982 bis 2011: Der traurige Tod und das ebenso traurige Leben der Musikerin offenbart zynisch, wie es um das Glücksversprechen der so genannten Kultur bestellt ist. Es heißt, sie hätte Drogenprobleme gehabt. Gesungen hat sie darüber. Und die Leute haben geklatscht, sie gelobt als authentische Frau, die authentischen Soul macht. – Vom Tod erfahre ich durch das Internet, nämlich durch die Seiteninformationsleiste von www.zeit.de. Ein paar Tage später gibt es hier den kleinen Clip „Amy Winehouse beigesetzt“; er erscheint unter der Rubrik: „Videos zum Thema Kultur“.

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Gemeinhin datieren die Anfänge der Popmusik, die mehr ist als bloß popular music, nämlich Rock ’n’ Roll und Soul, auf Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. „Roll over Beethoven“ skandiert Chuck Berry 1956. Im selben Jahr findet in London die Pop-Art begründende Ausstellung „This is tomorrow“ in London statt. Und die Lettristen fordern bereits „eine leidenschaftliche Umwälzung des Lebens … Diese große kommende Zivilisation wird Situationen und Abenteuer konstruieren.“ So ist es zumindest in einem Pamphlet der Lettristischen Internationale 1954 zu lesen. Schließlich kommt mit dem Lärm auch die Ruhe: 1952 wird John Cages aus drei Sätzen tacet (i. e. Pause) bestehendes „4’33”“ in Woodstock uraufgeführt.

Doch diese Anfänge haben ihre Ursprünge, Vorwegnahmen und Ankündigungen. „… Aber eine Konsequenz wird durch Ives’ vierte Symphonie … sicher kenntlich …: die – wahrscheinlich nicht ganz freiwillige – Erfindung der Pop-Musik durch den Meister aus New England. Versteht man Pop-Musik nämlich vor allem als einen Umgang mit Musik, der sich weniger um die immanente Organisation von Klängen und Tönen kümmert, sondern auf fertige, in sich geschlossene Klangobjekte rekurriert, die unabhängig von ihrer musikalischen Logik durch eine ihres (öffentlichen) Gebrauchs, ihres ‚Bildes‘, ihrer Funktion geprägt sind, dann war diese Symphonie, insbesondere ihr zweiter Satz, der erste Schritt in diese Richtung.“(Diedrich Diederichsen, „Musikzimmer. Avantgarde und Alltag“, Köln 2005, S. 209f.)

Märsche, Hymnen, Jahrmarktrummel, Straßenlärm sind zu hören, montiert, aber nicht im Sinne der Geräuschcollage, sondern als mehrschichtige Komposition, eben, eventuell ähnlich zu Eisensteins Kino: als Montage-Komposition, Montage-Konzert, Montage-Sinfonie. – „Fertig, aber beweglich“, wie Diederichsen meint.

„Auch Wetter, ein anderes Lieblingsthema, wollte er, anders als der musikalische Impressionist, nicht unbedingt als ein von einem bestimmten Ort aus agierendes Naturereignis, in das sich das Subjekt zu versenken hätte, sondern als permanente Überschreitung der musikalischen Kompetenzen durch die Musik begreifen: Es kommt von allen Seiten, agiert und überrascht den Hörer. Den Rezipienten wird keine Kontemplation gegönnt. Für Ives ist die Welt um ihn herum schon so mit Klängen, sei es kulturellen, sei es meteorologischen, aufgeladen, dass eine Musik, die von einer Bühne oder einem zentralen Lautsprecher herkommt, nicht mehr interessant ist. Die Quellen sind so über die Welt verstreut und beweglich wie später Transistorradio und Walkman.“ (Diederichsen, Musikzimmer, a.a.O., S. 210 f.)

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Es kommt nicht von ungefähr, dass im Vorjahr des Mai 68 und mitten im Krieg (Vietnam etc.) das Spektakel von einem Spektakel der Verweigerung konterkariert wird: 1967 ist der „Summer Of Love“, der Höhepunkt der Hippiebewegung – The Mamas And The Papas singen „San Francisco“:

