Gefangen im Spektakel

Die Sympathie mit der Spontaneität der Proteste in Spanien und Griechenland ist gerechtfertigt. Doch die Forderung nach »realer Demokratie« weist nicht über die bestehenden Verhältnisse hinaus.

von Roger Behrens

Nun gibt es auch aus Griechenland und Spanien Fernsehbilder, wie man sie seit Monaten schon aus Ägypten, Tunesien und Libyen kennt. Der Kreis der Revolte schließt sich also mittlerweile ums Mittelmeer: Was die Demonstrationen und Aufstände des sogenannten arabischen Frühlings mit den Protesten in Südeuropa gemeinsam haben, ist der Kampf um Demokratie. Dass die Demokratiebewegungen auf der einen Seite Diktaturen gegenüberstehen oder -standen, auf der anderen bankrotten Verwaltungsstaaten, ist ein Unterschied, aber keiner ums Ganze.

Der Protest richtet sich in all diesen Ländern gegen Zustände, die als undemokratisch kritisiert werden. Was die Demonstranten zunächst in Spanien und nun auch in Griechenland als »reale Demokratie« proklamieren, scheint also durchaus das Motiv zu sein, das den Charakter der Revolte bestimmt – zumindest in den Ländern ums Mittelmeer herum: »Democracia real Ya!« Gleichermaßen soll es um Politik und Ökonomie gehen, so dass sich einige hier schon eine praktische Kritik der politischen Ökonomie erhoffen – oder sie befürchten.

Jedoch zeigt sich: Was die Protestierenden auf den Straßen unter »realer Demokratie« oder überhaupt unter Demokratie, Kritik, Politik und Ökonomie verstehen, bleibt ohne Begriff. Die Revolten faszinieren oder irritieren zunächst allein durch die Macht der Bilder, das heißt durch das mediale Spektakel. Sie folgen damit einer Logik, die man zwar gemeinhin den machtvollen Mechanismen der sogenannten bürgerlichen Öffentlichkeit zuschreibt, die jedoch tatsächlich aus den symbolischen Stereotypen bewegungslinker Selbstrepräsentation resultiert. Das ist ein Problem, seit die Linke der Logik des Spektakels folgt und ihre Praxis mehr über ihre symbolischen Ausdrucksformen, ihre »Kultur« oder »Lebensweise« definiert als über reflektierte Theorie.

Die Deutung der Revolten als links, radikal, revolutionär, ja insgesamt als politisch verharrt bei den Bildern, die auf semiotischer Ebene eher schematisch-assoziativ als reflexiv-kritisch mit dem Vorrat linker Ikonographie verknüpft werden. Dabei sind freilich längst nicht mehr Hammer und Sichel oder rote Fahne und roter Stern die sinnsicheren Zeichen, auf die man sich halbwegs verlassen kann; vielmehr sind dies leere Signifikanten, die nicht mehr als vereinfachende Stellvertretersymbole für reflektierte Theorie-Praxis-Komplexe fungieren, sondern mit den »politischen« Forderungen der »Linken« verschmelzen: Es handelt sich um eine Ästhetisierung der Politik, die eine den Aktionismus verteidigende Linke schon immer betrieb, da sie glaubte, diese gemäß der Umkehrformel einer Politisierung der Ästhetik aushebeln zu können.

Das Dilemma ist, dass dabei jeder Maßstab verlorenging, nach dem überhaupt noch theoretisch wie praktisch zu beurteilen wäre, was sich wie und warum als Linke geriert. Die Basisbanalitäten radikaler Gesellschaftskritik, die auf nichts anderem als der Selbstverständlichkeit des »realen Humanismus« (Marx/Engels) beruhten, werden zudem von den Banalitäten des Überbaus überlagert, der kruden Mischung aus Ideologie und Ressentiment. Ihre theoretischen Impulse soll die »Democracia real Ya!«-Bewegung immerhin aus Stéphane Hessels »Empört Euch!« beziehen, einer Flugschrift, die sich wesentlich auf antizionistische Anklagen Israels kapriziert. Dabei kann der Wunsch nach realer Demokratie ohne Zweifel ernst und aufrichtig sein. Zu fragen wäre allerdings, ob das Anliegen theoretisch kohärent ist im Sinne praktischer Politik oder politischer Praxis, oder ob auch die Linke mittlerweile vom postmodernen Ende der »großen Erzählung« überschattet wird.

