Der bürgerliche Staat

Streifzüge 49/2010

von Alfred Fresin

Der bürgerliche Staat übt per Staatsgewalt Herrschaft über ein Staatsvolk in einem gewissen Territorium aus. Er beansprucht diesbezüglich das Gewaltmonopol. Seine heutige Herrschaftsform ist die Demokratie, seine Wirtschaftsform der Kapitalismus. Der Zweck dieses Staates besteht in der Benutzung der kapitalistischen Wirtschaft, um seinen nationalen Reichtum und seine nationale Macht zu erhalten bzw. zu vergrößern.

Der bürgerliche Staat und dessen Gewalt haben sich weitgehend von der Abhängigkeit bestimmter Personen emanzipiert. Der Monarchenspruch „Der Staat bin ich“ würde heutzutage von keinem Regierungschef oder Präsidenten verkündet werden können. Der bürgerliche Staat hat sich eine Dreiteilung der Gewalt in Legislative, Judikative und Exekutive verordnet, deren Prinzipien jeweils unabhängig von bestimmten Regenten funktionieren. Ein Heer von Beamten ist mit Staatsangelegenheiten beschäftigt, deren Grundlage Gesetze, Verordnungen und Bescheide sind. Wesentlich für moderne Staaten ist, dass die Ausübung der Gewalt nicht mehr durch bestimmte Personen kraft ihrer Stellung (z.B. Adel) ausgeübt wird. Die Regierenden, die alle paar Jahre ausgewechselt werden, und deren Mannschaft mögen zwar jeweils individuell unterschiedlichen Charakters sein, im Vollzug der Staatsangelegenheiten sind sie, marxistisch gesprochen, Charaktermasken, die das vollziehen, was gemäß des Zwecks des bürgerlichen Staates ansteht.

Schon bei der Entstehung der bürgerlichen Staaten ist Gewalt im Spiel. Sie haben sich ihre Ökonomie kraft ihrer Gewalt (und nicht umgekehrt die Ökonomie den Staat) eingerichtet, die als Kapitalismus bzw. Marktwirtschaft bezeichnet wird. Das heißt nicht, dass der bürgerliche Staat den Kapitalismus erfunden hat. Die Machthaber bezogen sich auf schon vorhandene ökonomische Entwicklungen und Gegebenheiten und sahen darin die Möglichkeit, Staatsmacht bzw. Souveränität besser voranzubringen als mit einer feudalen Wirtschaft.

Der bürgerliche Staat gibt sich eine Verfassung, die in seinem Staatsgebiet per Staatsgewalt gilt. Zu den Grundprinzipien, die der bürgerliche Staat in seiner Verfassung (bzw. Staatsgrundgesetz) festhielt und festhält, zählen Gleichheit und Freiheit der Bürger.

Gleichheit bedeutet die Gleichheit vor dem Gesetz − siehe dazu die Österreichische Bundesverfassung Artikel 7: „Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen…“. Unterschiedslos sollen für alle die Gesetze und damit auch die Prinzipien der eingerichteten Ökonomie gelten.

Freiheit lt. Verfassung heißt, dass sich jeder frei mit seinen privaten Mitteln (Eigentum) verdingen kann. Die Bürger sind also nicht Eigentum von anderen Bürgern (wie Sklaven) oder gewissen Bürgern von der Geburt bis zum Tod verpflichtet (wie Leibeigene). (Siehe dazu vor allem die Artikel 4, 6, 7, 8 des Österreichischen Staatsgrundgesetzes.)

Dieser Staat bezieht sich auf eine Ökonomie, die aus „freien“ Warenbesitzern besteht. Die existenzielle Grundlage der Untertanen beruht auf dem Verkauf und Kauf von Waren auf dem Markt. Da treten sie tatsächlich formal als Gleichberechtigte und Konkurrenten auf. Unangenehm ist das allerdings für den Großteil der „Marktteilnehmer“, denn sie besitzen nur die Ware Arbeitskraft und müssen sich als Lohnarbeiter verdingen. Der „stumme Zwang“ der in Kraft gesetzten ökonomischen Verhältnisse scheidet die Gesellschaft in Warenbesitzer und Warenhersteller – die Produzenten sind von ihrem produzierten Reichtum ausgeschlossen, denn die Waren sind Eigentum des kapitalistischen Unternehmers, und „Eigentum ist unverletzlich“ (Artikel 5 des Österreichischen Staatsgrundgesetzes).

