Macht Macht Machtlos

Freundschaft und Macht – Plädoyer für die Auflösung einer Mesalliance

Streifzüge 48/2010

von Severin Heilmann

Es ließe sich denken, dass jeder gesellschaftliche Körper seinen Zusammenhang über ein „Bündel von Machtbeziehungen“ (Foucault) konstituiert. Sieht man sich in der Welt, in der wir leben, um, so erscheint dies zutreffend. Die Frage nach dem Warum erübrigt sich, möchte man an diese Verhältnisse als eine unverrückbare anthropologische Konstante glauben. Das, was ist, ist eben so. Man könnte den Zustand aber auch als bloß einen möglichen ansehen und nicht als conditio humana – dann sieht die Sache freilich anders aus: Es ist jetzt so, das schon; man wird dann aber weiterfragen: Wollen wir das auch so?
Im nun Folgenden soll ein bescheidener Versuch unternommen sein, die Implikationen unserer permanenten gegenseitigen Machtausübung auf unseren Umgang miteinander genauer in den Blick zu nehmen. Hieraus ergibt sich zu guter Letzt wie von selbst der Bezug zum gestellten Thema, nämlich der Freundschaft.
Doch beginnen wir mit dem Begriffsfeld der Macht: Als Macht möchte ich innerhalb dieses Textes im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs jene Fähigkeit benennen, mittels derer eigene Interessen gegen ein gewisses Widerstreben durchgesetzt werden können. Eigene Interessen entspringen zuvorderst aber unseren Bedürfnissen, sodass hier das Streben nach Macht das Bedürfnis par excellence sein muss.
Daraus ergibt sich eine bestimmte Subjekt-Objekt-Konstellation: Das Macht ausübende Subjekt erfährt eine scheinbare Unabhängigkeit, da durch die Bemächtigung die bedürftige Angewiesenheit scheinbar verschwindet, die die Befriedigung seines Bedürfnisses eigentlich bedingt. Aber wie gesagt: Seine Unabhängigkeit ist nur eine scheinbare. Recht besehen befindet das Subjekt der Macht sich in einer verblüffenden Abhängigkeit, die die des Objekts noch qualitativ übertrifft. Dieses ist zwar dem Subjekt unterworfen, jedoch nicht von ihm abhängig in der Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse.
Es lässt sich somit zweierlei sagen: Sowohl das Subjekt als auch das Objekt sind prinzipiell der Macht ihrer Bedürfnisse unterworfen. Das Subjekt ist zusätzlich noch dem Objekt ausgeliefert und findet auf diese überraschende Weise zu seiner eigenen zweiten Begriffsherkunft (lat.: subiectus = unterworfen).
Sicher, diese Systematik der Abhängigkeitsverhältnisse ist theoretisch und findet sich praktisch kaum in dieser expliziten Ausformung. Jedes Subjekt ist auch Objekt, ist beides oft gleichzeitig, ja manchmal beides ohne jeden äußeren Bezug, gespalten ganz und gar in sich selbst. Das gilt vice versa natürlich auch für das Objekt. Überdies sind die Verhältnisse nicht stabil, sondern beweglich, verschieben sich ständig.

