Rechte in der Offensive

»Islamdebatte« in Frankreich, die x-te Neuauflage

von Bernhard Schmid

In den jüngsten französischen Wahlkämpfen – vor den Regionalparlamentswahlen in allen französischen Regionen vom 14. und 21. März ’10 – spielte die Frage „des Islam“ zeitweilig eine zentrale Rolle. Die in hohem Ausmaß ideologisierte Debatte um den Platz „des Islam“ in der Republik respektive der französischen Nation war dabei das Nebenprodukt einer anderen Kampagne, die Ende Oktober ’09 durch die Regierung unter dem Titel „Debatte über die nationale Identität“ lanciert worden war. In Teilaspekten ähnelte diese französische Debatte jener über die „Leitkultur“ in Deutschland zu Anfang des Jahrzehnts.

Vier Monate lang hielt diese angebliche „Debatte“, die weitaus eher eine staatlich verordnete Ideologiekampagne denn eine Diskussion war, die Akteure und Beobachter der französischen Innenpolitik in Atem. Von November ’09 bis Anfang Februar ’10 fanden überall im Land – in 350 französischen Städten und Gemeinden – „Debatten“ unter Aufsicht von Staatsvertretern (Ministern, Präfekten, Unterpräfekten) statt. Häufig wurden sie zum Marktplatz für rassistische und chauvinistische Auslassungen, für Äußerungen nationalen oder „kulturellen“ Überlegenheitsdünkels, für offene Hetze (abwechselnd gegen Nordafrikaner, gegen „faule“ Immigranten und „Sozialhilfeschmarotzer“, gegen Moslems sowie gegen Roma). Der rechtsextreme Front National (FN) versuchte vielerorts die Veranstaltungen zum Forum für seine Thesen umzufunktionieren.

Einer der Beweggründe für das französische Regierungslager, diese „Debatte“ zu lancieren, hatte just darin gelegen, dass man erneut – wie der konservative Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy es ’06 / ’07 erfolgreich vermocht hatte – die Anhängerschaft der extremen Rechten auf seine Seite ziehen wollte. Nur, dieses Mal ging es schief: Die Regionalparlamentswahlen endeten mit einer Schlappe der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierungspartei UMP und eröffneten eine Krise im rechten Bürgerblock. Der FN, der seit drei Jahren in einer tiefen Krise gesteckt hatte, erfuhr einen erneuten Aufschwung. Zugunsten der rechtsextremen Partei wurden im ersten Wahlgang im März durchschnittlich 11,5 Prozent der Stimmen abgegeben. Hinzu kam ein weiteres Prozent für konkurrierende neofaschistische Listen. In den Stichwahlen acht Tage später, wo der FN noch in 12 von 22 Regionen präsent war (weil er mindestens zehn Prozent in der ersten Runde erzielt hatte), wuchs sein Anteil auf 17,8 Prozent.

Der Minister für „Immigration, Integration und nationale Identität“ – so lautet sein Titel – Eric Besson gehörte zu den Hauptakteuren der „Debatte“ um die Nationalidentität. Zum Jahreswechsel sah er sich angesichts wachsender Kritik in der Öffentlichkeit gezwungen, zuzugeben, es habe rassistische „Ausrutscher“ und „Verfehlungen“ dabei gegeben. Dies sei, so der Minister, angeblich „vereinzelt“ passiert (während es Wirklichkeit ziemlich systematisch zu beobachten war), doch diese Betriebsunfälle seien eingedämmt worden. Eine der Ursachen dafür, warum die „Debatte“ – angeblich wider bessere Absichten – vorübergehend in Ausländerhetze abgeglitten sei, liege in einem Überraschungsmoment. Niemand habe wissen können, verlautbarte Eric Besson bei einer Fernsehdebatte (mit der rechtsextremen Politikerin Marine Le Pen) zum Thema am 14.01.’10, dass Ende November vergangenen Jahres das Referendum in der Schweiz das nunmehr bekannte Abstimmungsergebnis bringen werde. Dies und die öffentliche Erregung über übermütige Fans der algerischen Fußball-Nationalmannschaft habe die Debatte vorübergehend entgleisen lassen. Anlässlich von zwei Länderspielen gegen Ägypten war es im Herbst ’09 unter Anderem in Marseille zu einzelnen Ausschreitungen gekommen. Diesbezüglich erklärte im Dezember der Marseiller Oberbürgermeister Jean-Claude Gaudin, UMP, wenn „Zehntausende Muslime“ die Cannebière – den Prachtboulevard von Marseille – „überschwemmten“, wünsche er sich, dass sie gefälligst eine französische Fahne mit sich führen. Durch diesen Ausspruch hatte er die Diskussion „ethnisiert“ und kulturalisiert, denn abgesehen von dem üblen Ausdruck „überschwemmen“ hatte er die Fußballfans pauschal als „Muslime“ bezeichnet – während deren Feiern mit der islamischen Religion nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten.