Auf diese Crux der Klassengesellschaft bezieht sich die Gesetzgebung mit der nötigen (Staats-)Gewalt unterfüttert. (Privat-)Eigentum ist die Grundlage für die kapitalistische Warenwirtschaft. Für den Bürger gilt: Sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, ist Unrecht und wird bestraft. Da braucht es schon eine Gewalt, die dafür sorgt, dass dieses Prinzip auch praktisch gilt. Sie garantiert in dieser Gesellschaft das Eigentum als Rechtstitel – was ökonomisch bedeutet, dass Eigentum in dieser Gesellschaft seinen vornehmlichen Wert im Tauschwert und einen reflexiven Bezug auf sich selbst hat, nämlich sich zu vermehren vor allem in Geldform.

Der Staat garantiert ebenso die „Macht“ des Geldes, des universellen Tauschmittels, mit der die Warenwelt erschlossen werden kann. An Geld kommen zu müssen, um leben zu können, kennzeichnet die Brutalität der Ökonomie des bürgerlichen Staats – denn Geld wächst nicht auf Bäumen. Alle sind auf das Geld als „Lebensmittel“ verwiesen. Der Staat hat die Geldhoheit, er allein verleiht Papierzetteln kraft seiner Gewalt die Gültigkeit als Geld. „Du sollst keine anderen Gelder neben mir haben, ich bin einzig und alleine für das Geld in meinem Staat zuständig“ ist das gewaltträchtige Gebot des Staates. Denn Geld ist schließlich der Reichtum, auf den es im Kapitalismus ankommt, auf den nicht nur die Bürger, sondern auch der Staat scharf sind. (Auf Gold und Goldraub ist der moderne Staat nicht mehr angewiesen, und heutzutage gehen Staaten nicht wegen eines Mangels an Gold pleite.) Die Anerkennung der monetären Papierzettel wird per Gewalt hergestellt − das Vertrauen in deren Wertigkeit ergibt sich allerdings aus dem (inter)nationalen Erfolg der jeweiligen nationalen Wirtschaft. Auch wenn es Staaten nicht darauf anlegen, so können sie sich im Unterschied zu ihren Bürgern im Prinzip grenzenlos verschulden – Pleite gehen können sie schon, aber das sieht anders aus als bei ihren Untertanen und bedeutet nicht, dass ihre Gewalt ausgedient hätte und der Staat aufhört zu existieren wie eine Firma mit ihrem Konkurs.

Die Gewalt des Staates bezieht sich nicht bloß auf sein Staatsgebiet, sondern geht auch nach außen – bürgerliche Staaten sind imperialistisch unterwegs, ob nun mit der Armee in Eigenregie, im Rahmen der NATO, der UNO oder ganz „friedlich“ mit den sogenannten „Handelsbeziehungen“. Zwar anerkennen sich Staaten im Handel als sozusagen gleichberechtigte Vertragspartner – doch da es keine allgemeine Weltgewalt gibt, ist diese Anerkennung dann letztlich auch nur so gut wie die jeweils nationale Gewalt, die hinter ihr steht. Wenn nationale Interessen inakzeptabel beeinträchtigt werden (da ist die jeweilige Interpretation sehr unterschiedlich), dann wird auch die Gewalt zum Einsatz gebracht. Schon alleine, um dem gewappnet zu sein, um sich die staatliche Souveränität nicht so ohne weiteres streitig machen zu lassen, bedarf es auch bei kleinen Staaten einer (Auf-)Rüstung.