„If you’re going to San Francisco,

Be sure to wear some flowers in your hair,

If you come to San Francisco,

Summertime will be a love-in there.“

Flower Power, Love and Peace, Golden Gate Park, Haight-Ashbury, schließlich das Monterey Pop Festival im Juni 1967 mit Jimi Hendrix, Otis Redding, The Who, Janis Joplin, Blood, Sweat & Tears, Canned Heat, Eric Burdon, Jefferson Airplane und Ravi Shankar. Ebenfalls 1967 veröffentlichen The Beatles „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, ihr achtes Album, mit einem Cover vom Pop-Art-Künstler Peter Blake: The Beatles stehen hier als Zirkusband vor mehreren Duzend „historischen Persönlichkeiten“ der Moderne, vom neunzehnten Jahrhundert bis 1967; um die meisten zu nennen: Aleister Crowley, die Schaupielerin Mae West, Karlheinz Stockhausen, der Schauspieler W.C. Fields, Carl Gustav Jung, Edgar Allan Poe, Fred Astaire, The Vargas Girl (ein Pin-up), der Architekt Simon Rodia, Bob Dylan, der Pemierminister Sir Robert Peel, Aldous Huxley, Dylan Thomas, der Schauspieler Tony Curtis, Marilyn Monroe, William S. Burrough, einige Gurus, Stan Laurel und Oliver Hardy, der Künstler Richard Lindner, Karl Marx, H.G. Wells, Sigmund Freud, der früh verstorbene erste Beatles-Bassist Stuart Sutcliffe, The Petty Girl (noch ein Pin-up), Marlon Brando, Oscar Wilde, der Entdecker David Livingstone, Johnny Weissmuller, George Bernard Shaw, der Fußballspieler Albert Stubbins, Lewis Carroll, der Boxer Sonny Liston, Marlene Dietrich, ein Fernsehgerät, eine Steinfigur von Schneewittchen, ein Gartenzwerg … Gandhi wurde entfernt; abgelehnt wurden die Vorschläge John Lennons, aus Spaß auch Jesus Christus und Adolf Hitler aufzunehmen. Auch Mickey Mouse oder Walt Disney fehlen …

Mit einer Parodie des Covers erschien 1968 „We’re Only In It For The Money“ von Frank Zappa and The Mothers of Invention, zugleich eine Kritik an der Hippie-Bewegung und dem Love-and-Peace-Spektakel.

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Chronik

1951. – Geschrieben während des Ersten Weltkriegs, erscheint 1917, im Jahr der Oktoberrevolution, das Buch „Growth and Form“ von D’Arcy Wentworth Thompson (1860 – 1948). Die These des Biologen: Mathematik und Physik haben einen größeren Einfluss auf die Formgestalt der Natur als die evolutionäre Anpassung. Dem Buch widmet sich 1951 eine Kunstausstellung im Londoner ICA, der Buchtitel wird übernommen.

Die Ausstellung ist mehr als eine Vergegenwärtigung der Thesen von Thompson: Es ist der Versuch, die Idee des Fortschritts mithilfe der Kunst, den Humanismus der Wissenschaft, genauer den modernen Humanismus der modernen Naturwissenschaft, vor eben der Katastrophe zu retten, mit der sich die Welt damals, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, konfrontiert sah. Dieser Rettungsversuch, der allgemein erstmals als Modernismus bezeichnet wurde, ist zugleich eine Wiederbelebung der ästhetischen Avantgarde, reaktiviert zudem einen radikalen Positivismus: Eine mit Wissenschaft verschmolzene Kunst soll das Design der Zukunft bilden, Ästhetik konvergiert mit der „technologischen Rationalität“.

Die ausstellenden Künstler sind Mitglieder der ein paar Jahre später gegründeten Independent Group: Reyner Banham, John McHale, Lawrence Alloway und Richard Hamilton. Mit „Growth and Form“ skizziert die Gruppe das Programm einer gleichermaßen organisch wie mechanisch erweiterten Ästhetik, die ähnlich wie beim Bauhaus von der Architektur aus gedacht wird, ihre Gestalt mithin aber nicht an der sozialen Form, sondern am Biomorphen orientiert – Vorbilder sind hierbei die Arbeiten von Buckminster Fuller; und es kommt nicht von ungefähr, dass die nächste Ausstellung 1953, wieder im ICA, „Parallel of Life and Art“ heißt, die folgende, 1955, wieder von Richard Hamilton kuratierte schließlich „Man, Machine and Motion“.

Diese Ästhetik bekommt 1956 in der Whitechapel Art Gallery, London, mit der bahnbrechenden Ausstellung „This is tomorrow“ (und auch hier ist der Titel Programm, die Künstler zeigen U.S.-amerikanische Massenkultur) einen neuen Namen: „Pop“. Als Markenzeichen eines Dauerlutschers ist das Wort auf einer Collage zu sehen, die Hamilton als Poster für diese Ausstellung anfertigte: „Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?“. – Richard Hamilton starb am 13. September 2011 im Alter von 89 Jahren.

