Der Reiz des Fremden

Streifzüge 50/2010

von Peter Pott

„Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!“ (Eichendorff)

„Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es …“ ein Lebewesen, das wie jedes andere Lebewesen nicht nur da sein will, sondern in seinem Dasein für ein schöneres Dasein da sein. Bestrebt, „über sein eigenes Wesen hinauszugehen und mehr zu vollbringen, als in seiner Kraft steht“, wie Jules Michelet schreibt. „Man sieht es an den Leuchtkäfern und anderen kleinen Tieren, … sie usurpieren eine höhere Lebensform“ (S. 98). Das menschliche Wesen in einem besonderen Maße. Anders als das Tier, dessen „Produkt … unmittelbar zu seinem physischen Leib“ gehört, tritt „der Mensch frei seinem Produkt“ gegenüber. „Das Tier formiert nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit“ (MEW. EB 1, S. 517). Er ist sozusagen aus der Art geschlagen. Sie liegt ihm fern. Er hat sie aber im Auge, im Ohr, in allen Sinnen, die ihm ein Gespür für die Art seines Daseins verschaffen, das die Sinne aktiviert, ihren Spürsinn auszuweiten, differenzierter zu entwickeln, ohne ihm, dem Menschen, je ein artgerechtes Verhalten vorzuhalten.

Statt ihn auf eine bestimmte Art festzulegen, spielen ihm die Sinne „Informationen“ zu, an denen er zunächst einmal nur leidet. Zum Glück. Wie Marx nahe legt „Sinnlich sein, d.h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben. Sinnlich sein ist leidend sein“ und zugleich – weil der Mensch ein „sein Leiden empfindendes Wesen“ ist – „leidenschaftlich“ (MEW EB 1, S. 579).

Das Leiden zu empfinden, ohne sich damit abzufinden, die Sache, die ins Auge ging, das Ohr behelligte, der Nase stank, mit Leidenschaft zu betrachten, heißt, den Bedingungen des Leidens noch einmal anders zu begegnen. In der Erwartung, wie Benjamin bemerkt, „von dem erwidert zu werden, dem (es) sich schenkt“ (I 2, S. 646). Wo sie erwidert wird, so Benjamin weiter, „da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu“: die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“; ein Gespinst , wie Benjamin sie nennt, und zwar ein einmaliges, „ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit“ (II 1, S. 378f.), das sich im Innern des Individuums abspielt und diesem das Vermögen zuspielt, die Erscheinung mit dem „Vermögen (zu) belehnen, den Blick aufzuschlagen“ (ebd.), der dem Einsamen einen Hauch von Wirklichkeit vermittelt, der einzigartig ist, doch belanglos, wenn er nicht die Kraft aufbringt, die aufgespürte Wirklichkeit auch zu verweltlichen. Denn wer „seine Haltung nur ,erlebt‘“, gibt Martin Buber zu bedenken, „der mag noch so gedankenvoll sein, er ist weltlos – und alle Spiele, Künste, Räusche, Enthusiasmen und Mysterien, die sich in ihm begeben, rühren an die Haut der Welt nicht. Solange sich einer nur in seinem Selbst erlöst, kann er der Welt weder Liebes noch Leides tun, er geht sie nicht an“ (S. 96).

Die Kraft, die notwendig ist, das sonderbare „Gespinst aus Raum und Zeit“ tatsächlich auch zur Welt zu bringen, ist eine Kraft der Gemeinschaft, die nicht falsch zu verstehen ist. Nicht als die Kraft einer vorhandenen ehelichen, dörflichen, betrieblichen oder sonst wie parteilichen Gemeinschaft, die, abgestimmt auf eine bestimmte Arbeit bzw. Ideologie, jedes Individuum zwingt, sich brav auf sie einzustellen und sich in einer mehr oder weniger bedeutenden Funktion für das Ganze verdient zu machen. Das führt nur dazu, wie Adorno bemerkt, dass die Menschen, mit denen der funktionalisierte Mensch in Berührung kommt, „automatisch sich in Freund und Feind“ verwandeln. Er sieht alle daraufhin an, „wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert … sie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sind verwendbar, die anderen hinderlich. Jede abweichende Meinung erscheint auf dem Bezugssystem je einmal vorgegebener Zwecke … als lästiger Widerstand, Sabotage, Intrige; jede Zustimmung, und käme sie aus dem gemeinsten Interesse, wird zur Förderung, zum Brauchbaren, zum Zeugnis der Bundesgenossenschaft. So tritt Verarmung im Verhältnis zu anderen Menschen ein: die Fähigkeit, den anderen als solchen und nicht als Funktion des eigenen Willens wahrzunehmen, vor allem aber die des fruchtbaren Gegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifen des Widersprechenden über sich selber hinauszugehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beurteilende Menschenkenntnis“, die in völliger Unkenntnis des menschlichen Wesens eine „Personalpolitik“ betreibt, die „bereits von sich aus, vor aller politischen Willensbildung und aller Festlegung auf ausschließende Tickets, zum Faschismus“ tendiert (Minima, S. 171).
Die Kraft der Gemeinschaft, die die Welt „noch einmal aus den Spuren“ schafft, die sie in einmaliger Weise in den Sinnen des Individuums hinterlassen hat (Horkheimer/Adorno, S. 198), ist eine gemeinschaftliche, die jede Gemeinschaft aus der Fassung bringt und neu ins Auge, Ohr, den ganzen Leib fasst: eine Kraft von doppelter Kraft , wie Wilhelm von Humboldt sagt, eine, die die Kraft der „Selbsttätigkeit“ mit der der „Empfänglichkeit“ verbindet und so wie keine andere die Kraft hat, etwas zu zeugen, was „vorher nicht vorhanden“ war und was „ebenso wenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet“ ist (S. 268f.). Sei es ein noch nie gehörtes Musikstück. Oder ein Kind. Was keinen wesentlichen Unterschied macht. Wie Nietzsche meint: „Musikmachen ist auch noch eine Art Kindermachen“ (III, S. 756), das Kindermachen dementsprechend auch eine Art Musik zu machen. In jedem Fall eine Kunst – und weder nur eine Technik noch ein bloß biologischer Vorgang –: die Kunst , etwas Einzigartiges zu erzeugen. Also Liebe! Vorausgesetzt, sie hat das Glück, auf Gegenliebe zu stoßen. Darauf muss der Mensch hinarbeiten.