Sarkozy und das Schweizer Referendum

Doch auch Eric Bessons oberster Chef – Staatspräsident Nicolas Sarkozy, der selbst am 27. Oktober und 12. November ’09 mit zwei größeren Programmreden zur „Identitätsdebatte“ beitrug – hatte seinen Teil dazu getan, nach dem bekannten Ausgang der Schweizer Volksabstimmung Öl ins Feuer der Leidenschaften zu schütten.

Am 09. Dezember ’09 publizierte die liberale Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ einen Gastbeitrag Sarkozys, in welchem der Präsident zunächst indirekt aber deutlich dem Schweizer Abstimmungsergebnis Recht gab und sich „Kritik am Volk“ mit einer populistischen Geste verbat. Auch wenn er hinzufügte, solche Fragen wie die nach der Ausübung der Religion seien zu kompliziert, um sie in einer Volksabstimmung mit Ja-oder-Nein-Fragen entscheiden zu lassen, so erklärte er doch Verständnis für jene, die „nicht wollen, dass das Gesicht ihres Landes verunstaltet wird“ – gemeint war, durch den Bau von Minaretten, nicht etwa von hässlichen Hochhäusern – und dessen Identität verloren ginge.

In demselben Beitrag forderte Nicolas Sarkozy ferner auch „den Respekt derer, die aufgenommen werden, aber auch derer, die aufnehmen“. Durch die Formulierung über die „Aufnehmenden“ und die „Aufgenommenen“ stellte er klar, wer das ältere Stammrecht im eigenen Land habe und also der Herr im Haus zu sein habe. Deswegen auch hätten die Gläubigen jüngeren Ansiedlungsdatums, also die Moslems, „Diskretion zu üben“.

Kurz zuvor hatte am 30. November ’09 der Parteisprecher der UMP, Dominique Paillé, dies bereits kurz und knapp auf den Punkt gebracht: Zwar gebe es im laizistischen Frankreich keine Staatsreligion, „aber manche Religionen waren schon vor dem Aufkommen der Republik da“ – und seien also in ihr historisches Erbe eingeflossen, während „andere hingegen erst später kamen“ und also die Spielregeln zu respektieren hätten, Punktum. Am 22. Dezember ’09 wiederum erklärte Ex-Justizminister Pascal Clément auf einer (hinter verschlossenen Türen stattfindenden) Tagung der UMP-Parlamentsfraktion: „An dem Tag, an dem es in Frankreich ebenso viele Moscheen wie Kathedralen geben wird, wird es nicht länger Frankreich sein.“ Daraufhin verließ die Staatssekretärin für Seniorenpolitik, Nora Berra, Türe knallend den Raum und empörte sich öffentlich über „anti-laizistische“ Aussprüche: Dem Staatsverständnis des französischen Laizismus entsprechend, hat die Exekutive sich nicht in den zwischenreligiösen Streit einzumischen, sondern der Staat muss religiös-weltanschaulich neutral bleiben. Doch während Clément seine – von ihr kolportierte – Äußerung daraufhin dementierte, wurde das Regierungsmitglied Nora Berra vom Radiosender ,Europe 1’ befragt, ob sie „als Bürgerin oder als Muslimin“ reagiert habe.

