Commons – die Dinge selber in die Hand nehmen

Wie könnten die Alternativen zur kapitalistischen Marktwirtschaft aussehen?

Interview der Kleinen Zeitung Graz vom 16.11.2011 mit Brigitte Kratzwald

Arbeitslosigkeit, Finanzblasen, Klima- und Energiekrisen, etc. – die kapitalistische Marktwirtschaft entwickelt sich immer mehr zur Krisenwirtschaft. Wie könnten die Alternativen dazu aussehen? Ein Interview mit Sozialwissenschaftlerin Brigitte Kratzwald schafft neue Visionen

INTERVIEW: BARBARA JAUK

KLZ: Die kapitalistische Marktwirtschaft entwickelt sich immer mehr zur Krisenwirtschaft. Sie produziert Finanzblasen, Arbeitslosigkeit, Verteilungs-, Klima- und Energiekrisen, etc. Gibt es alternative Wirtschaftsformen, die diesen Entwicklungen ein Schnippchen schlagen können?

Kratzwald: Ich komme aus der globalisierungskritischen Bewegung von Attac und ich habe viele Jahre versucht, von Politikern und Politikerinnen auf nationaler und internationaler Ebene Änderungen einzufordern. Im Verlauf dieser Krisenbewältigungsstrategie ist jedoch klar geworden, dass die Politiker nicht nur nicht das machen, was wir gefordert haben, sondern im Gegenteil, dass durch diese Krisenbewältigung die Dinge noch schlimmer wurden. Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich will den Politikern nicht mehr sagen, was sie tun sollen, da muss es noch etwas anderes geben. Und dann bin ich 2008 auf das Thema Commons [1] gestoßen.

KLZ: Worum geht es bei Commons?

Kratzwald: Es geht darum, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Commons haben sich nicht irgendwelche Leute am Schreibtisch ausgedacht. Diese sind von unten gewachsen und haben sich ganz stark in den Entwicklungsländern gebildet, das ist der eine Strang. Der andere Strang ist jener der freien Software-Produktion. Commons sind nichts Neues. Es hat immer schon sehr viele Bereiche außerhalb des Kapitalismus gegeben. Der Kapitalismus ist nämlich keine Totalität. Noch nie ist alles, was wir brauchen, nur über den Markt gegangen, zum Beispiel die ganze informelle Wirtschaft in den Entwicklungsländern, aber auch die unbezahlte Arbeit in den Familien, die ja dazu beiträgt, dass das jetzige System überhaupt funktioniert. Was im Moment passiert ist, dass diese Bereiche, die außerhalb des Marktsystems liegen, immer mehr an Selbstbewusstsein gewinnen, und zwar durch die Krise, die Krise des Kapitalismus.

KLZ: Wie genau kann man sich dieses neue Selbstbewusstsein vorstellen?

Kratzwald: Das Gefühl macht sich breit, dass wir Dinge selber vielleicht besser machen könnten als es der kapitalistische Markt kann. Dabei ist es wichtig, dass die ganzen unterschiedlichen Traditionen zusammenkommen, jene aus den Entwicklungsländern, wo Menschen ihr Land wirklich noch gemeinsam nutzen (Anm.: gemeinsame Wasseranlagen, Wälder, Äcker), also ganz traditionelle alte Commons, und dann der ganze Bereich der öffentlichen Dienstleistungen, der Care-Tätigkeiten und letztendlich auch die neuen Commons, wo es um freie Software, freie Funknetze oder um freies Wissen (Anm.: Wikipedia) geht. Und die kommen jetzt alle zusammen und sagen, wir können das ohne Markt, wir können das so handhaben, dass wir die Ressourcen nicht übernutzen und zwar so, dass alle genug haben. Lasst uns doch einmal überlegen, ob das nicht eine Alternative wäre zum jetzigen System.

KLZ: Commons – eine alte Idee, die durch den Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgedrängt wurde?