Die ideologische Verbrämung von Staatsgewalt und Recht

In der Regel wird die Notwendigkeit der Staatsgewalt nicht aus den politökonomischen Verhältnissen dieser Gesellschaft abgeleitet, sondern aus der Natur menschlichen Verhaltens mit dem Verweis auf die prinzipiell unverträgliche Menschennatur („Homo homini lupus“).

Auch hierbei stellt der bürgerliche Verstand alles verkehrt dar (wie Marx in anderen Zusammenhängen so treffend nachweist). Aus der Tatsache, dass die Bürger beim Bestreiten ihrer Reproduktion und in der Konkurrenz notwendigerweise auf Gesetze und deren Einhaltung verwiesen sind (z.B. Anerkennung und Einhaltung von Verträgen), wird eine Naturnotwendigkeit für Staatsgewalt schlechthin. Es ist doch gerade der Staat, der mit seinen Gesetzen, mit denen er den Kapitalismus installiert und durchsetzt, permanente Interessensgegensätze schafft, die von „Natur“ aus gar nicht auftreten, z.B. den Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital. Er verpflichtet alle auf das Privateigentum und das Geld und setzt den Ausschluss der Produzenten von dem von ihnen produzierten Reichtum in Kraft, er legt die Unternehmer und Arbeitnehmer auf die Konkurrenz fest. Im bürgerlichen Bewusstsein erscheint der Staat als eine Art Schiedsrichter bzw. Schlichtungsinstanz von immer schon gegebenen Animositäten.

Ähnlich verhält es sich bei den vom bürgerlichen Staat definierten Grundrechten Freiheit und Gleichheit. Sie werden als gleichsam naturgegebene, dem Menschsein innewohnende Wesenszüge betrachtet („Menschenrechte“). Diesbezüglich stellt sich die Frage, weshalb es eigentlich einer Gewalt bedarf, welche die natürlich vorgegebenen Rechte definiert – sie würden ja ohne Zutun der Gewalt natürlich gelebt werden. Rechte sind nichts „Natürliches“, sie werden immer von Gewalten definiert und verliehen, und zwar mit einem bestimmten Bezug versehen. Gleichheit der Bürger wäre als allgemeiner Grundsatz absurd, da Menschen nun mal individuell verschieden sind. Die Geltung des gleichen Rechts für alle im bürgerlichen Staat ist auf die Gesetze bezogen, welche für die ökonomischen Ungleichheiten bei den Bürgern sorgen. Freiheit als allgemeiner Begriff ist ebenso absurd. Per se ist der Wille des Menschen frei – Substanz bekommt der Begriff erst, wenn der spezifische Gehalt der Freiheit angegeben wird: frei von materieller Not, frei von bestimmten Zwängen etc. Hinsichtlich der Befreiung von materieller Not und den ökonomischen Zwängen findet sich keine Verpflichtungserklärung in der bürgerlichen Verfassung (wie z.B.: Als Staat garantiere ich jedem die Freiheit von materieller Not und von Ausbeutung der Arbeitskraft.). Historisch gesehen bezieht sich das Freiheitsgebot des bürgerlichen Staates auf die Befreiung von der Leibeigenschaft. Jeder kann, frei von Unterwerfung unter irgendeine andere Privatperson, am Markte kaufen und verkaufen, auch wenn es nur seine Arbeitskraft ist.

Es wäre auch krumm, dem Staat vorzuwerfen, die Rechte seien mangelhaft oder überhaupt nicht verwirklicht. Solche Kritiker beziehen sich zwar auf diese vom bürgerlichen Staat in die Welt gesetzten Rechte, machen sich aber ihre eigenen Idealvorstellungen davon und halten dies dem Staate bzw. den Bürgern vor (siehe auch Abschnitt „Demokratie“). Sie unterliegen außerdem einem Fehler, den Marx schon anno dazumal bei einigen Genossen festgestellt hat: „Die deutsche Arbeiterpartei – wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht – zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die bestehende Gesellschaft (…) als Grundlage des bestehenden Staats (…) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbständiges Wesen behandelt, das seine eignen ,geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen‘ besitzt.“ (in „Kritik des Gothaer Programms“) Die Genossen verkennen den Staat, wenn sie ihn gegen die Ökonomie hochhalten und ihn freier und gleicher gestalten wollen. Nach dem Motto: Der Staat wäre dann im Sinne des Proletariats, würden seine Prinzipien Freiheit und Gleichheit so richtig wahr gemacht.