Neue Islamdiskussion im Wahlkampf

Am 14. Februar ’10, mitten im Wahlkampf, lancierte die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen ihrerseits eine neue Variante der Never-ending-„Islamdiskussion“. Bei ihr ging es um ein Fastfood-Restaurant im nordfranzösischen Roubaix, einer Stadt mit hohem Einwandereranteil und allgemein eher „sozial schwacher“ Bevölkerung. Schon seit November ’09 führt die Schnellrestaurant-Kette Quick in insgesamt acht Restaurants frankreichweit – von Roubaix bis zu einem Stadtteil in Marseille, Saint-Louis, wo angeblich 80 Prozent der Kundschaft moslemisch ist – ein „verkaufspolitisches Experiment“ durch: Diese Läden bieten nur noch „Halal“-Erzeugnisse an. Halal ist dem Moslem, was den Juden ihr Koscherstempel ist; das bedeutet, es handelt sich um Essen, das bestimmten Speisevorschriften entstammt und von Tieren erzeugt ist, die unter Einhaltung eines bestimmten Ritus geschlachtet worden sind. Die Tatsache, dass dort nurmehr ausschließlich solche Erzeugnisse verkauft werden, hängt eng damit zusammen, dass es sich um ein „Experiment“ handelt – dessen Ergebnisse besser auswertbar sein sollen, wenn ein Faktor (der Übergang zu Halal-Produkten) gesondert herausgehoben wird.

Am jenem Sonntag im Februar erhob Marine Le Pen dieses Vorgehen der Fastfood-Kette jedoch zum Skandal nationalen Rangs. Sie bezeichnete es als Unterdrückung der nicht-moslemischen Kundschaft, dass dieser nunmehr keine nicht-halal-gemäße Speiseauswahl angeboten werde. Gleichzeitig machte sie es zum Aufhänger ihrer Kampagne, dass ein Unternehmen dafür, dass seine Produkte „halal-konform“ erklärt werden, den Stempel einer darauf spezialisierten moslemischen Gemeindeeinrichtung benötigt – die dafür Geld kassiert (ähnlich wie es einen „Markt“ für Koscher-Erklärungen durch rabbinische Institutionen gibt). Marine Le Pen machte aus demselben Anlass publik, dass die Restaurantkette sich seit 2006 indirekt zu 98 Prozent im Staatsbesitz befindet, was in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt war: In jenem Jahr übernahm ein Ableger der öffentlichen Bank ,Caisse des dépôts’ (mit einer Art Sparkasse vergleichbar, aber im Firmengeschäft aktiv) den Großteil der Kapitalanteile an Quick, nachdem dessen vormalige Eigentümer – eine belgische Aktionärsfamilie – ausgestiegen war. Es ging damals darum, das Absaufen des Unternehmens zu verhindern. Die Staatsbank möchte die Anteile allerdings derzeit gerne veräußern. Über die Assoziationskette „Halal-Erklärung – Bezahlen dafür – im Staatsbesitz befindlich“ kam Marine Le Pen zu dem griffigen Argument, hier liege ein Skandal vor, weil in diesem Zusammenhang „der Staat eine islamische Steuer erhebt“. Was selbstverständlich Unfug ist: So fragwürdig der sich ausbreitende Halal-Markt (5,5 Milliarden Euro Umsatz im laufenden Jahr werden erwartet) unter den Gesichtspunkten der Ethnisierung und Selbstethnisierung bestimmter Bevölkerungsteile sein mag, so sehr dominiert der Aspekt der Freiwilligkeit. Niemand wird schließlich dazu zu gezwungen, weder bei Quick zu speisen, noch generell „halal“ zu essen.

Doch es blieb nicht bei dem Vorstoß von Marine Le Pen, der lediglich eine breitere Kampagne angestoßen hat. Als nächstes erklärte sich in der darauffolgenden Woche der sozialistische Bürgermeister von Roubaix – René Vandierendonck – öffentlich entsetzt und kündigte an, die Antidiskriminierungsbehörde HALDE gegen das „Rein-Halal-Angebot bei QUICK“ einzuschalten. Kurz darauf erstattete die Stadt Roubaix gar Strafanzeige bei Gericht wegen „Diskriminierung“. Diese wurde jedoch nach acht Tagen zurückgezogen. Juristisch war sie aussichtslos, da QUICK weder eine Monopolstellung besetzt noch einen öffentlichen Dienst – etwa eine Schulkantine – betreibt, was das Unternehmen zur Nicht-Ausgrenzung aller Bevölkerungsgruppen (inklusive der erklärten Nicht-Moslems, die auf keinen Fall „halal“ essen möchten) zwingen würde. Insofern wird das Verhalten von QUICK, auf juristisch legitime Weise, allein vom Gesetz des so genannten freien Marktgeschehens und dem der Profitmaximierung regiert. Jedenfalls sofern es nicht eine Kundschaft von vornherein ausgrenzt; allerdings können Nicht-Moslems auch problemlos Halal-Speisen verzehren.