Anders als das Tier, dessen Liebesobjekt „unmittelbar zu seinem physischen Leib“ gehört, hat der Mensch die freie Wahl, kann und muss er seinen Geliebten suchen und diesen versuchen. „Unsere Chance ist über die Welt hin verstreut, wer weiß wo, allenthalben nur darauf wartend, sich zur Blüte zu entfalten, doch knitterig wie der Mohn in seiner Knospe“ (Breton, S. 40). So z.B. in dem Dorf, in dem Dshamilja zu Haus ist und sich nach ihrem menschlichen Wesen sehnt, das ihr das Dorf verweigert. Es taucht in der Gestalt Danijars auf: eines Fremden, der in Dshamiljas Dorf eigentlich nichts zu suchen hat. Schon gar keine Liebesgeschichte. Sie ließ sich nicht verhindern.

Ein Fremder bringt die Dorfgemeinschaft aus der Fassung

Eine Gemeinheit ist der Ausgangspunkt: ein unbedachter Streich , der Danijar dazu bringt, eine lange ertragene Einsamkeit aufzugeben. Er kann sich nicht länger beherrschen – und beginnt zu singen, stockend zuerst und dann, da er ein Echo vernimmt, fließender, kräftiger, voller, mit rauer, mit bewegter und bewegender Stimme. Sein Lied „hatte fast keinen Text, ohne Worte öffnete es die ganze Welt der menschlichen Seele … Es glich weder den kirgisischen noch den kasachischen Gesängen, und doch barg es die einen wie die anderen in sich. Danijars Lied griff die schönsten Melodien der beiden verwandten Völker auf und verflocht sie auf eigene Art zu einer einheitlichen Musik. Es war das Lied der Berge und Steppen, mal stieg es tönend auf wie die kirgisischen Berge, mal strömte es hin, weit wie die kasachische Steppe“ (Aitmatow, S. 52ff.). In ihm sangen die Menschen alle, die hier lebten, liebten und arbeiteten und die den Bergen und der Steppe ein menschliches Antlitz gegeben hatten: die Bahnlinie, die schlängelnden Wege, die die Dörfer miteinander verbanden, die schimmernden Kornfelder, die gemäht sein wollten, die in den Gärten reifenden Äpfel, von denen der Wind erzählte, der auch andere Geschichten erzählen konnte, leicht säuselnde, schwer stürmende. Danijar sang ein Liebeslied, das nicht allein von Dshamilja und nicht allein zu ihr sang, von ihr und zu ihr aber in besonderer Weise. Als brauchten Danijars Töne Dshamiljas Leib und dessen Tonart, um ihre ergreifende Tönung zu finden. „Und wie sich Dshamilja plötzlich verändert hatte! Nichts erinnerte mehr an das muntere, stets zu Scherzen aufgelegte Mädchen mit der spitzen Zunge. Ihre Augen schimmerten dunkler, ihr Blick war verschleiert, nach innen gekehrt. Wenn wir unterwegs waren, dachte sie immerfort angestrengt nach. Ein verträumtes Lächeln spielte um ihre Lippen, sie freute sich still über etwas Schönes, von dem nur sie allein wusste.“