Wie bezieht sich der Staat auf seine Bürger?

Der Staat sieht für alle Lebensbereiche der Staatsbürger Gesetze vor. Dabei achtet er stets darauf, dass sich seine Bürger im Sinne der Mehrung des kapitalistischen Reichtums betätigen können. Bei all dieser Einmischung geht es dem Staat also nicht nur um die Kodifizierung der Interessensgegensätze, sondern auch um die Erhaltung der Funktionalität der Bürger für den Staatszweck.

Was die Arbeiterklasse betrifft, so haben diesbezüglich einige Nationen den sogenannten Sozialstaat eingerichtet. Historisch gesehen hatte der geistige und körperliche Zustand der Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat dazu bewogen, die Lebensbedingungen so weit zu verbessern, dass ihm genügend gesunde Soldaten und Arbeiter zur Verfügung standen, die in der Lage waren, für ihn einerseits in den Krieg zu ziehen und andrerseits Reichtum zu vermehren. Sozialisten, die sich dafür stark machten, erreichten auch die Machtbeteiligung im bürgerlichen Staat.

Der Sozialstaat im heutigen Sinn wurde nach dem zweiten Weltkrieg im „westlichen“ Europa in unterschiedlichen Varianten eingerichtet. Das Staatsvolk sollte für das Vorhaben des „Wiederaufbaus“ und der Rückerlangung der politischen und wirtschaftlichen Souveränität benützt werden und die politische Stabilität gewahrt werden. Dazu gehören ein staatlich aufgezogenes Ausbildungs- und Gesundheitssystem, ein für alle geltendes Sozialversicherungssystem, staatliche Begünstigungen für Familien und Bürger, die nur eingeschränkt bzw. nicht mehr als Produzenten eingesetzt werden (Arbeits- und Sozialrecht). Diese Zuwendungen bzw. Begünstigungen werden je nach Maßgabe des Budgets und Berechnungen des volkswirtschaftlichen Nutzens gewährt oder gestrichen. Der Sozialstaat als Teil des Staatsbudgets wird ständig neu berechnet und beständig reformiert – Sozialschmarotzer soll es ebenso wenig geben wie Massen, die gänzlich verwahrlost dahinvegetieren. Eine Mindestsicherung von 733 Euro/Monat ist in Österreich das aktuelle Mindestmaß des staatsbürgerlichen Funktionierens, die in der breiten Öffentlichkeit als großzügiger Gnadenakt des Staates wahrgenommen wird.

Der Stellenwert des Sozialbudgets wurde bei der letzten Finanzkrise deutlich. Bei der Unterfütterung des Bankensystems mit staatlichem Geld, wie in der laufenden Wirtschafts- bzw. Finanzkrise, wurde weniger lang gerechnet und gefeilscht. Klotzen statt kleckern, lautete da die Devise − es ging ja um „die Wirtschaft“ und ihre Grundlage schlechthin (Kredit und Geld) −, und es gab da großes Staunen in der Welt, wie viel Manna in kurzer Zeit auf das Finanzkapital herabrieselte. Wer das letztlich auszubaden hat, war auch bald klar: Weitere Armut und eine Neuberechnung des Sozialwesens stehen an.