Kratzwald: Viele Commons sind verloren gegangen, weil sie die Menschen einfach nicht mehr verfolgt haben. Weil sie irgendwann gesagt haben, wir wollen nicht mehr eine gemeinsame Waschmaschine im Keller nutzen, wir wollen lieber jeder selber eine haben, weil das praktischer ist. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem großen Wirtschaftsaufschwung hat es bei vielen das Gefühl gegeben, es ist praktischer, wenn jeder alles selber besitzt und so können wir Wohlstand schaffen. Ich selbst bin mit dieser Einstellung aufgewachsen. Dazu gehörte auch, dass man sich eine Lohnarbeit sucht, damit man später eine staatliche Pensionsabsicherung bekommt und sich generell unabhängig macht. Aber das war ein Trugschluss, dem die Gesellschaften ganz allgemein aufgesessen sind. Wir haben gedacht, durch Lohnarbeit können wir eine sichere Pension bekommen, aber das erweist sich zunehmend als Irrtum, weil Wachstum und Vollbeschäftigung auf Dauer nicht möglich sind und damit auch die Basis für die Pension wegfällt.

KLZ: Commons, Solidarische Ökonomie [2], commonbasierte Peer-Produktion [3], viele Begriffe für ein und dieselbe Idee – wie soll diese alternative Form des Wirtschaftens, des Lebens heißen?

Kratzwald: Es kommt nicht so sehr auf den Begriff an. Müssen wir uns überhaupt auf einen Begriff einigen? Das ist eigentlich Energieverschwendung. Denn es geht darum Prinzipien wahrzunehmen. Wie können wir Dinge herstellen, so dass alle genug haben, dass niemand ausgeschlossen wird? Wie können wir uns gegenseitig dabei unterstützen und nicht in Konkurrenz stehen? Wie können wir sicherstellen, dass die Ressourcen nicht übernutzt werden? Um solche Prinzipien geht’s. Bewegungen, die diese Prinzipien verfolgen gibt es mittlerweile auf der ganzen Welt, in ganz unterschiedlichen Kulturen, die kann man nicht auf einen Begriff vergattern. einschwören?

KLZ: Viele Commons existieren derzeit parallel zum kapitalistischen Markt. Können Commons langfristig gesehen den Kapitalismus ersetzen?

Kratzwald: Ich glaube, das können wir zum jetzigen Zeitpunkt so nicht beantworten. Auch wir, die wir uns mit solchen Ideen beschäftigen, können uns nicht genau vorstellen, wie so eine Gesellschaft genau funktionieren soll, welche Institutionen es braucht, welche Gesetze, welche Gremien, damit so etwas global funktionieren kann. Warum? Weil wir alle nichts anderes gelernt haben. Das sind Dinge, die können wir erst im Gehen entwickeln. Das geht nur schrittweise. Das heißt, grundsätzlich müssen wir aus dieser Gesellschaft anfangen, in der wir uns gerade befinden. Was für uns heute relevant ist, ist, dass wir heute und hier damit loslegen.

KLZ: Besteht nicht die Gefahr einer Instrumentalisierung der Commons?

Kratzwald: Die Gefahr besteht natürlich. So hat Machterhaltung in der Geschichte immer funktioniert. Die, welche an der Macht sind, versuchen, wenn Kritik aufkommt, wenn Alternativen entstehen, diese ins System einzubauen und damit die Kritiker wieder ins System zurückzuholen. Aber die die Commons nützen nie nur dem System, denn sie macht auch die Kritiker unabhängiger und gibt ihnen mehr Selbstbewusstsein und mehr Autonomie. Wir müssen nur schauen, wem nützt es mehr, dem „alten“ oder dem „neuen“ System?

KLZ: Welche Rolle spielen Geld und Eigentum in einer commons-basierten Wirtschaft?