Bäcker gegen Schneider, Schneider gegen Bäcker

Die Geschichte vom hungrigen Schneider und fröstelndem Bäcker, gehaltlos und abgegriffen wie sie ist, erweist uns hier immerhin den Dienst, den beschriebenen Zusammenhang mühelos ins Bild zu setzen: Der Schneider hat Hunger. Er entscheidet, sich der Macht seines Bedürfnisses zu beugen und den Bäcker aufzusuchen. Der Bäcker, der klassischerweise sonst friert, tut dies diesmal nicht oder treffender: Er tut dies nicht so sehr, dass er auf den offensichtlichen Vorteil, der ihm aus den ungleichen Bedürfnislagen erwächst, leichtfertig verzichtete. Flugs befindet er sich also in der Machtposition des Subjekts und damit in der Lage, dem hungrigen Schneider als seinem Objekt einiges abzupressen. Solange der Schneider Hunger bekommt und dabei auf die Fertigkeiten des Bäckers angewiesen bleibt, wird sich am Abhängigkeitsverhältnis nichts ändern. Beide bleiben der eigenen Bedürftigkeit erlegen.
Beide, denn selbstverständlich ist auch der Bäcker bedürftig, da er ja sonst gar kein solches Machtverhältnis zum Schneider eingegangen wäre – er würde ihm entweder bedingungslos geben oder gar nicht. Doch sobald der Schneider die Fähigkeit erlangt, für die Stillung seines Hungers selbst Sorge zu tragen, wird die doppelte Abhängigkeit des Bäckers offenbar: Weder kann er nun den Schneider dazu nötigen, ihm sein Ankleidungsbedürfnis zu befriedigen noch besitzt er die Fähigkeiten, dies selbst zu tun. Freilich könnte nun der Bäcker seinerseits sich die Schneiderskunst aneignen. Doch, sagen wir, der Bäcker ist eben nicht weise, sondern schlau und aufgrund der dumpfen Ahnung seiner eigenen doppelten Abhängigkeit trachtet er den Schneider gleichfalls in seiner Abhängigkeit zu halten. Sei es dadurch, dass es ihm gelingt, ihr Tausch- oder Erpressungsverhältnis als gerecht, gottgewollt oder als natürlich in das sozialisatorische Strombett der Gewöhnung überzuführen, sei es durch die Moderation der Erpressung. Er könnte dem Schneider auch über die Bedürfnisschiene kommen, indem es ihm etwa gelingt, den Schneider von der energetisierenden Wirkung irgendwelcher Vitalkornbrote zu überzeugen oder ähnliches. Er könnte auch möglichst unbemerkt die Kontrolle über die Ressourcen für die aufkeimende Subsistenz des Schneiders zu übernehmen trachten, um ihn auf diese Art zu unterbuttern. In jedem Falle aber kann dies nur gelingen, wenn die scheinbare Macht des Bäckers nie als Macht in Erscheinung tritt und schon gar nicht als die Ohnmacht, die sie eigentlich ist.
Zusätzlich spielt hier noch ein weiteres Motiv hinein, das eigentlich gründlichere Betrachtung verdient: Angst. Für beide gilt nämlich prinzipielles, gegenseitiges Misstrauen und droht Verlust, ja potentielle Auslöschung. Der eine lebt in steter Angst, seine Machtposition zu verspielen und sich selbst als ohnmächtig erkennen zu müssen oder als solches erkannt zu werden und infolgedessen den durch Bemächtigung erlangten Nutzen einzubüßen, während der andere die eigene Unterwerfung ja nur hinnimmt, weil er ansonsten eine eklatante Verschlimmerung seiner Verhältnisse zu befürchten hätte. Ihrem Wesen nach erfordert eine solche Beziehung wechselweise Angst und Verängstigung. Dass uns in unseren Lebensbezügen dieser Charakter nicht unmittelbar entgegenschlägt, ist der gesteigerten Eleganz unseres Machtinstrumentariums geschuldet und über Sozialisierung, Konditionierung und Gewöhnung an die Rechtsförmigkeit von Herrschaftsverhältnissen minimal-invasiv zu implantieren. Macht, die als solche noch erkannt werden kann, ist gar nicht effizient.