Mit den so aufrührerisch zum Ausdruck gebrachten Erinnerungen Danijars lichten auch Dshamiljas Erinnerungen den Anker – und verwandeln sich in „eine köstliche Substanz“ (Proust). Erinnerungen tauschen sich aus! Sie erinnern sich zusammen. Weniger die Höhepunkte ihres Lebens, die Triumphe, die bestandenen Prüfungen, den Beifall, den sie gefunden, die Bewunderung, die sie genossen haben. Sie vermitteln sich vielmehr Spuren, die Erlebnisse und Erfahrungen hinterlassen haben, die auf der Strecke blieben, von Begegnungen, die verloren gingen, von vielen gespielten Spiele, die mehr Sinn machten, als sie schließlich im gewohnten Tun und Lassen gefunden haben. Kindheit brach auf! Durchbrach Schranken. Trat in die Augen und ließ sie dunkler schimmern, ein Geheimnis aussprechen. Es äußerte sich in Tränen, die auf die Steppe träufelten und die Steppe verwandelten. „Die Steppe schien zu erblühen, zu wogen, das Dunkel schien sich zu lichten.“ Sie hatte ein vertrautes Gesicht angenommen. War in ein Verhältnis eingetreten, das „sinnlich , auf ein anschaubares Faktum reduziert“, offenbarte, dass „das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigne natürliche Bestimmung ist“ (Marx: EB, S. 535).

Die Tränen sind Tränen des Glücks, das schon die Ahnung enthält, dass es mit ihm kein gutes Ende nehmen wird. Das Glück überkam sie, ist um sie: als eine „dunkle Landschaft“ (Proust), die in den Augen des anderen aufleuchtet – und Farbe und Form gewinnt. Das einmal gelebte und Schicht für Schicht verkörperte, in seinen unwillkürlichen Verkörperungen unwillkürlich weiter existierende – gesellschaftlich bestimmte – Leben fühlt sich, von der Liebe wieder aufgespürt, spürbar anders an: frei von traditioneller Bevormundung und Aufsicht, doch nicht ungebunden. Eher in poetischen als in rituellen oder zweckrationalen Bindungen aufgehoben. Sie halten die Liebenden in Bewegungen, die „rhythmisch und phantastisch zugleich“ sind: zügellos, nicht kunstlos; gesetzlos, nicht regellos. In Tanzbewegungen, die keinem Plan folgen, sondern einer Wissensweise, die ihr Wissen nicht hat, es aber wissen und immer besser wissen will, die, genauer gesagt, das Wissen, das sie hat, aufgibt, um es sich sinnvoller zurückzuholen. Wovon aber die, die es nicht besser, nur genauer wissen wollen, wenn schon nicht alles beim Alten bleiben kann, nichts wissen wollen.

Danijar und Dshamilja bleiben mit ihrer Liebe allein! Die Menschen im Dorf sehen nicht, wie sich mit den zwei Verliebten das Dunkel um sie herum lichtet, die Steppe blüht, die Berge leuchten, das Gras viel frischer duftet. Sie wollen es nicht sehen! Wollen nichts hören, nichts riechen, nichts schmecken, nichts zur Kenntnis nehmen, was sie zu einer freiwilligen Änderung ihrer Gewohnheiten veranlassen könnte. Die Erwachsenen wollen es nicht! Sie wollen keine neuen Geschichten. Allein ein Kind, zu schwach, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen bzw. deren Sprunghaftigkeit gegenüber der herrschenden Tanzweise zu verteidigen, ist, „zutiefst bewegt“ – und nimmt daran teil, wie Dshamilja und Danijar sich, „die ganze Welt vergessend, zusammen im Takt des Liedes wiegten“, dem sie ihre Liebe verdankten.

Wovor die Erwachsenen und die Kinder, die ihnen nicht zu widersprechen wagen, die Augen verschließen, dieses eine Kind sieht es mit Staunen: „Es waren andere, ungeahnt glückliche Menschen. So sah das Glück aus. All die Liebe für sein Heimatland, die in ihm diese wundersamen Melodien geweckt hatte, gab Danijar nun Dshamilja. Er sang für sie, er sang von ihr“ (S. 63). So sah es aus, was alle verschmähten. Der Spürsinn des Kindes aber zählte nicht! Das Glück, das nur mit allen zusammen glücken konnte und im Widerstand gegen die gewohnte Art und Weise, sich durchzuschlagen, war gezwungen auszuwandern. Und Danijar und Dshamilja folgten ihm. Ihrer Liebe treu bleibend, verließen sie die Heimat, die ihnen so „wundersame Melodien“ eingegeben hatte, – und gingen in die Fremde. „Danijar trug einen Soldatensack auf dem Rücken; er strebte, das Bein nachziehend, hastig vorwärts, sodass sein offener Uniformmantel um die Schäfte seiner ausgetretenen Stiefel schlug. Dshamilja hatte einen weißen Schal um Kopf und Hals geschlungen; sie trug ihr bestes Kleid, das bunte, in dem sie sich an Markttagen so gern gezeigt hatte, und darüber eine gesteppte Wattejacke. In der Hand hielt sie ein kleines Bündel, mit der anderen klammerte sie sich an den Tragriemen, der über Danijars Schulter lief. Sie sprachen miteinander…“ (S. 75).

