Der traumlose Traum

Kolumne Rückkopplungen

von Roger Behrens


Das Kino vermag das Unwirkliche als Wirklichkeit, das Unmögliche als Möglichkeit darzustellen. Indem das Kino die Bilder in einer ihm eigenen Logik in Bewegung setzt, ist es ein dialektischer Apparat, der Ideologie produziert und reproduziert, aber zugleich auch Ideologie als solche destruiert – beziehungsweise aufklärt. Als durch und durch materialistische Maschine setzt das Kino fort, womit die idealistische Philosophie im neunzehnten Jahrhundert aufhörte: mit der Erkenntnis, dass es einen Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung gibt und dass das, was ist, nicht unmittelbar ist. Das Kino ist insofern ein Vermittlungsapparat, der in Bildern bewegt, was Begriffe nicht zu fassen vermögen. Die Matrix, mit der das Kino dabei arbeitet, ist der Traum.
Das Kino folgt dabei im Übrigen nicht nur historisch, sondern auch systematisch parallel der Psychoanalyse. Filme wie etwa Orson Welles’ „Prozess“ oder Victor Flemings „The Wonderful Wizard of Oz“ funktionieren noch ganz so, wie Freud es sich in der „Traumdeutung“ dachte: dass a) Träume überhaupt deutbar sind, und b) diese Deutung etwas über das Seelenleben und seine eventuellen Störungen verrät.
Ein Jahrhundert plus ein Jahrzehnt nach Freuds wegleitender Traumdeutung bricht Christopher Nolan allerdings mit allen Konzepten der Psychoanalyse: die Träume, um die es in seinem letzten Film „Inception“ (USA 2010) geht, verlangen keine Deutung; mehr noch – es gibt in diesen Träumen auch gar nichts zu deuten. Sie geben nichts frei von dem, was nach Freud im Un bewussten verborgen ist: kein Begehren, keine Ängste, keine Sorgen und keine Lüste; stattdessen arbeitet Nolans Film mit der hierarchischen Architektur von Bewusstsein und Unter bewusstsein, die er sozusagen sozialpsychologisch als vollkommen in Ordnung voraussetzt.
Freud nennt Traumarbeit jenen Prozess, nach dem der latente Traumgedanke in (visuelle, akustische etc.) Bilder umgesetzt beziehungsweise manifest wird, also sich in das verwandelt, was wir gegebenenfalls als Traum erinnern. Die Traumdeutung kehrt dies um, versucht im manifesten Trauminhalt den latenten zu entschlüsseln. – In „Inception“ ist dies teils auf den Kopf gestellt, teils banalisiert: Das Seelenleben ordnet sich hier in Levels, einem Computerspiel ähnlich – Probleme bilden verschiedene, zu bewältigende Schwierigkeitsgrade, keine Neurosen oder Störungen, die psychoanalytisch zu behandeln wären.
Die Differenzen zwischen manifesten und latenten Trauminhalten sind eingeebnet, die Traumarbeit fällt mit der Traumdeutung zusammen. Mithin obliegt in „Inception“ die Traumarbeit nicht dem Träumenden, sondern Dom Cobb (Leonardo DiCaprio): Er hat aus der Fähigkeit, in anderer Leute Träume eindringen zu können, um sie zu manipulieren, seinen Beruf gemacht; spezialisiert hat er sich dabei auf die Träume der personifizierten Herrschaft, nämlich auf Träume von Führungspersönlichkeiten des Großkapitals – passend zu einer Welt, die ohnehin nur noch aus konkurrierenden Wirtschaftsimperien besteht; das sind zumindest die Parameter, mit denen im Film das Universum abgesteckt, das heißt kinografische Glaubwürdigkeit fürs Publikum erzeugt wird. Das bedeutet zum Beispiel: Cobb, der Traumexperte, ist kein Mediziner, also kein Irrenarzt und eben kein Analytiker, sondern – ganz im Sinne der vorgeführten Welt der Filmhandlung – Ingenieur, Informatiker.
Die Aufgabe, die in spannenden einhundertfünfzig Minuten gelöst wird: Cobb soll Robert Fischer (Cillian Murphy), dem Sohn eines im Sterben liegenden Unternehmers, den „Gedanken“ einpflanzen, das Unternehmen nach dem Tod des Vaters aufzuteilen; einem Konkurrenten soll das Vorteile bringen. Dafür braucht es ein Team, wozu vor allem Ariadne (Ellen Page) gehört. Die junge Frau, die in dem Film zugleich als attraktive Retterin fungiert, ist „Architektin“, und das meint hier: sie konstruiert Traumwelten (das heißt, sie hat diesmal nicht den Faden, der aus dem Labyrinth herausführt, sondern konstruiert überhaupt erst das Labyrinth – gleichsam um den Faden herum).
Die Schwierigkeit der Aufgabe besteht nun darin, dem Träumenden ein möglichst authentisches Traumreich zu schaffen; nur so kann tief genug in sein „Unterbewusstsein“ eingedrungen werden, um die so genannte „Inception“, wie nämlich die Gedankeneinpflanzung genannt wird, zu vollziehen. Und so führt das Drehbuch die Schauspieler von einer Traumschicht zur nächsten und es entsteht ein Traum im Traum im Traum … im Traum … usw.
Doch jeder Traum ist nur der noch perfektere Nachbau der Wirklichkeit. Der Modus, in dem sich das im Traum wie in der Wirklichkeit gleichermaßen vollzieht, ist die Technik. So haben die von der Architektin gebauten Gebäude mit etwa den Traumhäusern, die Benjamin für das neunzehnte Jahrhundert beschrieben hat, nichts zu tun: Diese Architektur ist mit der Wirklichkeit identisch, die ihre surrealen Abweichungen und Irritationen längst hinter sich gelassen hat. Im Grunde ist diese Traumwelt phantasielos, auch wenn die kinografische Tricktechnologie, mit der hier die Wirklichkeit als Traum kopiert wird, phantastisch erscheinen mag. Was allerdings fehlt, sind jene Traumelemente des Unheimlichen, Verrückten, Spontanen und Un-, wenn nicht Wahnsinnigen, die seit den Anfängen des Kinos die Filmbilder bereicherten.
Was heute fehlt, ist jedoch das utopisch-emanzipatorische Potenzial der Traumfabrik (wie Ilja Ehrenburg schon 1931 seine „Chronik des Films“ betitelte): nämlich dass der Film Träume liefern kann, nach denen die Wirklichkeit umzugestalten wäre, um schließlich die Wirklichkeit selbst als Traum zu konstruieren. Was bleibt, ist gute Unterhaltung. Und das ist, nach Leo Löwenthals Befund, Massenkultur als Psychoanalyse verkehrt herum. Die Träume, die hier geträumt werden, sind bloß noch ein „die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichende[s] Abbild“, wie es Adorno fürs Fernsehen fasste: ein „traumloser Traum“ (GS Bd. 10·2, S. 507). Und das ist, weil es für die höchste Spannung sorgt, der technisch ausstaffierte Alptraum, der schließlich auch insofern traumlos ist, als dass er den realen Alptraum gegenwärtiger sozialer Verhältnisse völlig unberührt lässt.