An sich sind die Kapitalisten die Lieblingsbürger des bürgerlichen Staates. Sie sind es ja, die mit ihrem Erfolg (Reichtumsvermehrung = Geldvermehrung) wesentlich zur Erfüllung des Staatszwecks beitragen. (Wenn die Wirtschaft wächst, bringt dies schließlich dem Staat mehr Steuereinnahmen und überdies auch bessere Voraussetzungen für seine Verschuldungsmöglichkeiten.) Falsch wäre es, zu behaupten, dass die Kapitalisten, bzw. die „Wirtschaft“, die Gesetze diktieren. Es ist zwar so, dass mit den Gesetzen und Staatsausgaben Bedingungen geschaffen werden, die das Geschäftemachen und dessen Erfolg allgemein befördern sollen, aber diese Gesetze schränken durchaus auch gewisse Interessen der Kapitalisten ein, ob das etwa die allzu rücksichtslose Ausbeutung der Arbeitskräfte (z.B. hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen) oder Belastungen der Natur betrifft (z.B. Umweltschutzauflagen für Betriebe). Dabei wägt der Staat ab, wie weit er seine Kapitalisten (auch hinsichtlich der weltweiten Konkurrenz) belasten kann. Eine 20-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich kommt ebenso wenig in Frage wie das Zusperren von industriellen Dreckschleudern.

Auch weibliche Staatsbürger werden vom Staat und seiner Politik sehr funktionell betrachtet. Einerseits soll die Nation nicht unter einem Mangel an Nachwuchs leiden und andrerseits sollen weibliche Arbeitskräfte auch den Reichtum der Nation befördern. Insofern dreht die Politik an mehreren Schrauben (Familienpolitik, Steuerpolitik, Sozialrecht, Arbeitsrecht etc.), um beides unter einen Hut zu bringen. Ebenso hat die Gleichberechtigung darin ihren Platz, solange sie sich als wirtschaftstauglich erweist: „Nach einer im Auftrag der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft durchgeführten Modellsimulation würde die völlige Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt die Wirtschaftsleistung der EU-Mitgliedsländer zwischen 15 Prozent und 45 Prozent erhöhen.“ (M. Schratzenstaller im Standard, 10.04.2010)

Wie beziehen sich die Bürger auf den Staat?

Die Staatsbürger beziehen sich positiv auf diese Staatsgewalt. Sie erachten die vom Staat eingerichtete Ökonomie, Eigentum, Geld, Lohnarbeit, als unumstößliche Postulate und Bedingungen ihres Fortkommens. Sie halten sich in der Regel an die Gesetze, teils weil sie wissen, dass eine Gewalt dahinter steht, die bei Nichteinhaltung auch tätig wird, und teils weil sie sich moralisch darauf verpflichtet sehen („Diebstahl gehört sich nicht; wo kämen wir denn hin, wenn das alle täten.“). Vom Staat erwarten sie, dass er Bedingungen schafft, die ihnen ihr Fortkommen ermöglichen − nicht zu verwechseln mit der Garantie eines zufriedenstellenden Lebensunterhaltes, was die Bürger auch gar nicht erwarten, denn schließlich „ist jeder selbst seines Glückes Schmied“. Ständig bemäkeln sie das Staatswesen, vor allem dessen personelle Ausstattung, statt sich Staat und Marktwirtschaft zu erklären und deren Sachzwänge, die ihr Leben so mühselig ausfallen lassen, zu kritisieren. „Würdige und fähige Politiker und das bewusste Vorleben von Werten bräuchte das Land – aber das gäbe es so selten, und bei der nächsten Wahl werde man denen die Meinung sagen“, u.a., wenn man aus Protest gar nicht wählen geht.

Nur wenn der Staat in den Augen der Bürger dabei versagt, die Bedingungen für das jeweilige Funktionieren seiner Staatsbürger zu schaffen bzw. zu erhalten, dann kann es sein, dass es Proteste größerer Art gibt. Da werden z.B. die großteils arbeitslosen Bewohner der französischen Stadtslums aufsässig und fordern, sie nicht als Bürger zweiter Klasse zu behandeln, die Griechen demonstrieren, streiken und einige randalieren wegen des staatlichen Sparprogramms, oder deutsche Arbeiter gehen auf die Straße, weil Fabriken zugesperrt bzw. verlagert werden. Da sie ihre Reproduktion nur schaffen, wenn sie sich als nützlich für Kapital und Staat erweisen, klagen sie die Möglichkeiten des sich Nützlichmachens als Anspruch an den Staat auch ein – der Staat sollte ihnen zumindest Chancen dafür geben.