Das Kind rannte dem Paar wie von Sinnen nach. Stolperte, stürzte, blieb am Boden liegen, schluchzte. Es „nahm nicht nur von Dshamilja und Danijar Abschied, sondern auch von (seiner) Kindheit“. Bewahrte sich die Erinnerung! Verteidigte die beiden gegen den wütenden Einspruch der Dorfgemeinschaft, die Danijar, diesen „zugelaufenen Hundesohn“, der es gewagt hatte, eine ihrer Frauen zu entführen, auf der Stelle erschlagen hätte, wäre er ihr wieder in die Hände gefallen. – „Und sie hätte ich mit den Haaren an einen Pferdeschwanz gebunden!“, tönte es aus der Gemeinschaft der Zurückgebliebenen. Danijar und Dshamilja hatten Glück – im Unglück. Die hasserfüllte Dorfgemeinschaft sah sie nicht wieder. Sie konnte nur hoffen, dass die beiden irgendwo verreckten. Ganz anders die Hoffnung des Kindes. Es hoffte, dass die beiden Menschen, die ihm die liebsten waren, nicht nur nicht verreckten, sondern mit ihrer Liebe Recht behielten – und die Nacht , in der Mann und Frau sich lustvoll erkannten, zum Tage werden würde, der (wie mit ihm auch Louis Aragon hofft) „die Liebe siegen lässt über das Gesetz der Ehe, über die Pflichten der Frau gegenüber dem Mann bei der Truppe, unter dem die Heuchelei des Ail, und nicht nur des Ail, zusammenbricht“ (S. 85ff.).

Stadtluft macht frei

Das nächtlich aufgespürte Liebesleben, das täglich zu bestätigen wäre, um die dörflichen Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, darf sich am Tage nicht sehen lassen. Es muss bei Tagesanbruch das Dorf verlassen. Und Danijar und Dshamilja, die von diesem Leben nicht lassen wollen, mit ihm. Und wenn sie nicht gestorben sind , wenn die beiden sich bis in die Stadt durchgeschlagen und dort Arbeit und Brot gefunden haben, so haben sie doch mit dem Glück, ihrer bornierten Heimat entkommen zu sein, die Herkunft ihrer Liebe aus dem Blickfeld verloren: das Blühen der Steppe, das Schimmern der Kornfelder, den Duft der Apfelbäume, die Schönheit der Wälder, die Aura der Berge; Wahrnehmungen ihrer Kindheit, ohne die ihnen das Glück, auf das sie in der Stadt hoffen, gar nicht vorstellbar ist. „Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung vom Glück … die Vorstellung der Erlösung mit. Dieses Glück ist fundiert auf eben der Trostlosigkeit und auf eben der Verlassenheit, die die unsern waren. Unser Leben ist, anders gesagt, ein Muskel, der Kraft genug hat, die ganze historische Zeit zu kontrahieren. Oder noch anders: Die echte Konzeption der historischen Zeit beruht ganz und gar auf dem Bild der Erlösung“ (Benjamin, V 1, S. 600).

Danijar und Dshamilja haben ihre Geschichte aus dem Blick verloren, nicht aus dem Gedächtnis. Was sie praktisch im Sinn hatten, Grundlage ihrer Arbeit war und ihre Liebe nährte, bleibt unvergessen, hat aber den Nutzen verloren, den es für die Dorfgemeinschaft besaß, die, wie gesehen, mit der Liebe zwischen Danijar und Dshamilja und den davon ausgehenden befremdlichen und umwerfenden Aussichten nichts zu tun haben wollte. Es bleibt ihnen als bloßes Gefühl erhalten, das sich mit nostalgischen Erinnerungen schüren lässt: einem „Vorrat an Geschichte“ (Barthes, S. 97), der in Warenform im Angebot ist, als Konsumgut zu haben, das sich bedingungslos in den Dienst der Selbsterfahrung stellen lässt, die mit Erfahrung nichts zu tun hat, den bürgerlichen Subjekten aber das Gefühl bestätigt, dass ihre trostlosen Kontakte ausgesuchte Begegnungen sind, ihre sexuellen Machenschaften sensationelle Liebesspiele, die inhaltslosen Plaudereien gehaltvolle Gespräche. Was nur glauben kann, wer’s glauben will.