Auch Politiker der konservativ-wirtschaftsliberalen Regierungspartei UMP schalteten sich ein, mehrere von ihnen – wie der Parteichef (und frühere Arbeits- & Sozialminister Xavier Bertrand) – rügten das Verhalten der QUICK-Filiale in Roubaix. Pikantes Detail am Rande: Deren Betreiber ist zugleich selbst UMP-Stadtrat in einer Nachbarkommune, dem Städtchen Hem. Inzwischen äußerten sich auch andere Stimmen im gegenläufigen Sinne. Der Grünenpolitiker Daniel Cohn-Bendit erklärte am Wochenende: „Ein Quick halal – na und?“ Ähnlich äußerten sich, vor dem Hintergrund, dass es sich um ein Privatunternehmen ohne „Abschlusszwang“ und nicht um eine öffentliche Dienstleistung handele, auch etwa die Grünen-Parteivorsitzende Cécile Duflot und die Staatssekretärin für Vorstadtpolitik Fadela Amara.

Marine Le Pen und der Laizismus

Aus diesem Anlass und während der darauf folgenden Wochen stach eine gewisse Modernisierung im Diskurs der rechtsextremen Jungpolitikerin Marine Le Pen, die höchstwahrscheinlich im Januar ’11 die Parteiführung des FN von ihrem alternden Vater – Jean-Marie Le Pen – übernehmen wird, ins Auge. Bislang hatte die rechtsextreme Partei eher die Anwesenheit von Einwanderern in Frankreich an und für sich als das Hauptproblem, die Religionsfrage hingegen als dem nachgeordnet bezeichnet. In den Augen des alten Chefs Jean-Marie Le Pen erschien Letztere bisweilen sogar nebensächlich zu sein. Jean-Marie Le Pen – der stets mit verschiedenen, innerhalb der extremen Rechten erprobten Ideologie-Ansätzen experimentiert hat und sie oft gegeneinander austauschte – kehrte dabei mitunter auch einen kulturalistisch argumentierenden Differenzialismus hervor. So erklärte er sich im Winter 2003/04 gegen das damals verabschiedete Gesetz zum Kopftuchverbot an französischen Schulen: Es sei doch gut, wenn moslemische Schülerinnen ihr Kopfhaar verhüllten – dann sehe man wenigstens, dass sie nicht so seien wie Französinnen, und das Problem (der Anwesenheit von ImmigrantInnen) sei auf diese Weise wenigstens „sichtbar“. Ein Teil der extremen Rechten, vor allem ihr durch die intellektuelle „Neue Rechte“ – Nouvelle Droite – der 70er Jahren beeinflusster Flügel, hat in dieser Optik in der Vergangenheit auch Erscheinungsformen des radikalen Islamismus begrüßt: Diese seien, ebenso wie die Ablehnung von Einwanderung auf europäischer Seite, der Ausdruck eines „legitimen Strebens nach Identität“. Ferner begünstigten sie eine anzustrebende Trennung zwischen Bevölkerungsgruppen, die nicht zusammengehören. Im Sinne dieses Aspekts im rechtsextremen Diskurs übernahm Jean-Marie Le Pen zeitweilig die Vorstellung, eine Einwanderertochter mit Vollverschleierung sei einer solchen im Minirock vorzuziehen.

Anders jedoch bei seiner Tochter und (mutmaßlichen) künftigen Nachfolgerin, Marine Le Pen. In einem oberflächlich dem anderer, staatstragender Parteien ähnelnden Diskurs erhebt sie „Integrations“forderungen und benutzt zum Teil sogar das Argument, ihr Anliegen sei auch im Interesse von Mädchen oder jungen Frauen innerhalb der Einwanderungsbevölkerung; die Figur des Bösen bleibt also bei den moslemischen Männern hängen. (Es soll an dieser Stelle sicherlich nicht bestritten werden, dass es in Gesellschaften nördlich, vor allem aber südlich des Mittelmeers auch reale Frauenunterdrückung unter „islamischen“ Vorzeichen gibt. Aber ebenso selbstverständlich ist, dass es der extremen Rechten nicht darum geht, solche Probleme oder Missstände zu benennen, sondern darum, sie als Vehikel für ihren Rassismus und ihre Politik zu benutzen.) Dadurch kommt sie, in Tonfall und Wortwahl, einer unter Liberalen verbreiteten (Anti-)Islam-Debatte schon sehr nahe; ihre politische Besonderheit liegt allerdings eher darin, dass sie versucht, diesen oberflächlich republikanisch-liberal-integrationistisch klingenden Diskurs mit Sozialneid einem Appell an Ressentiments gegen „die ewige Bevorzugung von Ausländern auf dem Arbeitsmarkt oder bei Sozialleistungen“ zu verknüpfen. Von Bürgerlichen und Wirtschaftsliberalen unterscheidet sie sich oberflächlich derzeit eher in den letztgenannten Punkten und der Forderung nach nationalem/europäischem Protektionismus auf wirtschaftlicher Ebene – nicht so sehr in der vordergründigen Begründung des Rassismus.