Zwischenbilanz

Aus dem ersten Teil unserer Untersuchung ließe sich folgendes extrahieren: Machtausübung ist Ausdruck bedürftiger Ohnmächtigkeit. Hingegen bedeutet Machtlosigkeit im Bezug zum anderen in hohem Maß Eigenständigkeit und Daseinsmächtigkeit. Unter diesem Blickwinkel wandelt sich Macht zu Ohnmacht, Ohnmacht zu Macht.
Bedingung für ein Machtverhältnis ist latente oder tatsächliche Abhängigkeit und zwar beider, des Subjekts wie des Objekts. Eine solche Abhängigkeit besteht, sofern die Bedürfnislage die eigenen Fähigkeiten für deren Abhilfe dauerhaft überfordert. Umgekehrt verspricht die Reduktion der Bedürfnisse oder aber die Entwicklung geeigneter Fähigkeiten tendenzielle Unabhängigkeit.
Eine weitere, nicht unwesentliche und zudem offensichtliche Konsequenz der beschriebenen Zusammenhänge bringt uns indirekt dem näher, was, in scharfem Kontrast zum Machtverhältnis, als freundschaftliches Verhältnis angesehen werden könnte: Eine Eigentümlichkeit der Macht besteht nämlich darin, dass die ihr unterworfenen Objekte dem Subjekt stets nur als Mittel zum Zweck gelten können. Die Selbstzweckhaftigkeit, wie sie für die freundschaftliche Beziehung von zentraler Bedeutung ist, schließt Machtausübung deshalb per definitionem und kategorisch aus. Ebenso die Ebenbürtigkeit, wie sie die Freundschaft aus gutem Grund für sich in Anspruch nimmt.
Muss man nun angesichts seiner Verhältnisse wie eingangs konstatieren, dass ein Bündel von Machtbeziehungen die eigene Lebenswelt als gesellschaftliche Matrix durchzieht und dabei durchwirkt, so ist das zunächst weder gut noch schlecht. Die Frage lautet anders: Will ich das?
Nun, sofern man den Fundstücken der bisherigen Schürfung etwas abgewinnen kann, ist jedenfalls klar, dass freundschaftliches Verhalten in freundschaftsfeindlichen Verhältnissen, wie sie jene der Macht konstituieren, nicht gelingen kann. Machtlosigkeit in Bezug auf meine Mitwelt ist also die unhintergehbare, minimale Bedingung des freundschaftlichen Umgangs mit ihr. Wenn wir das wirklich wollen, ist der zweite Teil unserer Untersuchung bloß eine Fingerübung: Denn wenn Macht also die Subjekt-Objekt-Fragmentierung voraus- und gleichzeitig umsetzt, so kann Freundschaft sich nur jenseits dieser Realität ungehindert entfalten. Und weil diese Gespaltenheit der Menschen untereinander wie in sich selbst lediglich das Resultat einer Konstruktion ist, eines spezifischen Menschenbildes, könnte man sich daran machen, sich neu zu erfinden, unser Selbstbild unter jeglicher Missachtung einer fixen Vorstellung umzuarbeiten. Möglicherweise kommen wir so eher an jene Wirklichkeit heran, wie sie uns aus den Neurowissenschaften, der Umweltbiologie oder am eindringlichsten aus der Quantenmechanik schon seit Jahrzehnten entgegenblickt und uns Verbundenheit als Grundbedingung unserer Existenz erkennen lässt. Die Subjekt-Objekt-Trennung wird sich allein schon aufgrund dieser paradigmatisch neuen Denkweise schwerlich nur halten können. Wie also lässt sich dieser Dualismus überwinden?
Lassen wir die theoretische Subjekt-Objekt-Gespaltenheit zunächst bestehen und versuchen den Vektoren der Machteinwirkung zu folgen. Von Bedürfnissen war ja schon mehrmals die Rede und sie haben sich als „Einfallstor der Macht“ entpuppt. Dieses Feld hat Marianne Gronemeyer bereits in überaus geistreicher Weise beforscht, weswegen ich mich den Umständen zuwenden möchte, durch welche Bedürfnisse und Machtinteressen zueinander finden. Das führt vorerst zurück auf bekanntes Terrain: zur Wertkritik fundamentalster Art gewissermaßen.

