Capitalism in Emergency – Profit ohne Wachstum?

Streifzüge 48/2010

von Andreas Exner

Von Merkel bis Sarkozy will man, dass alles beim Alten bleibt. Weil’s aber schlicht nicht so bleiben kann, wie’s ist, muss man adaptieren. Da kommt die Wachstumskritik gerade recht.

Die Krise bricht aus der Sicht der Lohnabhängigen und Kapitalisten wie ein Naturereignis über die Gesellschaft herein. Dass der eigene Zusammenhang mit den Anderen, die eigene Lebensweise die Krisenursache sein könnte, liegt so fern wie dem Mittelalter der Gedanke, die Erde drehe sich um die Sonne. Die „Real-Illusion“ bürgerlicher Freiheit lässt die Erkenntnis, dass die allseitige Unabhängigkeit der Individuen (am Markt) gerade die Ursache ihrer größtmöglichen Abhängigkeit voneinander ist (ein Widerspruch, der in der Krise eklatiert), kaum je von alleine aufkommen.

Gefährliche Innovationen

Spontan ist allerdings die Einsicht in die Notwendigkeit, etwas an den Koordinaten von Ökonomie und Politik verändern zu müssen, um in der fundamentalen Krise das gewohnte Prozedere von Ausbeutung und Unterwerfung fortführen zu können. Die „politische Klasse“ ist zwar ebenso wenig wie die Kapitalistenklasse homogen, dennoch denken und handeln die Mitglieder der Politbüros in vielem ähnlich. Die strukturellen Notwendigkeiten der Reproduktion des Kapitals, die der Staat mitorganisiert und von der er abhängt, setzen nämlich ungeachtet aller Spielräume Restriktionen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass ähnliche Ideen zur selben Zeit an verschiedenen Orten im politischen Diskurs auftauchen. Die allseitige kommunikative Vernetzung ist dafür nur Bedingung, nicht Erklärung.

Ganz allgemein werden in Krisensituationen oppositionelle Ideen von den Herrschaftsapparaten aufgenommen und systemerhaltend umgebaut. Dies geschieht durch Kontextveränderung und Neuinterpretation, durch gezielte Auslassung einerseits und Anreicherung mit herrschaftsfunktionalen Ideen andererseits. Bestes Beispiel dafür sind einige der neoliberalen Leitwerte: Kreativität, Flexibilität, flache Hierarchien, Selbstverantwortung: Sie sind Ergebnis der Transformation zentraler Themen der 1968er-Bewegungen. Ähnliches ließe sich wohl anhand des Faschismus und Nationalsozialismus im Verhältnis zu den damals dominanten Strömungen des marxistischen Sozialismus zeigen.

In der gegenwärtigen Krise kommen ökonomisch-soziale Verwertungsgrenzen mit einer Energie- und Klimakrise beispielloser Dimension zusammen. Der Krisenverlauf wird in untergeordneter Weise von oppositionellen Strömungen, die sich in der „Globalisierungsära“ gebildet haben, beeinflusst. Weniger in Europa, spürbar in Lateinamerika. Ganz allgemein gesehen schreiben sich in den bisherigen Krisenverlauf nicht nur die dominanten Kapitalinteressen ein, sondern ebenso die Interessen der Lohnabhängigen. Beide Kräftepole verdichten sich – asymmetrisch freilich – in den politischen Krisenreaktionen.

Doch drängt die Vehemenz der Krise, deren weiterer Verlauf von den Systemfunktionären häufig als gravierend eingeschätzt wird, dazu, die bestehenden Formen der Regulation zu verändern. Zu diesem Zweck müssen bislang oppositionelle, „innovative“ Elemente aus Diskursen und Praxen übernommen werden: erstens weil das Kapital selbst keine Kreativität besitzt und immer von dem „lebt“, was sich außerhalb seines unmittelbaren Herrschaftsbereichs und gegen es entwickelt; zweitens weil in Krisensituationen die (vorsorgliche) Einbindung kapitalgefährdender Elemente ein Herrschaftserfordernis darstellt.