Dass jede Generation von Linken sich bemüßigt fühlt, das Rad der Geschichte noch einmal zu erfinden, macht sie leider weder geschickter in Bezug auf das Rad, noch radikaler in Bezug auf die Geschichte. So zeigt sich auch an den neuesten Bewegungen, wie wenig Eigenständigkeit, ja Eigensinn es in der Linken gibt: Sie formieren sich als Reaktion auf die Krise der europäischen Gesellschaften, motivieren sich am Konflikt mit Staat und Kapital – nicht aus der über das Bestehende hinausweisenden Utopie. Auf eine Systemperspektive, immanent und transzendent, wird verzichtet. Zwar ist die uneingeschränkte Sympathie mit der Spontaneität der sich regenden Bewegungen gerechtfertigt. Umso dringlicher wird aber die solidarische Kritik der Absichten, Anlässe und vor allem auch Ziele ihrer Aktionen.

So wird gerade in Spanien deutlich, wie wenig die Linke auf ihre eigenen historischen Erfahrungen, Fehler und Lernprozesse zu rekurrieren weiß: Es fehlt der anarchosyndikalistische Geist, die Erinnerung an die proletarische Republik und den kurzen Sommer der Anarchie 1936. Stattdessen werden von der bürgerlichen Gesellschaft (die in Spanien auch Franco hieß und in Griechenland Papadopoulos) die alten, offenen emanzipatorischen Hypotheken übernommen, sei es der bescheidene Wunsch nach konsumistischem Wohlstand oder eben der immer auch als Drohung gemeinte Ruf nach Demokratie. Freilich ist es konsequent, unter diesen Erbschaftsbedingungen endlich die reale Demokratie zu fordern. Im Rückblick auf die realen Demokratien des 20. Jahrhunderts jedoch wirkt das unüberlegt und verkürzt.

Obwohl die derzeitigen Bewegungen die democracia real proklamieren, bleiben sie in ihrer irrealen Funktion in der Gesellschaft gefangen und isoliert. Vollends eingespannt in das Gefüge des Spektakels, schaffen sie es nicht, über die Bilder hinauszuweisen, die sie den Kameras bieten: Das Spektakel verdreht die Mittel der Demonstration zur Demonstration der Zwecke – und die Forderung verkehrt sich unheilvoll in die Drohung, dass die reale Demokratie nichts anderes ist als die vom Gesetz der Straße bestimmte Herrschaft des Volkes.

Gibt man sich jedoch damit zufrieden, dass überhaupt etwas passiert und endlich »die Leute was machen«, verdoppeln sich die Bilder des medialen Spektakels schnell in den linken Vorstellungen von Welt und Politik. Zwar zeigt sich ausgerechnet die Arbeiterklasse kaum auf den spanischen und griechischen Straßen. Doch die Demonstrationen eignen sich offenbar sehr gut dazu, um von der Multitude des wahr- und leibhaftig kommenden Aufstands zu schwärmen. Warum sich das beschädigte Leben ausgerechnet im Kampf von seiner menschlichen Seite zeigen soll, bleibt das Geheimnis postmoderner Revolutionsromantiker. Schon 1917 hat sich tragisch erwiesen, dass die Verzweiflung keine Idee und kein Ideal der Humanisierung hervorbringt. Vielleicht wachsen mit ihr der Kampfgeist, der Mut und der Opferwille, aber bestimmt nicht die Phantasie, die eine geschichtliche Veränderung oder Utopie möglich macht.

Allein als Utopie aber hätte sich die Idee der realen Demokratie zu konkretisieren: nicht als pragmatischer Reparaturplan für die bestehenden Verhältnisse, sondern als erst noch zu gestaltender Raum, in dem sich der Mensch »ohne Ent­äußerung und Entfremdung« erfasst, wie es Ernst Bloch im Schlusssatz seines Werks »Das Prinzip Hoffnung« formulierte. Das setzt aber voraus, dass die Menschen mehr wollen als bloß das, was sie jetzt und heute »reale Demokratie« nennen; dass sie alles wollen und vor allem: sich selbst – als Menschen und Menschheit.

Ein derart in Kraft gebrachtes und in Kurs gesetztes historisches Subjekt orientierte sich tatsächlich postpolitisch im Sinne von Marx: »Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« So müsste auch die Forderung nach realer Demokratie über den Staat hinauszugehen: nicht als Forderung nach der Freiheit innerhalb der Politik, sondern der Freiheit von der Politik.

aus: Jungle World 26, 30. Juni 2011