1961. – Die Beatles treten das erste Mal auf (im Cavern Club, Liverpool).

1971. – Film. Pop, der sich in den Sechzigern endgültig musikalisch etablierte, konvergiert mit dem bewegten Bild. Im April kommt „Sweet Sweetback’s Baadasssss Song“ von Melvin Van Peebles in die Kinos, im Juli „Shaft“ von Gordon Parks, im Dezember „Clockwork Orange“ von Stanley Kubrick und „Dirty Harry“ von Don Siegel. Das sind Soundtracks von Isaac Hayes, W. Carlos mit Ludwig van Beethoven und Lalo Schifrin. Und Melvin Van Peebles hat für seinen Film die Musik selbst gemacht.

1981. – Einstürzende Neubauten veröffentlichen ihr erstes Album. Es heißt „Kollaps“.

Auf der Funkausstellung in Berlin wird die Compact Disc vorgestellt. Sie ermöglicht technisch 74 Minuten digitale Musikspeicherung, das entspricht der damals längsten verfügbaren Aufnahme von Ludwig van Beethovens Neunter Sinfonie. Fraglich war angeblich zunächst die Größe der CD: Man glaubte, dass die Scheibe mit zwölf Zentimetern Durchmesser nicht in übliche Anzugjacketttaschen passen würde. Sie passt doch. Interessant daran: dass die CD offenbar von vornherein als mitnehmbarer Konsumartikel für den prosperierenden Lifestyle damals reüssierender Yuppies gedacht war. Und ohnehin wurde Popmusik transportabel: Zur selben Zeit kamen der „Walkman“ und die so genannten Ghettoblaster auf. – Transportabel wurde der Pop auch auf anderer Ebene: als Fernsehen wurde die Musik in Form von Video-Clips erstmals nonstop ins Haus geliefert: 1981 geht MTV auf Sendung und die Ära des so genannten Musikfernsehens beginnt.

Schließlich aber auch das, „Idiotismus des Landlebens“ (Marx und Engels): die in Großenkneten, Landkreis Oldenburg in Niedersachsen, gegründete Band Trio nimmt im Sommer 1981 ihre erste Platte in einem provisorisch dafür hergerichteten Stall bei Husum auf, spielt am 23. November 1981 in Hamburg, im berühmten Onkel . „Da da da ich lieb dich nicht du liebst mich nicht aha aha aha.“ So etwas hat es in dieser Konsequenz seit Hugo Balls Lautgedichten nicht mehr gegeben. Trio präsentierten eine Ästhetik des konkreten Minimalismus: nämlich einen auf das Wesentliche reduzierten Pop, was doch nichts anderes ist als die Erscheinung. Ein im Stehen gespieltes Schlagzeug, eine Gitarre, ein Minikeyboard, Spielzeuginstrumente und Sprechgesang. Am 23. November 1981 war Rock vorbei. Peter Marxen, Betreiber des Onkel Pö bis 1979, beobachtet das aus dem Abseits (nämlich im Forsthaus Hessenstein, Lütjenburg) und ahnt, dass es bald zu Ende geht. Das Onkel Pö wird 1985 geschlossen.

1991. – Robert Kurz veröffentlicht seine erste große krisentheoretische Arbeit: „Der Kollaps der Modernisierung“.

„Nevermind“, das zweite Studioalbum von Nirvana, erscheint am 24. September 1991. Es ist das wichtigste Album der Neunziger, auch das meistverkaufte. Pop heißt: die Ware wird als Kultur hypostasiert, das Gebrauchswertversprechen im Tauschwert eingelöst. Auf dem Cover: Ein nacktes Baby schwimmt einer, an einem Angelhaken hängenden Dollarnote hinterher.

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„Solange keine Genealogie der Popkultur in Angriff genommen wird, die sich mit all den Mythen beschäftigt, die rund um Pop ranken und die nach den Ursachen dieser Mythen fragt, wird auch weiterhin alles Geschmacksurteil bleiben. Der Rolling Stone wird weiterhin die Stones, Neil Young und Nirvana als Spitzen der Pop-, genauer der Rockgeschichte festigen, Indie-Nostalgiker werden weiterhin Joy Division und Bauhaus nachtrauern – kurz: Alle werden an ihren kleinen Mythen festhalten, über die es sich bequem leben lässt. Statt schnell, sexy, schön, vergänglich zu sein, dient Pop den meisten Rezipienten ja längst schon als letzte beständige Bastion, als letzter Ort der Sicherheit.“ (Büsser, „Music is my Boyfriend“, Mainz 2011, S. 116)