Establishment against Growth

Die ökonomisch-sozialen Verwertungsgrenzen haben zu einem Wachstumseinbruch auf großer Stufenleiter geführt. Die schon vor dem Einbruch zunehmend debattierte ökologische Krise mit Fokus Klimawandel wird nun mit den anderen Krisentendenzen diskursiv zusammengeführt. Das zeigt sich in den wachstumskritischen Debatten, die seit rund einem Jahr quasi aus dem Boden schießen. Von den kleinen Refugien aus, in denen sie seit den 1970er Jahren überdauerten, werden sie nun vom Mainstream aufgegriffen. Einige Beispiele: Angela Merkel und Horst Köhler äußerten öffentlich, man müsse das Wachstum als alleiniges und oberstes Wirtschaftsziel hinterfragen; ähnliches war von Nicolas Sarkozy zu vernehmen, der eine eigene Kommission zum Thema eingerichtet hatte, die unlängst einen Bericht publizierte (Stiglitz et al., 2009, „Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“). Das österreichische „Lebensministerium“ veranstaltete Ende Jänner 2010 eine große Konferenz mit dem Titel „Wachstum im Wandel“ (www.wachstumimwandel.at); dem war ein Projekt zusammen mit der Consulting- und Forschungsfirma SERI vorangegangen, das sich im Buch „Welches Wachstum ist nachhaltig?“ niederschlug (Mandelbaum-Verlag, 2009). In Großbritannien erarbeitet die Sustainable Development Commission – „the Government’s independent adviser on sustainable development, reporting to the Prime Minister“ – unter der Headline „Redefining Prosperity“ wachstumskritische Perspektiven. Seit 2007 existiert die von EU-Kommission, WWF, OECD, dem Club of Rome und dem EU-Parlament getragene Initiative „Beyond GDP“ (www.beyond-gdp.eu). Weitere Beispiele sind Berichte in den etablierten Medien und Veranstaltungen von Lobbyverbänden. Mit Beteiligung linker Strömungen markierte die Pariser Degrowth-Konferenz im April 2008 einen radikalen Wechsel der Debattenführung in der Ökoszene, der dem Interesse staatlicher Akteure an der Kritik des Wachstums vorangegangen war.

Paradigmatisch zeigt die „Format“-Coverstory „Wohlstand ohne Wachstum“ vom 12.1.2010 (www.format.at) die Konturen der krisenreaktiven Wachstumskritik seitens der Systemfunktionäre und der mit ihr verkoppelten Zivilgesellschaft. Ein durchgängiger Topos ist dabei die Kritik des Bruttoinlandsprodukts (BIP), dem monetär bemessenen Output an Gütern und Diensten einer Volkswirtschaft, als „alleinigem Wohlstandsindikator“. Dabei werden das BIP und sein Wachstum als ein Indikator für konkrete Bedarfsdeckung, mithin Wohlstand, missverstanden, anstatt diese Größen als Indikatoren für die Profitpotenziale und Hegemoniefähigkeit einer kapitalistischen Wirtschaft zu sehen.

Fallstricke statt Lösungen

De facto ändert es nichts an der Produktionsweise des Kapitals, ob man ihren „Output“ volkswirtschaftlich lediglich in monetären Größen oder zusätzlich als Anzahl Autos, Kühlschränke, Brötchen oder mithilfe irgendwelcher „Glücksindikatoren“ auf Fragebogenbasis bemisst. Es ändert zwar nicht materiell, jedoch ideologisch Einiges, wenn die Herrschaftsapparate davon abgehen, das BIP und sein Wachstum als oberste Zielgrößen offensiv zu propagieren. Dazu muss man wissen, dass der herrschaftlich-wachstumskritische Diskurs mit keinem Wort die kapitalistischen Produktionsverhältnisse kritisiert. Corinna Milborn, Autorin der besagten Cover-Story in „Format“, fasst dessen „Lösungsvorschläge“ wie folgt zusammen:

Erstens Arbeitsplätze ohne Wachstum durch Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. Damit zwinge nicht jede Produktivitätssteigerung zur Erhöhung des Umsatzes, referiert Milborn – „Die Modelle: Teilzeitarbeit, Karenz und Auszeiten für Bildung – zugleich aber eine längere Lebensarbeitszeit“. Zweitens Ressourcenverbrauch statt Arbeit besteuern. Dabei soll die alte Idee der Ökosteuer mit einer Umverteilung von oben nach unten verbunden werden, wie seit Neuestem auch das Ökosoziale Forum fordert. Drittens Werte statt schneller Gewinne. Zitiert wird der Vorschlag von Hans-Christoph Binswanger, Aktiengesellschaften in Stiftungen umzuwandeln, die soziale und ökologische Ziele in ihrer Satzung festschreiben. Viertens ein neues Geldsystem. Das „Finanzsystem“ treibe „die Realwirtschaft mit hohen Renditeerwartungen“. Binswanger schlägt deshalb vor, dass nur Zentralbanken Geld schöpfen dürften. Dies würde Kreditvergabe, damit Gewinn und folglich Wachstum einschränken. Fünftens Fortschritt neu messen. „Das Königreich Bhutan hat das BIP als Maßzahl für Wohlstand schon lange verworfen. Seit 1972 wird das ‚Brutto-Sozialglück’ gemessen“, so Milborn.

Ernst Ulrich Weizsäcker bringt im „Format“-Interview die falsche, ökologisch relevante Schlussfolgerung auf den Punkt: „Am Wachstum hängen Arbeitsplätze: Wenn die Produktivität steigt und die Zahl der Arbeitsstunden nicht abnimmt, braucht man Wachstum, um auch nur die Zahl der Arbeitsplätze zu halten. Die Unternehmen wiederum sind gezwungen, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, weil sie sonst von der Konkurrenz abgehängt werden – nicht zuletzt aus Billiglohnländern. Diese Dynamik aus weltweitem Wettbewerb und dem Wunsch, die Beschäftigtenzahlen zu halten, erzeugt zwangsläufig einen dringenden Wunsch nach Wachstum.“ Tatsächlich aber ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum ein Selbstläufer und resultiert nicht aus dem „Wunsch“ Arbeitsplätze zu erhalten.