Andere rechtsextreme Listen: „Nein zu Minaretten“

Neben den Kandidatenlisten des FN traten in mehreren französischen Regionen noch weitere rechtsextreme Parteien respektive Listenverbindungen an, die jedoch nicht gleichermaßen erfolgreich waren. Sie versuchten sich zum Teil mit einer Ein-Punkt-Programmatik in Form eines zugespitzten Anti-Islam-Diskurses.

In zwei ostfranzösischen Regionen, in Lothringen und Franche-Comté (dem französischen Jura und Umland), traten jeweils Listen unter dem Namen „Nein zu Minaretten“ an. Es handelte sich um einen durchsichtigen Versuch, an das Abstimmungsergebnis beim Schweizer Referendum vom 29. November ’09 anzuknüpfen und sich – in diesen unweit der eidgenössischen Grenze liegenden Regionen – an den Zug dranzuhängen. Beide Listen umfassten eine Sammlung von hardliner-faschistischen „Dissidenten“ und Absplitterungen des FN. Das Personal bestand also vor allem aus Leuten, denen der FN im Zuge des Aufstiegs der Cheftochter (und mutmaßlichen künftigen Parteichefin innerhalb eines Jahres) Marine Le Pen zu schlapp geworden ist.

Im Falle Lothringens versammelte die Liste die drei folgenden Abspaltungen von der Le Pen-Partei: MNR („Nationale Republikanische Bewegung“ unter Annick Martin), PdF („Partei Frankreichs“, eine Gründung des früheren FN-Generalsekretärs Carl Lang) sowie NDP („Neue Rechte des kleinen Volkes“ unter Robert Spieler). In der Region Franche-Comté kamen hingegen vier Komponenten zusammen: der MNR, der PdF, eine Splittergruppe unter dem Namen ,Droite nationale’ (nationale Rechte) sowie der ,Front Comtois’. Letzterer ist der örtliche Ableger des Bloc identitaire, einer aktivistischen rechtsextremen Bewegung, die vor allem für die „Überlegenheit der weißen Rasse“ in einer eher gesamteuropäischen denn nationalstaatlichen Perspektive eintritt.

In programmatischer Hinsicht wurde der NDP-Ideologie Robert Hélie am 18. Februar in der Pariser Abendzeitung ,Le Monde’ mit den Worten zitiert: „Die Leute, die für eine Bewegung wie die unsrige – die bislang nicht sehr bekannt ist – stimmen, erwarten von uns keine Antworten zum Thema Vollbeschäftigung. Das Thema, das unser Milieu bewegt, ist die Islamisierung.“ Im Unterschied zu diesem ein-punkt-programmatischen Hassdiskurs vermochte es der stärker etablierte FN hingegen durchaus, auch Themen wie Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise in seinen Diskurs einzubeziehen und – etwa durch die Forderung nach Renationalisierung der Weltwirtschaft – mit seinem Nationalismus zu verknüpfen. Vielleicht auch deshalb, und natürlich auch aufgrund seines bereits seit längerem „eingeführten“ Namens, vermochte es der FN im Gegensatz zu den kleineren rechtsextremen Listen weit besser, Wähler anzuziehen. Die beiden Anti-Minarett-Listen in Ostfrankreich erhielten 2,5 respektive (in Lothringen) 3 Prozent, und landeten damit weit hinter dem FN.

