Das Kapital als Prozeß

von Emmerich Nyikos

1.

Die Überlegungen in „Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, Peter Lang (2010)“ kreisen um drei Achsen:

1. die logisch konsistente Repräsentation der Substanz des Kapitals, also des Werts als des gesellschaftlichen Aspekts privater Produktion in allen seinen Dimensionen, aufsteigend vom Abstrakten zum Konkreten in einem Stufenaufbau, d.h. von der Rekonstruktion des Basisaspekts, der gesellschaftlichen Dimension des Warensystems (Wert und abstrakte Arbeit, Tauschwert und Preis), über das Verhältnis von toter zu lebendiger Arbeit (Kapital als Produktionsverhältnis), das Verhältnis der aparten Kapitalentitäten zueinander (intersektorale Konkurrenz und uniforme Profitrate), das Verhältnis von Angebot und Nachfrage (Monopol innerhalb der Sektoren) bis hin zum Gebrauchswert unter dem Gesichtspunkt der Produktivkraft der Arbeit (reine oder absolute „Rente“);

2. die Dynamisierung des Stufenmodells, d.h. die Parallelisierung von theoretischer Konkretion und historischer Entfaltung vom Embryonalen bis hin zum Reifen und dann zum Überreifen (zur condition post-moderne);

3. die geschichtliche Extrapolation der Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit permanent zu forcieren, eine Tendenz, die letztendlich dahin führen muß, daß an einem hypothetischen Endpunkt der Wert als gesellschaftliche Dimension der Produktion eliminiert(1) und diese Produktion – als Stoffwechsel mit der Natur – aus der Gesellschaft in automatisierte Apparate ausgelagert sein wird, so daß nur mehr die äußeren Formen der Produktionsweise des Kapitals (Geld, Preis, Profit, Zins usw.) zurückbleiben werden, also die reine Fassade, was auf nichts anderes hinauslaufen kann, als daß die Praxis, die sich in diesen Formen bewegt, sich am Ende als komplett sinnlos erweist – in einem System, das nicht mehr notwendig, daher unwirklich ist im Sinne der Hegelschen Logik.

2.

Damit die logische Konsistenz der Marxschen Werttheorie, die, was sich von selbst versteht, die Grundlage dieser Überlegungen bildet, gewährleistet sei, war es notwendig, diese auf eine neue Basis zu stellen:

1. den Ausgangspunkt nicht mehr, wie bei Marx, in der Ware zu wählen, sondern in der Produktion für die Gesellschaft (oder wie Marx es selber gesagt hat: „In Gesellschaft produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt.“(2) ), was letztendlich auf die These hinausläuft, daß es die Gesellschaft als Ganzes ist, die Wert, also gesellschaftliche Tauschfähigkeit, produziert, eine Gesellschaft allerdings, die auf der Arbeitsteilung im Kontext privater Produktion (des Privateigentums an den Produktionsmitteln) gründet, was eben den Austausch der Produkte als Waren miteinschließt;

2. das Geld nicht mehr, wie gleichfalls bei Marx, als „geronnene Arbeitszeit“ zu fixieren, sondern als gebrauchswertmäßigen Repräsentanten des Tauschwerts, das heißt, der Tauschbeziehungen der Waren zueinander;

3. den Wert nicht unmittelbar mit dem Preis gleichzusetzen (also in irgendeiner Form als „monetär“ aufzufassen), sondern ersteren als „Attraktor“ des letzteren zu behandeln;

4. an den Marxschen Invarianzpostulaten (Wertsumme = Produktionspreissumme, Mehrwertsumme = Profitsumme) festzuhalten, diese aber auf eine tiefere Ebene (in eine „Tiefenstruktur“) zu verlagern, d.h. auf die Ebene des Sraffaschen Standardsystems, welches das Kapitalsystem an dem Punkt repräsentiert, wo letzteres mit seinem Begriff (maximale Verwertung in der Zeit) übereinstimmt;

5. die Preissphäre nur als Durchgangsstadium im „ewigen“ Kreislauf des Kapitals zu betrachten, d.h. als Umverteilungsmaschinerie, welche lediglich gemäß einer allgemeinen Profitrate r den gesellschaftlichen Mehrwert auf die Kapitale verteilt, diesen aber in seiner Größendimension unberührt läßt, was sich dann offen zeigt, wenn man die Sache vom Reproduktionsprozeß her konzipiert, d.h. auch die darauffolgende Produktionsperiode in die Untersuchung mitaufnimmt;(3)

6. die Kuppelproduktion konsequent vom Wertaspekt her zu behandeln, womit alle Inkonsistenzen und Paradoxien (Spaltung der Profitrate, negative Preise usw.) verschwinden.

3.