So manche wünschen sich einen starken erfolgreichen Staat, wobei sie einerseits ganz ohne eigene materielle Vorteilsberechnung auskommen, andrerseits aber ganz scharf auf eine ideelle Genugtuung sind. Für Nationalisten gibt es keine Unterschiede zwischen Staat und Bürger, keine Gegensätze zwischen den Bürgern selbst – es gibt nur das „Wir“, das gepflegt gehört und sich gegen Nichtdazugehörige – wer die seien, da gibt es unterschiedliche Ansichten − zu behaupten hat. Solch nationalistisch gesinnte Idioten geraten in der harmlosen Variante in Verzückung, wenn „ihre“ Nationalmannschaft gewinnt oder ein Landsmann Papst wird („Wir sind Papst“ − Titel der Bild-Zeitung nach der Papstwahl). In der weniger harmlosen Variante gehen sie gegen „Schädlinge“ und selbsternannte „Feinde“ der Nation vor, die in ihren Augen vom Staat viel zu gut behandelt würden. Und wenn es sein muss, wird für den Staat auch in den Krieg gezogen – das bestimmt allerdings nicht das Fußvolk.

Demokratie

Die Herrschaftsform moderner bürgerlicher Staaten ist die Demokratie. Schon die Bezeichnung dieser Herrschaftsform weist sie als Herrschaft (Kratie) aus, was auch bedeutet, dass es Herrscher und Beherrschte gibt. Es ergibt sich die eigentümliche Dialektik, dass das Staatsvolk (Demos) einerseits seine Herrscher durch Wahlen ermächtigt, andrerseits selbst herrscht, also Herrscher und Beherrschter in einem ist. Das Volk staatspolitisch betrachtet ist nichts anderes als die personelle Ausstattung des Staates. Die Brecht’sche Frage „Die Gewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“

Demokratien kommen in den verschiedensten Ausprägungen vor. Charakteristisch für alle ist das aktive Wahlrecht der Staatsbürger. Welches Angebot wird den Bürgern bei Wahlen gemacht? Sie haben das Recht, ihre Herrscher auszuwählen. Zur Wahl stehen mit diesen verschiedene Angebote des „guten“ Regierens: Personen oder Parteien, die jeweils von sich behaupten, die Staatsinteressen am besten zu vertreten. Dabei heucheln sie vor jeder Wahl den Wählern vor, das Interesse des Großteils der Bürger zu vertreten. Dass bei Wahlversprechen auch gelogen wird, gehört dazu. Die meisten Wähler wissen das auch und bilden sich ihre geschmäcklerische Meinung hinsichtlich unterschiedlicher Glaubwürdigkeit der Politiker.

Trotz all dieser „Schönheitsfehler“ hat es der bürgerliche Staat geschafft, seine Herrschaft als eine vom Bürgerwillen gegebene zu etablieren, den Bürger diesbezüglich auch zu adeln und zu erreichen, dass die Demokratie als Wert hochgehalten wird − vor allem als Wert gegenüber Faschismus und Kommunismus, der ja politisch gesehen mit Stalinismus gleichgesetzt wird. Während der Faschismus, der aus dem bürgerlichen Staat erwuchs, das demokratische Prozedere mit Wahlen und Parlament („Quatschbude“) als unnötig für die Durchsetzung des Staatsinteresses erachtete, beriefen sich die Sowjets auf eine Partei als alleinige Vertreterin des Volkes. Sie sahen in den bürgerlichen Parteien Vertreter unterschiedlicher ökonomischer Interessen, die sie in ihrem Staatswesen ja als beseitigt wahrnahmen. Innerhalb der einzigen Partei, die alle Interessen vertrat, sollten dann die divergierenden Ansichten zu staatlicher Politik ausgefochten werden.