Allerdings sucht Marine Le Pen, in ihrem Streben nach einer Erweiterung ihrer politischen Basis – während sie sich auf die Übernahme der Parteiführung, im Konflikt mit manchen alten Parteifunktionären, vorbereitet – gerade dieses Spektrum einzubinden. Denn im Gegensatz zu den vorwiegend antisemitisch auftretenden Altfaschisten und „Nationalrevolutionären“, von denen ein Teil sogar offene Sympathien für das iranische Regime hegt, wirken Kontakte in das überwiegend islamophobe rechte Milieu nicht so stark „belastend“: Sie erschweren nicht im gleichen Ausmaß einen Brückenschlag auch in bürgerlich-konservative Kreise. In den letzten Monaten hat Marine Le Pen jedenfalls Fabrice Robert, den Chef des außerparlamentarischen ,Bloc identitaire’ – als schlagenden Arm der überwiegend islamophoben Strömung – zweimal getroffen. Zu den ungeniert antisemitisch oder geschichtsrevisionistisch auftretenden Strömungen innerhalb der extremen Rechten ging Marine Le Pen unterdessen auf Abstand. Ihre Verbündeten im Apparat des FN beschuldigten jüngst (am 25.04.’10) lautstark die altfaschistische und antisemitische Wochenzeitung ,Rivarol’, „Unfrieden“ in den Reihen der Partei zu säen und eine Kampagne gegen die Jungpolitikerin zu betreiben. Diese Auseinandersetzungen dürften sich in den kommenden Monaten, während mindestens eine konkurrierende Kandidatur für die Nachfolge Jean-Marie Le Pens – jene von Marine Le Pens Rivalen Bruno Gollnisch – vorbereitet wird, noch zuspitzen.

Streit um das Wahlplakat von Marseille

Doch auch der alternde Jean-Marine Le Pen ergriff während des jüngsten Wahlkampfs in einer Weise „praktische Position“, die eher der durch seine Tochter propagierten Ausrichtung zuarbeitet.

In Südostfrankreich, wo Jean-Marie Le Pen als Spitzenkandidat zu den Regionalparlamentswahlen antrat, begann seine Partei ab Ende Februar ein Wahlplakat zu verkleben, das ihr hohe Aufmerksamkeit sicherte. Es handelte sich um eine – zur Kenntlichkeit entstellte – Übernahme des schweizerischen Plakats, das zum Abstimmungserfolg der „Initiative für ein Minarettverbot“ beim eidgenössischen Referendum vom 29. November ’09 beitrug.

Das helvetische Originalplakat zeigt unter der Überschrift „Stopp“ eine tiefverschleierte, schwarze Farbe tragende Frau und mehrere Minarette, die ähnlich zum Abschuss bereitstehenden Raketen aufgestellt sind. Letztere sollen den bedrohlichen Charakter „des“ Islam, und besonders der von Einwanderern moslemischer Konfession angeblich durchgeführten quasi-militärischen „Invasion“, anschaulich unterstreichen. Die französische rechtsextreme Partei übernahm das Motiv und das ihm zugrundeliegende Bedrohungsszenario, freilich ohne über ein Einverständnis der Urheber des Schweizer Originals zu verfügen. (Das dort ansässige Werbebüro ,Goal’, welches das Original für den Abstimmungskampf in der Schweiz entworfen hatte, reagierte durch die Ankündigung einer Strafanzeige gegen den französischen FN wegen „Plagiats“.)

Das französische Plakat unterscheidet sich optisch leicht vom schweizerischen Original. Steht letzteres unter dem schlichten Titel „Stopp“, trug das vom FN verklebte Plakat hingegen den Titel: „Nein zum Islamismus“. Um eine Kritik an der politischen Ideologie des Islamismus ging es aber offenkundig nicht, sondern allein um die Hetze gegen die Anwesenheit von Einwanderern (moslemischer Konfession und/oder algerischer Nationalität) in Frankreich. Neben der tiefverschleierten Frau fanden sich wiederum die raketenförmigen, also Kriegswaffen nachahmenden Minarettsymbole – allerdings in noch größerer Anzahl als auf dem Schweizer Plakat. Sie umrunden ein Hexagon, also die sechseckige Silhouette des französischen Staatsgebiets, das jedoch vollständig von den Farben (und dem Stern- und Halbmondsymbol) der Nationalfahne Algeriens überdeckt ist.