Danijar und Dshamilja werden wohl daran glauben müssen und die Flucht nach vorn antreten, auf den Zug des unaufhaltsamen technischen Fortschritts springen, sich als Arbeitskräfte verdingen, in den heiligen Stand der Ehe treten, mit der sie ihre unheilige Liebe ihrem bürgerlichen Schicksal überlassen. Es sei denn, sie bringen die Kraft auf, die heuchlerische Dorfgemeinschaft ohne Heuchelei in ihr städtisches Leben zu montieren, damit in der Welt etwas entsteht, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Bloch 3, S. 1628). Etwas, das der bornierten Dorfgemeinschaft fern liegt. Ganz anders als dem Kind, das hofft, dass Danijar und Dshamilja mit ihrer Liebe Recht behalten, die Natur, die in ihrer Liebe aufgeblüht war, in der Stadt die Heimat findet, die „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.
Danijar und Dshamilja haben die Kraft „die ganze historische Zeit zu kontrahieren“: die Kraft der Liebe, die die Kraft der „Selbsttätigkeit“ mit der der „Empfänglichkeit“ verbindet und so wie keine andere die Kraft hat, etwas zu zeugen, was „vorher nicht vorhanden“ war und was „ebenso wenig aus schon Vorhandenem oder schon Bekanntem bloß abgeleitet“ ist. Soll diese Kraft, „soll Liebe“, wie Adorno sagt, „in der Gesellschaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nicht als friedliche Enklave, sondern nur im bewussten Widerstand. Der jedoch fordert eben jenes Moment von Willkür, das die Bürger, denen Liebe nie natürlich genug sein kann, ihr verbieten“ (Minima, S. 226). Er fordert Misstrauen: „Misstrauen, Misstrauen und Misstrauen in alle Verständigung zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen“ (Benjamin II 1, S. 308), die auf Treue schwören, Treue zur Klasse, zum Volk, zur Ehegemeinschaft, die ein Befehl ist, den der Staat erteilt, „Mittel zur Unfreiheit“ (Adorno: Minima S. 227).

Also: „Pessimismus auf der ganzen Linie … Aber was nun, was dann?“ Dann ist der Pessimismus zu organisieren! (Benjamin II 1, S. 309). Das heißt, das Misstrauen auch zu äußern, diese Äußerung aber nicht für die letzte auszugeben, sondern für die erste, die das verschwiegene Entsetzen über das begründete „Misstrauen in alle Verständigung“ laut und deutlich auf den Weg einer Verständigung verweist, die auf die Bilder zurückkommt, die den Individuen auf unterschiedlichen Wegen ins Auge gefallen, zu Ohren usw. gekommen waren, um so gebildet die gemeinsame Bildung in Aussicht zu nehmen. Das heißt „nichts anderes“, so Benjamin, „als die moralische Metapher aus der Politik herausbefördern und im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum …, und konkreter: Leibraum zu entdecken“ (a.a.O.). Das ist der Raum, den nicht „die Politik“ vorgibt und gestaltet, sondern der wirkliche, leibhaftige, sinnliche Mensch, dessen gesellschaftliche Natur sich ihrer Reduktion – „einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person“ (MEW 1, S. 370) – widersetzt. Benjamin ist sich mit Marx einig: „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ,forces propres‘ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht“ (ebd.). Darin eingeschlossen, dass der Mensch auch die technischen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkennt und organisiert: dass also die „Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, … nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen (ist), in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht“ (Benjamin II 1, S. 310).

Von den Dingen umzingelt

Danijar und Dshamilja müssen ins Kino gehen, um sich ein Bild von „ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit“ zu machen. Es lässt sich in Augen erblicken, die von ihrem Augenblick völlig unberührt bleiben: in den Augen Buster Keatons, von denen Garcia Lorca sagt, dass sie „unendlich traurig wie die eines neugeborenen Tieres“ sind, träumend von „Lilien, Engeln und Seidengürteln“. Seine traurigen Augen erinnern daran, worauf sie einen Anspruch haben – und daran, dass ihnen dieser Anspruch im Treiben der Stadt genommen ist, die Dinge, so, wie sie vorkommen, dem zuwiderlaufen. Was diesen Mann bewegt, scheint nicht in seiner Macht zu liegen. Reize wirken auf ihn ein, beeindrucken ihn, treiben ihn vorwärts, bringen ihn zum Stehen, ohne dass erkennbar wäre, dass dieser Mensch das, was ihn reizt, auch seinerseits zu reizen vermag: dass er, genauer gesagt, auch ausdrücklich und zum Zweck eines glücklichen Ausganges beeinflusst, was ihn beeinflusst. „Er ist ein Gestoßener. Die vielen Gegenstände, Apparate, Baumstämme, Trambahnwände und Menschenkörper, veranstalten ein Kesseltreiben mit ihm, er kennt sich nicht mehr aus, er ist unter dem sinnlosen Druck der Dinge apathisch geworden. Kein Lächeln bewegt den Mund, die Züge sind stur, der Gang ist der eines Automaten. Man tippt ihn an; er setzt sich in Marsch; man legt ihm ein Hindernis in den Weg; er steht wie angegossen. Den Ereignissen, die oberhalb von Druck und Stoß sich vollziehen, ist er nicht gewachsen. Frauen, Freunde, menschliche Erlebnisse sind für ihn eben so viele Ausfallserscheinungen“ (Kracauer, S. 180).