Die „Stufen“ im theoretischen „Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten“ sind zugleich die Konzeptualisierung der verschiedenen historischen „Phasen“ des Kapitalsystems, die eine aus der anderen aufgrund von Transformationen hervorgehen, die das spezifische Funktionieren dieser Systemphasen selbst generiert (4):

1. die Formationsphase des Warensystems, welche durch das sogenannte putting-out-system charakterisiert ist, eine Produktionsorganisation, welche lediglich von außen vom Handelskapital dominiert wird (ungefähr von der Glorious Revolution von 1688 bis zur Errichtung der ersten mechanischen Fabrik durch Richard Arkwright 1771 in England);

2. die Phase des „abstrakten“ Kapitalsystems, welche charakterisiert ist (1) durch ein relativ niedriges Niveau der Differenzierung der organischen Kapitalzusammensetzung und (2) durch eine relativ niedrige Intensität der intersektoralen Konkurrenz (von ca. 1771 bis ca. 1848);

3. die Phase des „klassischen“ Kapitalsystems (die Systemphase, die Marx analysiert hat), die durch die freie Konkurrenz und die Bildung einer uniformen Profitrate charakterisiert ist (von ca. 1848 bis ca. 1890);

4. die monopolistische Phase des Kapitalsystems, die durch die Formierung monopolistischer Strukturen innerhalb der Sektoren (auf der Basis großer Aktiengesellschaften) und die Behinderung der Bildung einer uniformen Profitrate charakterisiert ist (von ca. 1890 bis zur Gegenwart); diese Phase ist unterteilt (1) in die Subphase des Monopolsystems in einem nationalen Rahmen (von ca. 1890 bis ca. 1945) und (2) in die Subphase des Monopolsystems im Kontext der Transnationalisierung (von ca. 1945 bis jetzt);

5. die „post-moderne“ Phase des „Verschwinden des Werts“ (die noch bevorsteht).

All dies heißt etwa, daß die Tendenz zur Etablierung einer uniformen Profitrate in ihrer ausgebildeten Form nur für die „klassische Phase“ vollauf Gültigkeit besitzt, während sie davor nur embryonal und danach eine Tendenz war, die sich nicht mehr unbehindert durchsetzen konnte, auch wenn sie nichtsdestotrotz ein (unterschwelliges) Systemmerkmal bleibt.

4.

Der absolute Widerspruch des Kapitalsystems – der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (der gesellschaftlichen Dimension der Produktivkräfte und der privaten Dimension der Produktionsverhältnisse) – führt nicht zum „Zusammenbruch“ des Systems (obgleich sich dieser Widerspruch durchaus in periodischen Krisen entlädt), sondern zu seiner allmählichen „Entwirklichung“, zu einer Periode immer größer werdenden Sinnlosigkeit, der nur durch die bewußte Aufhebung (Transformation) der Grundlagen des Systems, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, ein Ende gesetzt werden kann. Und es kann ihr ein Ende gesetzt werden, weil das Kapital selbst revolutionär ist, revolutionär in dem Sinne, daß es die Produktivkräfte permanent umwälzt und auf eine stets höhere Stufe der Automatisierung (der Entleerung von lebendiger Arbeitskraft) hebt und so der Tendenz nach den Stoffwechsel mit der Natur aus der Gesellschaft in automatisierte Apparate verlagert – aus einer Gesellschaft, die also nur den ungeheuren Produktionsapparat in Besitz nehmen muß, um ihn rational und planmäßig für ihre Zwecke zu nutzen. Der Witz an der Sache ist nämlich, daß aufgrund dieser revolutionären Facette des Systems des Kapitals eine freie Assoziation sich nicht mehr (oder nur rudimentär) mit der Produktion als Arbeitsprozeß (sondern nur mehr mit der Verwaltung von Sachen) wird herumschlagen müssen (5), so daß das Kapital selbst den Pferdefuß einer jeden Gesellschaft, die nicht mehr in Klassen organisiert ist – nämlich den Wegfall der disziplinierenden Wirkung der Klassenrelation (ein Wegfall, den man in der Sowjetunion, einem Modernisierungsstaat der globalen Peripherie, eine Zeitlang durch Terror zu kompensieren versuchte) –, schon avant la lettre beseitigt.

Fußnoten
1 Die Genialität von Marx erweist sich darin, daß er dies (in den Grundrissen) zu einer Zeit vorausgesagt hatte, als es empirisch noch gar nicht absehbar war. Heute ist dies natürlich ganz anders.
2 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Dietz (1953), S. 5.
3 Man beachte, daß der Gesamtprofit, insofern das Geld nicht „geronnene Arbeitszeit“ ist, an der Oberfläche überhaupt nicht numerisch mit dem Gesamtmehrwert der Gesellschaft identisch sein muß (bei vorausgesetzter numerischer Übereinstimmung von Wert und Produktionspreis des gesellschaftlichen Warenaggregats); vielmehr ist der Profit die monetäre Form dieses Mehrwerts im Austausch, d.h. ein spezifischer „Aggregatzustand“ desselben (man wird sich erinnern, daß das Volumen des flüssigen von dem des gefrorenes Wassers stets differiert, obwohl es sich hier natürlich um ein und dieselbe Sache handelt).
4 Dies gilt allerdings nicht für den Übergang aus der Vorphase in die kapitalistische Produktionsweise selbst (also für den take-off in England), zumindest dann nicht, wenn man den notwendigen Charakter dieser Übergänge betont. Und es gilt im übrigen auch nicht für den hypothetischen Übergang zu einer höheren Form der Gesellschaft, welche Marx „freie Assoziation“ genannt hat. Hier spielt die bewußte Praxis (auf der Grundlage freilich objektiver Voraussetzungen) die maßgebliche Rolle.
5 Stellt man den Wegfall von Rüstung und Krieg, von geplanter Obsoleszenz, Mode und Schnickschnackproduktion, von Werbung und Verkaufsförderung, von Banken, Versicherungen und Börsen, der Armutsverwaltung usw. in Rechnung, gewinnt dieser Gedanke um so mehr an Plausibilität.

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Soeben erschienen:

Emmerich Nyikos, Das Kapital als Prozeß. Zur geschichtlichen Tendenz des Kapitalsystems, Peter Lang (2010)

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