Wert und Bewertung

Als ideales Vehikel für Subtilität und Eleganz in Sachen Machtausübung dürfen Wertesysteme aller Art angesehen werden, wobei diese ihrerseits auf moralische Kategorien rekurrieren. Das Dilemma der Moral aber ist die grundsätzliche Unverträglichkeit dessen, was sie ist, mit dem, was sie will: Sie will den Menschen zu einem guten machen und unterstellt ihm mithin, dass er es noch nicht ist oder wenigstens noch nicht hinreichend. Gleichzeitig ist das geforderte Verhalten nur dann akzeptabel, wenn es aus freien Stücken erfolgt. Um in die Freiheit nötigenfalls gezwungen werden zu können, braucht es einen selbstregulativen gesellschaftlichen Konditionierungsapparat, der gemäß herrschender Wertordnung belohnt und bestraft und so das Kunststück der Transmutation vom Sollen ins Wollen vollführt. Hier nimmt die schicksalhafte Gespaltenheit des eigentlich als Individuum gedachten Menschen seinen Ausgang. Als Agent und zugleich Delinquent des Apparates, wenn auch letzteres nur in latenter Form, steht er seinesgleichen gegenüber.
An ihm soll nachfolgend versucht werden, die Wirkweise der Bewertung als Funktion der Werthaltung offenzulegen, um dann schlussendlich das freizulegen, was vom zivilisatorischen Abraum so gründlich verschüttet liegt.
Es sind vor allem die so genannten Tugenden, die das Skelett unseres Wertedenkens ausbilden: Sie zielen allesamt auf Gespaltenheit ab und machen diese, durch Vermittlung an spezifische Bedürfnisse, den Machtflüssen von außerhalb nutzbar.
Verantwortung ist ein dankbarer Kandidat für eine exemplarische Zerlegung. Verantwortung genießt allenthalben großes Ansehen, was sich auch im Sprachgebrauch widerspiegelt: Verantwortungsvoll oder -bewußt, Verantwortungsgefühl, verantwortliches Handeln usf. Wir ärgern uns, wenn Politiker ihrer Verantwortung nicht nachkommen, wenn ein Aufsichtsratspräsident verantwortungslos oder unverantwortlich handelt. Warum? Weil der sanfte Zwang des drohenden Vertrauensentzugs, der die Verantwortlichen doch an ihre Verantwortungspflicht erinnern sollte und unser kleines Dankeschön für die Externalisierung unserer Verantwortung war, wieder einmal ins Leere zielt? Oder ist es deswegen, weil wir als treue Agenten der Wertordnung diese oder jene Übertretung der Malefikanten abzustrafen trachten, da ansonsten unsere wertegebundene Identität selbst Schaden leidet, mitnichten aber dazu in der Lage sind?
Oder was heißt es, wenn etwa ein Pilot die Verantwortung für das Wohl und Wehe seiner Passagiere übernimmt? Fühlte ich mich dem Piloten freundschaftlich verbunden, könnte ich mich nach seiner Befindlichkeit erkundigen; auch, ob ihm momentan nach Fliegen zumute sei usw. Sofern dem nichts entgegensteht, könnte ich davon ausgehen, dass der Pilot intrinsisch motiviert ist zu fliegen. Im Moment jedenfalls. Ganz ohne irgendeine Verantwortung.
Völlig anders die Sichtweise des Subjekts: Es ist hier die Pflicht des Piloten, mich unversehrt an den Ort meiner Bestimmung zu befördern. Dabei hat er seiner Verantwortung für mich Rechnung zu tragen. In der Regel tut dies das Pilot-Objekt auch, weil es andernfalls unangenehme Konsequenzen zu fürchten hat, sollte es später zur Verantwortung gezogen (!) werden. Im Falle eines Absturzes erweist sich die Verantwortung des Piloten aber als reine Schimäre.
In ähnlicher Weise könnte man andere Etikettentugenden wie Verlässlichkeit, Höflichkeit oder Treue auf ihre freundschaftshinderlichen Momente hin abprüfen. Aber auch Dankbarkeit und Anerkennung weisen unter bestimmten Gegebenheiten bedenkliche Tendenzen zur Instrumentalisierung auf. Entlarvend sind hier Wendungen wie „jemandem Dank schulden“, „zu Dank verpflichtet sein“ oder „Anerkennung zollen“. Der intrinsisch beflügelte Pilot schert sich nicht um Dank, entsprießt ihm doch aus seinem Tun Erfüllung und Zufriedenheit. Der geschuldete Dank verweist auf ein Tauschverhältnis und geht somit implizit vom prinzipiellen Widerstreben des Bedankten gegen die erbrachte Leistung aus. Möglicherweise weil wir uns als gespaltene Subjekte selbst kaum anerkennen können, lechzen wir nach Anerkennung von anderen. In dieser Hinsicht ist Dank und Anerkennung lediglich eine subtile Form der operanten Konditionierung mittels Belohnung.
Man könnte hier in beliebiger Weise – von der Ehre übers Mitleid bis hin zum Vertrauen – fortsetzen und folgende Einsicht gewinnen: So untauglich und zersetzend diese Wertvermittlung für ein wahrhaftiges, selbstzweckhaftes und ausschließlich aufeinander als Individuen bezogenes amikales Verhältnis auch ist, sobald ich sie radikal auf mich selbst beziehe, tappe ich nicht in die Wert-Falle, in der ich unweigerlich Mittel für die Zwecke anderer werde oder mich genötigt sehe, andere für meinen Zweck einzuspannen.
Selbstverantwortung, Selbstvertrauen, Selbsttreue, Selbstsicherheit, Selbstverständnis, Selbstkritik, Selbstermächtigung, Selbstachtung, Selbstgenügsamkeit und dergleichen sind das Unterpfand für die Wahrung der Würde des anderen, seiner Unversehrtheit und zerbrechlichen Integrität. Erst dadurch sind die Bedingungen für jene freundschaftliche Gesinnung erfüllt, die vornehm genug ist, nicht objektbezogen zu sein und idealerweise die ganze Mitwelt mit einschließt – seien es nun Menschen, Tiere oder Pflanzen. Sie weiß um ihr Eingebundensein darin, und begegnet ihr ohne Bewertung, ohne Mittel-Zweck-Rationalität in „interesselosem Wohlgefallen“ (Kant).