Keaton, der sich den menschlichen Werken ohne Arg nähert, darauf vertrauend, dass sie den Menschen eine Stütze sind in der Auseinandersetzung mit der Natur, die ihnen ihre Wohltaten ja nicht bedingungslos zur Verfügung stellt, erlebt sein „blaues Wunder“. Die Dinge, von denen die menschlichen Sinne doch erwarten können, dass sie den Erwartungen entsprechen, die sie an sie stellen, da sie sie schließlich vorhergesehen, herausgehört, ertastet, die sie gewittert haben, bevor man sie vergegenständlichte, auf die sie einen Vorgeschmack geliefert haben, bevor sie für den Verzehr hergestellt wurden, diese vergegenständlichten Augenblicke, Hörweisen usw. boykottieren die Erwartungen – und sind für Keatons naive Zuneigung nicht mehr ansprechbar. Sie verdinglichen ihn stattdessen. Kommandieren ihn. Automatisieren seine Äußerungen. Sie zwingen ihn, dass er – wie der Arbeiter an der Maschine – seine sinnlichen Tätigkeiten immer nur wiederholt und nicht die Gelegenheit bekommt, sie mit Erfahrung fortzusetzen. Oder anders gesagt: Die Hartnäckigkeit, mit der die Dinge Keaton zusetzen, verbietet es ihm, die Wahrnehmung der Dinge so fortzusetzen, dass sie sich nicht nur von Mal zu Mal routinierter fortsetzt, sondern auch in ihrem Sinne fortsetzt, so also, dass sich die vergangene Wahrnehmung zu der gegenwärtigen gesellt. Was sie nicht nur Schritt für Schritt – dem Tanz gleich, der, frei von vorgegebenen Schrittfolgen, die folgenden Schritte über die ausdrückliche Erinnerung der vorangegangenen erfindet – meisterlicher werden ließe, sondern auch geselliger und mit wachsendem Gespür für die künftige Gesellschaft.

Der arglose Keaton gerät in arge Bedrängnis. Sein Gespür ist nicht gefragt. Gesellschaft stößt ihm zu. „Man tippt ihn an; er setzt sich in Marsch.“ Als wäre er eine Maschine, so mechanisch sind seine Bewegungen. Er ist selbstverständlich keine Maschine. Keaton will auch keine sein. Was angesichts der Übermacht der Dinge so selbstverständlich nicht ist. Er denkt nicht daran, der Herrschaft der Dinge durch Selbstbeherrschung zuvorzukommen, durch Tüchtigkeit zu glänzen. So artistisch seine Vorstellungen auch immer sein mögen: Im Gegensatz zu den meisten Zirkusvorstellungen, im Gegensatz auch zu den meisten Filmvorstellungen, die seine Konkurrenten geben, verherrlicht die „Filmkomödie“ des Buster Keaton nicht die Tüchtigkeit des Darstellers, mit der dieser dem Tod trotzte und unvorstellbare Schwierigkeiten überwand, bagatellisiert sie noch dadurch, dass sie eine erfolgreiche Rettung als Resultat des reinen Zufalls ausgibt (Kracauer, S. 18).

Die Tüchtigkeit, die es lächelnd mit den Dingen aufnimmt und sie unter Kontrolle bringt nur um den Preis, dass auch die Ansprüche der Sinnlichkeit unter Kontrolle gebracht werden, das ist, sagt Benjamin, die Katastrophe (I 2, S. 683). Das gibt uns auch Buster Keaton zu verstehen. Er gibt zu verstehen, dass wir unseren eigenen Erfindungen, auch denen, die ausdrücklich zu unserer Bequemlichkeit erfunden sind, nicht gewachsen sind. Und zeigt es, indem er zeigt, was die Dinge mit uns machen, wenn wir nicht tüchtig und kontrolliert mitmachen: wie unfreundlich sie werden können, wenn wir auf ihre Güte vertrauen und uns ihnen arglos nähern; wie sie mit den Mächten paktieren, die sie kultivieren sollten. „Anstatt dem Menschen zu dienen, erwiesen sich diese fortschrittlichen Erfindungen als die besten Freunde gerade der Kräfte, die sie im Zaume halten sollten; anstatt uns von den Launen der Materie unabhängig zu machen, waren gerade sie die Stoßtrupps ungebändigter Natur und fügten uns eine Niederlage nach der anderen zu. Sie verschworen sich gegen ihre Meister, sie enthüllten die angeblichen Wohltaten der Mechanisierung als Lüge. Ihre Verschwörung war so mächtig, dass sie das Lächeln Buster Keatons im Keime erstickte. Wie hätte er auch in einer mechanisierten Welt lächeln können? Sein unabänderlicher Gleichmut war ein Zugeständnis, dass in dieser Welt die Maschinen und Apparaturen die Gesetze bestimmen und dass es besser wäre, wenn er sich ihren Erfordernissen anpasste. Zur gleichen Zeit jedoch ließ ihn diese Leidenschaftslosigkeit, so unmenschlich sie auch war, in rührender Weise menschlich erscheinen, denn sie war untrennbar mit Trauer verbunden, und man empfand, hätte er je gelächelt, während er Knöpfe drückte und seine Liebe erklärte, so hätte er seine Trauer verraten und einen Stand der Dinge gutgeheißen, in dem er selbst wie ein kleines technisches Gerät sich verhalten musste“ (Kracauer, S. 18f.).
Keaton will nicht den Helden spielen! So weiß er, was die, die ihn spielen wollen, nicht wissen können: „Er weiß vielleicht etwas von Liebe, vom Händeschütteln, von solchen Aktionen, die jenseits der Mechanik sich abspielen. Aber er kann es nicht recht herausbringen, wie ein Kloß steckt es in ihm, sein Kopf war zu bedenklich mit den Objekten in Berührung gekommen. Wenn es von ihm selber nur abhinge, nie gelangte er an ein menschliches Ziel. Indessen, gerade weil er so töricht, ein dummer Hans, durch die tote Welt gepufft wird, kommt ihm die Hilfe im letzten Augenblick. Er sucht sie nicht, sie sucht ihn“ (ebd., S. 180). Und sie findet ihn, weil er nicht mit Gewalt sich ihr verschließt: weil seine verletzten Augen ihre Verletztheit nicht verbergen und sich das Strahlen versagen; weil er sich nicht taub stellt, auch wenn der Lärm den Ohren wehtut; weil er seine Nase auch dann noch in die Dinge steckt, wenn sie nach Verwesung stinken; weil er ein ,,Zersprengter“ ist.