Gegen dieses Hetzplakat erstatteten mehrere antirassistische Organisationen Strafanzeige. Am Abend des 12. März ’10, anderthalb Tage vor Öffnung der Wahllokale am darauf folgenden Sonntag, wurde es durch einen Gerichtsbeschluss in Marseille wegen „Aufstachlung zum Rassenhass“ – das ist das französische Pendant zum deutschen Volksverhetzungsparagraphen – verurteilt. Die Partei musste die Plakate in letzter Minute entfernen und wird Schadensersatz berappen müssen.

Auf seiner letzten Wahlkampfveranstaltung, am Sonntag den 7. März ’10 in Marseille, rief Jean-Marie Le Pen unter anderem aus: „Die Minarette sind wie die Burka“ – welche letztere in Frankreich äußerst randständig auftritt; das Innenministerium sprach im Sommer ’09 von insgesamt 367 Trägerinnen dieser Ganzkörperverhüllung – „die Symbole islamistischer Präsenz in Frankreich. Die Moscheen schießen wie Pilze aus dem Boden (sic!), und alsbald wird der Gesang des Muezzin in unseren Straßen ertönen.“

Die Debatte um das Burka-Verbots-Gesetz

Um die – vor allem aus Afghanistan und Pakistan bekannte, jedoch auf französischem Boden ausgesprochen seltene – Burka hatte es zu dem Zeitpunkt schon seit mehreren Monaten eine Verbotsdebatte in den etablierten Parteien gegeben. (Diese kann an dieser Stelle nicht in allen Einzelheiten wiedergegeben werden, wird jedoch an folgendem Ort vom Verfasser ausführlich behandelt: http://www.trend.infopartisan.net/trd0310/t400310.html) Im Zuge des Wahlkampfs war die Polemik jedoch zunächst abgeklungen. Doch Premierminister François Fillon hatte drei Tage vor der Wahl das – zwischenzeitlich für einige Wochen in vorübergehende Vergessenheit geratene – Vorhaben eines gesetzlichen Burka-Verbots aus den Schubladen gezogen. Auf der Abschlussveranstaltung des Wahlkampfs der UMP in Nantes rief er vor Kameras und Mikrophonen aus, die Burka sei in Frankreich „nicht willkommen“: „In einer Demokratie läuft man nicht maskiert herum!“

Inzwischen hat, Ende März ’10, der französische Conseil d’Etat – der oberste Verwaltungsgerichtshof – in einer Stellungnahme erklärt, ein generelles Verbot würde als rechtswidrig beanstandet werden; nur aus konkreten Gründen, etwa aufgrund der Notwendigkeit einer Identifizierung an einem Serviceschalter, könne eine solche Kleidungs(verbots)vorschrift erlassen werden. Doch prompt kündigte die Regierungspartei UMP nun Anfang April an, dass sie sich darüber hinwegsetzen möchte, um zu versuchen, trotz juristischer Bedenken noch „vor dem Sommer ’10“ ein Totalverbot auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Am 21. April ’10 erklärte zudem Staatspräsident Nicolas Sarkozy, er haben einen Beschluss zugunsten eines gesetzlichen Totalverbots gefällt – während Premierminister François Fillon erklärte: „Wir sind bereit, juristische Risiken einzugehen.“

Passend wie gerufen dazu kam am letzten Aprilwochenende (24./25. April ’10) eine „Affäre“ im westfranzösischen Nantes. Dort war eine Autofahrerin, die – neben einem Kopftuch – auch einen Gesichtsschleier getragen hatte, kontrolliert und wegen „Fahrzeugführung mit beeinträchtigten Sichtmöglichkeiten“ zu einer Geldstrafe verdonnert worden. So weit, so normal. Doch die Angelegenheit wurde schnell zur politischen Affäre hochgekocht: Innenminister Brice Hortefeux – der selbst am 16. April ’10 wegen rassistischer Aussprüche vor ein Pariser Gericht zitiert worden war (das Urteil steht Anfang Juni fest) – posaunte in allen Medien hinaus, er habe Einwanderungs- und Identitäts-Minister Eric Besson in einem Brief aufgefordert, dem Ehemann der Dame seine französische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sein Ministerkollege Besson erklärte daraufhin, dies tatsächlich prüfen zu wollen. Es habe sich nämlich herausgestellt, so Hortefeux, dass der Ehemann in Polygamie lebe (welche strikt verboten ist) und ferner „Sozialleistungen erschlichen“ habe, da nämlich „jede seiner vier Ehefrauen Kindergeld als Alleinerziehende“ beantragt habe. Einer der Clous an der Sache ist jedoch, dass dies – also das Beziehen von Kindergeld als alleinerziehende Elternteile –, sofern die Darstellung der Sache zutrifft, überhaupt nur möglich war, weil mindestens drei der Frauen eben nicht mit dem Mann verheiratet waren. Er mag sie (eventuell von einem passend gefällten Imamspruch abgesegnet, der eine religiös legitimierte „Zeitehe“ – wie manche Varianten des Islam sie anerkennen – oder einen informellen Eheschluss anerkannte) außerhalb jeder anerkannten Ehe geschwängert haben – mag sein. Aber dies ist nun nichts, was in der französischen Gesellschaft derart ungewöhnlich wäre. Frankreichs Starkoch Paul Bocuse war sein Leben lang stolz darauf, erklärtermaßen permanent eine Ehefrau und zwei Geliebte unterhalten zu haben. Ansonsten gilt für den Mann in Nantes, wie die Boulevardzeitung ,Le Parisien’ oder das Internetportal ,Le Post.fr’ richtig feststellten, dass die Vorwürfe betreffend sein angebliches Privatleben „nur schwer zu beweisen sein dürften“.