Jedenfalls sind sich die demokratische Herrschaft und ihre Untertanen darüber einig, schon deswegen eine geglückte Staatsverfassung zu sein, da darin auch die Meinungsfreiheit Platz hat. Dem Bürger wird großzügig zugestanden, seine Privatmeinung vertreten zu können − sofern diese konstruktiv staatsdienlich vorgebracht wird, ist sie sogar willkommen. Auch staatskritische Äußerungen werden toleriert, solange sie sich als Meinungen artikulieren und solche auch bleiben, also nicht staatsfeindlich tätig werden. Doch es gibt auch Meinungen, die in einer Demokratie verboten sind, und auf die Einhaltung dieses Verbots achten besonders die Vertreter des Meinungspluralismus. Auch daran sieht man, dass sich die gewährten Rechte immer an der jeweils gültigen Herrschaft relativieren.

Kritische Affirmation

Kritiker des bürgerlichen Staates unterliegen oft einem geharnischten Demokratieidealismus. Sie halten staatlicher Politik vor, die eigentliche Demokratie gar nicht verwirklicht zu haben bzw. nicht zuzulassen − die Bürger sollten prinzipiell überall mitbestimmen und ihren Interessen Geltung verschaffen.

Würden sich mit einer stärkeren Beteiligung der Bürger an „ihrer“ Demokratie die Verhältnisse zum Besseren wenden? Solange die Grundprinzipien des bürgerlichen Staates, sein Recht auf Freiheit und Gleichheit, das (Privat-)Eigentum, die Konkurrenz auf dem Markt, die Geldwirtschaft, von den Bürgern mitgetragen werden, solange wird das Leben der Bürger eine abhängige Variable von nationalen politischen und ökonomischen Kalkülen sein. So gesehen sind die Bürger heutzutage viel zu sehr an ihrer Nation interessiert. Dem Staat kann es nur recht sein, wenn seine Zwecke und die der Wirtschaft durch rege demokratische Beteiligung konstruktiv befördert werden. Deshalb sieht er sich durch die Parole „mehr Demokratie“ auch nicht herausgefordert. Solange er sich auf seine staatstreue Wählerschaft verlassen kann, sind ihm auch Volksabstimmungen willkommen. Eine Volksabstimmung über die Abschaffung des Privateigentums würde er sich allerdings verbieten, nicht weil er sich vor dem Ergebnis fürchten würde (leider hätte er derzeit da nichts zu befürchten), sondern weil es seiner Staatsräson zuwiderliefe.

Kurzer Ausblick

Die Erläuterungen sollten klarlegen: Falsche Vorstellungen vom bürgerlichen Staat hegen falsche Hoffnungen in eine Herrschaft, die abgeschafft gehört. Nicht die Politik der kleinen Schritte im herrschenden Staatswesen und idealistische Forderungen an den Staat führen zu einem Gemeinwesen, in dem es um das gute Leben geht, sondern ein großer Schritt, eine Zäsur.

Und diese Zäsur besteht vorerst darin, Kapital und auch Staat auf den „Müllhaufen der Geschichte“ zu befördern. Danach ist eine Produktion aufzuziehen, die weder Privat- noch Staatseigentum, noch Markt und Geld kennt. Nicht aus Geld mehr Geld zu machen, sondern eine bedürfnisorientierte Versorgung soll der Zweck der Ökonomie sein. Zweck der Arbeit ist dann nicht das Schaffen von (Mehr-)Wert, sondern von Voraussetzungen für das gute Leben. Dass dies nicht ohne eine Planung der Produktionsprozesse vonstatten gehen kann, versteht sich von selbst: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“ (Engels in „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“). Und eines hat sich dann auch erübrigt: zur Wahl zu gehen und ein Kreuzchen für seine Herrschaft abzugeben. Vielmehr wird es auf die Mitbestimmung bei Planung und Produktion ankommen.

Sicherlich tun sich da viele Fragen auf:

Wie ist die Planung organisiert? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Arbeit und Verteilung? Wenn ja, worin besteht dieser? Was bedeutet das für Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen? Wie sieht die Organisation der „Verwaltung von Sachen“ aus?


Zu all diesen Fragen und mehr wird im Buch „Die bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft – eine Alternative zur Marktwirtschaft“ von Alfred Fresin Stellung genommen. Auch online verfügbar unter www.stattkapitalismus.blogsport.de.