Keatons „Zersprengtheit“ offenbart, was auch Chaplins „armer Schlucker“ offenbart: Sie offenbaren eine „ganz neue Armseligkeit“, die mit der „ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen“ ist, deren Kehrseite „der beklemmende Ideenreichtum (ist), der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter – oder vielmehr über – die Leute kam“. Das ist ein Elend – und zwar ein ganz neues: „Armut nicht nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt“; eine „Art von neuem Barbarentum“, das diese Barbaren aber nicht zwingt, auch noch barbarisch zu werden. Es ist auch die Chance, „von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren … Dem Innern mehr als der Innerlichkeit“ gehorchend (Benjamin II 1, S. 214ff.).

Mit Wenigem und Wenigen neu anfangen

Der Neuanfang kann und soll die Teilhabe am herrschenden Produktionsprozess nicht ausschließen. Er kann und soll nicht den Rückzug aus der Stadt wieder aufs Dorf bedeuten. Nicht den Verzicht auf flüchtige Bekanntschaften mit der Masse der Unbekannten, um sich mit einigen wenigen, stetigen Bekanntschaften zu begnügen. Wohl aber den Verzicht auf die Dummheit, die darauf besteht, „dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben“ (Marx EB 1, S. 540). Schluss also mit dem Privateigentum. Mit dem aber nicht Schluss zu machen ist, wenn wir es nicht schaffen, uns ein Dasein zu schaffen, in dem das Privateigentum sich aufhebt. Wie die „ganze Bewegung der Geschichte … wie ein wirklicher Zeugungsakt (ist) – der Geburtsakt seines empirischen Daseins“ (EB 1, S. 536) –, so muss auch die Abschaffung des Privateigentums und der darauf zugeschnittenen Beziehungen, die Abschaffung also auch der Religion, der Familie, des Staates als „ein wirklicher Zeugungsakt“ gedacht werden: als der Geburtsakt eines empirischen Daseins, in dem „der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist“ (EB 1, S. 535), den Individuen es daher ein Bedürfnis ist, dass zum einen Anderen ein anderer Anderer hinzukommt, der den Frieden des Eigenheimes, das Ritual ehelicher Treue, die Heiligkeit der Familie, die gewöhnlichen Tischsitten und üblichen Bettgeschichten, die Routine der Kindererziehung und was es sonst noch an verstaubter Häuslichkeit gibt, stört. Der Wunsch danach ist unabweisbar. Er muss überdacht werden. Nicht nur im geistigen, sondern auch im gewöhnlichen Sinne. Mit einer Technik, die es den „Werktätigen“ erlaubt, auf sie ihr miteinander belastetes Leben zu übertragen und Kräfte in ihr anzusprechen, die ihren „beengten und beengenden gesellschaftlichen Zustand über sich hinaus treiben zu einem menschenwürdigen hin“ (Adorno: Noten, S. 56). Guter Rat, der nicht teuer ist, kommt von den Dingen, die im Aussterben begriffen sind – und erwarten, dass man sie leben lässt: dem verlassenen Dorf, dem Bauernhof, der nicht mehr bewirtschaftet wird, alten Geräten, die sich routinierter Bedienung verschließen. Wie auch von Erzählungen, Liedern, Tänzen, die den Umgang mit den veralteten Dingen einst begleiteten. Man muss sie nicht hoch halten, muss sie sich vergegenwärtigen. Damit ist ein Umgang mit dem Veralteten gemeint, dessen Entdeckung sich, wie Benjamin entdeckte, der „Surrealismus“ rühmen kann. „Er zuerst stieß auf die revolutionären Energien, die im ,Veralteten‘ erscheinen, in den ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebäuden, den frühesten Photos, den Gegenständen, die anfangen auszusterben, den Salonflügeln, den Kleidern von vor fünf Jahren“ (Benjamin II 1, S. 299) – und die auch in den veralteten Werkzeugen erscheinen, mit denen in vorindustrieller Zeit Bauern und Handwerker ihren Unterhalt und ihre Unterhaltung bestritten. Um die in diesen Dingen lagernden „revolutionären Energien“ freizusetzen, bedarf es eines Tricks. Dieser Trick – „es ist anständiger hier von einem Trick als von einer Methode zu reden – besteht in der Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen den politischen“ (S. 300), der das einst gelebte gesellschaftliche Leben, wie es uns z.B. in alten Fotos, uralten Brücken und alten Fabrikgebäuden herausfordernd anblickt, wie es auch aus den alten Handwerksliedern oder Bauerntänzen zu uns spricht, nicht als Vergangenheit abtut.