Die Sache löste eine Polemik aus, nachdem die sozialdemokratische Parlamentsopposition den beiden Ministern vorwarf, einen ungeklärten Einzelfall aus durchsichtigen politischen Gründen aufgebauscht zu haben. Doch was kaum jemandem auffiel, vielleicht im Eifer des Gefechts: Am untauglichsten ist dieser „Skandal“ dann, wenn es darum gehen soll, im Kontext der Debatte um den Platz „des Islam“ und um die „nationale Identität“ eine Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“, zwischen dem „Eigenen“ und den „Fremden“ zu ziehen. Die werte Dame von Nantes ist nämlich, wie ungefähr die Hälfte der (wenigen) Burkaträgerinnen, eine im Erwachsenenalter zum Islam konvertierte weiße „Herkunftsfranzösin“. Ihr Mann hingegen ist ein im Kindesalter nach Frankreich gekommener und dort aufgewachsener Algerier. Jedenfalls der Ehefrau – die keine zweite Nationalität hat – kann man folglich die Staatsbürgerschaft auch nicht entziehen.

Ein Gutteil der Ganzkörperverhüllung tragenden Frauen im Land sind gleichfalls Konvertitinnen und „Abstammungsfranzösinnen“ – handelt es sich doch eher um ein Sektenphänomen; und es ist allgemein bekannt, dass frisch Konvertierte oft die extremsten oder verrücktesten Anhänger/innen ihres jeweiligen neuen Glaubens abgeben. Als die Polizisten die Dame am Steuer ihres Autos kontrollierten, hielten sie die Fahrerin mit den Worten auf: „Das [ihr Kleidungsstück] ist bei uns nicht willkommen.“ Woraufhin sie – in der Sache durchaus richtig – erwiderte, „bei uns“, das sei auch bei ihr zu Hause.

Alle Probleme um den, oft auch anti-emanzipatorischen, Inhalt von „Glaubensvorschriften“ und -inhalten sind dadurch sicherlich nicht gelöst. Auch die heftigen Debatten innerhalb der französischen Linken rund um „den Islam“ betreffende, gesellschaftliche Fragestellungen – die aus Platzgründen an anderer Stelle behandelt werden müssen – finden dadurch keine einfache Lösung. (Dies zeigte sich anlässlich der Kandidatur einer jungen Kopftuchträgerin, Ilhan Moussaïd, als Kandidatin der radikalen Linken zu den jüngsten Regionalparlamentswahlen im Raum Avignon. Die französische radikale Linke, die zuvor programmatisch nicht ausreichend debattiert hatte und andernorts durch die Kandidatur von Avignon – zum Gutteil – überrascht wurde, war daraufhin von tiefen Spaltungslinien durchzogen.) Aber fest steht jedenfalls so viel: Die Versuche des rechten Regierungslagers ebenso wie der extremen Rechten, die „Islamfrage“ zu benutzen, um auf die Frage nach „unserer“ Identität zu antworten – und eine Grenze zwischen „Uns“ und „Ihnen“ zu konstruieren – sind ebenso unsinnig wie politisch gefährlich.

aus: zag 56 (Berlin 2010)