Kratzwald: Erst einmal müssen wir unterscheiden zwischen Eigentum und Besitz. Niemand braucht Angst zu haben, dass jemand in seine Wohnung reinkommt und sagt, morgen wohne ich hier. Es geht darum, dass man natürlich das Recht auf die Dinge hat, die man braucht, so lange man sie braucht und wenn man sie braucht, aber diese Eigentumsrechte müssten natürlich begrenzt sein durch verschiedene Nutzungsrechte anderer Personen. Das heißt, dass zum Beispiel keine Häuser nur aus Spekulationszwecken leer stehen oder dass Zweitautos nicht ungebraucht in der Garage stehen. Worauf man kein Recht hätte, wäre Dinge zu horten, die man vielleicht einmal brauchen könnte. Das geht natürlich nur dann, wenn man sicher sein kann, dass wenn man etwas braucht, man es auch tatsächlich bekommt. Und hier kommt die Geldfrage ins Spiel. Entweder brauchen wir so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen oder es gibt eben gar kein Geld mehr und man produziert für einen Pool jene Dinge, die gebraucht werden und jeder kann sie nutzen.

KLZ: Wie bringt man die Leute dazu etwas zu tun ohne monetären Anreiz?

Kratzwald: Menschen haben immer schon ohne den monetären Anreiz gearbeitet (Anm.: ehrenamtliche Arbeit). Es gibt ein paar Gründe, warum Menschen etwas tun. Weil sie zum Beispiel etwas selber brauchen oder weil etwas Spaß macht. Hier taucht die Frage auf: Ja und wer macht die Dinge, die niemand machen will? Wer putzt das Klo, wer pflegt die Alten? Die Antwort heißt soziale Reputation. Diese kann ein ganz starker Anreiz sein, etwas zu tun. Wenn dann wirklich noch etwas übrig bleibt, dann teilt man sich diese Arbeit auf und jeder macht seine halbe Stunde pro Woche. Das wird es nicht sein, woran Commons scheitern.

KLZ: Welche Rolle spielen Regeln in dieser commonsbasierten Gesellschaft? Wer stellt sie auf, wer kontrolliert sie?

Kratzwald: Regeln spielen eine ganz wesentliche Rolle. Wichtig ist, unterschiedliche Dinge, die als Commons organisiert werden können, brauchen unterschiedliche Regeln. Elinor Ostrom [4] hat herausgefunden, dass es bestimmte Bedingungen gibt, die erfüllt sein müssen, damit ein Commons gut funktioniert. Man braucht klare Grenzen der Ressource und der Nutzergruppe. Diese kann zum Beispiel auch die gesamte Menschheit sein, wenn es etwa um die Ressourcen Atmosphäre oder Wasser geht. Commons sind nicht etwas, wo jeder nehmen kann, was er will. Ein zweiter wichtiger Punkt: Die Regeln müssen von jenen Menschen, die das Commons nützen, selber gemacht und kontrolliert werden.

KLZ: Welche Rolle spielt der Staat in einer Commons-Gesellschaft?

Kratzwald: Es gibt Menschen, die sagen, wir brauchen keinen Staat. Ich sage – und da habe ich die gleiche Position wie beim Kapitalismus – wir müssen von dort ausgehen, wo wir sind, und wir haben eben einen Staat. Was viel wichtiger ist, sind die Stadt- und Landesregierungen und die Gemeinden. Die könnten wirklich wichtige und gute Aufgaben übernehmen, indem sie zum Beispiel die nötige Infrastruktur, wie etwa Werkstätten, oder Know-how zur Verfügung stellen. Dabei ist es wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger von Anfang an bei der Gestaltung mitreden. Obsolet ist, dass der Staat sagt, „ich bin jetzt euer guter Papa und sag euch wie es geht“. Es braucht im Gegenteil Vertrauen, dass die Menschen selber Dinge schaffen können.

KLZ: Vertrauen scheint ein ganz wesentlicher Teil der commonsbasierten Gesellschaft zu sein? Gibt es dieses überhaupt noch in einer Welt, wo Leistung und Konkurrenzdenken bei den meisten ganz oben stehen?

Kratzwald: Vertrauen ist sehr wichtig. Es klingt vielleicht etwas befremdlich und man fragt sich, kann denn das überhaupt funktionieren? Aber, ohne dieses Grundvertrauen hätten wir alle gar nicht groß werden können. Durch diese extreme Konkurrenzsituation in der kapitalistischen Marktwirtschaft, der wir ständig ausgesetzt sind, haben wir einiges an Vertrauen eingebüßt. Nur eine Generation zuvor hat es dieses aber noch gegeben, man müsste sich nur darauf rückbesinnen.