So gesehen, die Dinge politisch und nicht historisch betrachtet, heißt, sie mit Erschrecken zu betrachten: als ausgestorbene oder aussterbende Dinge, mit denen auch eine Lebensweise ausstirbt, die ein Wissen von und zu den Dingen und auch zu den Menschen besaß, das wir gegenwärtig nicht besitzen und das verdient, gewürdigt zu werden. Die Würdigung ist nicht falsch zu verstehen! Die alten Sachen – die aus der Mode gekommenen alten Tänze, Lieder und Geschichten ebenso wie die unwirtschaftlich gewordenen Produktionsmittel – sind nicht als gewesene zu ehren, sondern als immer noch gegenwärtige zu beleben, um mit ihrer Rückständigkeit zu erkennen zu geben, welches Leben im Zuge des technischen Fortschritts auf der Strecke blieb. Dabei ist auch auf den Rat von Kindern zu hören. Wenn sie diesen auch noch nicht in Worte fassen können, so haben sie ihn doch im Auge. Und zwar in eigensinniger Weise. Ihre Gier ist Neugier – und nicht Habgier oder Sensationsgier. Die Neugier treibt sie zum Glück von Erfahrung zu Erfahrung und so einander auch in die Arme, um sich so ihre unterschiedlich gemachten Erfahrungen zu erlieben und im gegenseitigen Erkennen die Welt zu erkennen. Darauf ist zurück zu kommen. Auf die kindliche Neugier. Nicht auf die Kindheit. Das wäre kindisch.

„Ein Mann“, schreibt Marx, „kann nicht wieder zum Kind werden, oder er wird kindisch“ (Grundrisse, S. 31). Das kann man natürlich auch von der Frau sagen. Sie werden beide kindisch, wenn sie wieder Kinder sein wollen. Sie dürfen sich aber an der „Naivität des Kindes“ erfreuen. Mehr noch: Sie sollten sich von der Naivität des Kindes, mit der es neugierigerweise auf Entdeckungsreise geht, anstecken lassen, begeistern – und danach streben „auf einer höhern Stufe … seine Wahrheit zu reproduzieren“ (ebd.), die voller Achtung gegenüber dem vieldeutigen Anspruch der Dinge oder dem rätselhaften Eigenleben von Pflanzen und Tieren ist. „Unpassend, aber beruhigend“, nennt Saul Friedländer in seinen Erinnerungen die geheimen Spiele der „Kinder des alten Judenviertels“ im neuen alten Jerusalem. „Denn gegenüber der Vergangenheit, der unbeugsamen Tradition, einer jahrhundertealten, plötzlich hierher verpflanzten Routine verkörpern sie zwar Anerkennung und Kontinuität, aber auch eine nicht aufzuhaltende Kraft, die Kraft des Augenblicks, die Kraft des Lebens“ (S. 177f.).


Literatur

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Ffm. 1984.
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, Ffm. 1989.
Aitmatow, Tschingis: Dshamilja. Dt. von Hartmut Herboth, Zürich 1990.
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Dt. von Helmut Scheffel, Ffm. 1976.
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Ffm. 1980.
Bloch, Ernst: Prinzip Hoffnung I–III, Ffm. 1968.
Breton, André: L’Amour fou. Dt. von Friedhelm Kemp, Ffm. 1989.
Buber, Martin: Das dialogische Prinzip, Güterloh 2006.
Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt, München 1998.
Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden. Bd. I, Darmstadt 2002.
Horkheimer, Max /Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Ffm. 1969.
Kracauer, Siegfried: Kino, Ffm. 1974.
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953.
Marx, Karl: MEW, Berlin 1968.
Michelet, Jules: Das Meer. (Übers., Hrsg. und mit einem aktuellen Nachwort von Rolf Wintermeyer), Frankfurt / New York 2006.
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Hrsg. Karl Schlechta, München 1960.
Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil, Ffm. 1981.