Arbeitszeitverkürzung schwächt den Zwang, den Umsatz zu steigern, nicht ab. Neue Maschinerie erlaubt in der Regel mehr in kürzerer Zeit herzustellen und wird maximal genutzt, schon allein um die Investitionskosten möglichst rasch einzuspielen. Bei verkürzter Arbeitszeit würden mehr Arbeitskräfte eingestellt – bleibt sonst alles gleich. Verkürzung der Arbeitszeit erhöht selbst ohne Lohnausgleich die Arbeitskosten (da z.B. mehr Zeit für Koordination erforderlich ist). Höhere Arbeitskosten führen jedoch tendenziell zu beschleunigter Automatisierung durch Maschinen. Der Gesamtoutput kann mit Arbeitszeitverkürzung alleine folglich weder verkleinert noch konstant gehalten werden.

Ökosteuern können den Wachstumszwang und -drang grundsätzlich nicht aufheben. Sie binden die staatliche Kapitalabhängigkeit lediglich an den Ressourcenverbrauch, der ja aber gerade verkleinert werden sollte. Die Veränderung von Unternehmensformen könnte durchaus den Wachstumszwang entschärfen, allerdings kaum ohne eine Entwicklung in Richtung einer Solidarischen Ökonomie, also von Selbstverwaltung und zwischenbetrieblicher Kooperation und Produktionsplanung. Die Einschränkung der Kreditvergabe ist als politisches Ziel aus einem einfachen Grund illusionär: Verunmöglichte man den Geschäftsbanken die Geldschöpfung, so würden eben Nicht-Banken Kredit vergeben und Geld „schöpfen“.

Sakrosankt: Profit

Von diesen Einwänden abgesehen fällt auf, dass das kapitalistische Produktionsverhältnis, die Lohnarbeit, wie ein blinder Fleck außen vor bleibt. Entsprechend wird auch die Gewinnorientierung keinesfalls in Frage gestellt. Ernst Ulrich von Weizsäcker spricht Klartext: „Man müsste das Anreizsystem so verändern, dass Betriebe ohne eine hektische Vermehrung der Arbeitsproduktivität gute Gewinne erzielen.“ Franz Fischler stößt in dasselbe Horn: „Ich habe heute einen Firmenchef kennen gelernt, der – um dieser Kurzfristigkeit zu entgehen – sein Unternehmen in eine Stiftung umgewandelt hat, die nun wesentlich innovativer ist, gute Gewinne macht und zufriedene Mitarbeiter hat.“

Es ist der analytischen Oberflächlichkeit der „politischen Klasse“ zuzurechnen, dass die simple Frage nicht einmal ins Bewusstsein tritt, was denn mit den Gewinnen einer „nicht wachsenden Wirtschaft“ gemacht werden solle. Man kann sogar unterstellen, dass der Kredit massiv eingeschränkt wäre, wie Binswanger das fordert. Die Unternehmensgewinne würden nach wie vor investiert – dem strukturell vorgegebenen Produktionsziel „Gewinn“ entsprechend in seine Erhöhung : Kapitalakkumulation und „Wachstum“ resultieren.

Hier wird die Gefährlichkeit der herrschaftsförmigen Wachstumskritik sichtbar. Grundsätzlich ist nämlich Profitproduktion ohne Wachstum des Gesamtkapitals denkbar: als ein Verdrängungswettbewerb der angesichts von energetischer und ökonomischer Krise bedrohten Einzelkapitalien oder aber – in einem „Steady State-Kapitalismus“ – als ein „parasitäres“ Abschöpfen des Mehrwerts für Luxuskonsum. Die aus dem Lohn- und Kapitalsystem Herausfallenden sollen unter diesen Vorzeichen die einzige Perspektive, die man ihnen bisher vorspiegelte, aus „ökologischen Gründen“ aufgeben: das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Dafür erklärt man ihnen, dass Geld und Konsum nicht glücklich machen.

Die moralisch ebenso wie analytisch fehlgeleitete Verzichtsökologie, über Jahrzehnte hinweg von wohlmeinenden Ökoaktivist_innen diskursiv vorbereitet, droht sich solcherart mit dem blanken Faktum fehlender Wachstumsmöglichkeiten des Kapitals zu verbinden. Eine Produktionsweise, die ihr „Menschenmaterial“ mangels Verwertbarkeit fortschreitend ausstößt, das „Bruttosozialglück“ zur zynischen Maxime erhebt, während de facto das Elend sich verbreitert – ein Muster, das aus dem Entwicklungsdiskurs bekannt ist, wo ständig darüber lamentiert wird, die eigenen, ach so engagierten Ziele leider nicht und nicht zu erreichen – wird sich freilich auch mit ideologischen Verrenkungen nicht am Leben halten können.

Daraus folgt jedoch noch nicht, dass jene emanzipativ überwunden werden wird. Abzusehen ist vielmehr, dass die umkämpfte Suche nach einer neuen Form von Herrschaft vorderhand einmal weitergehen wird. Wer ernsthaft an einer ökologisch und sozial verträglichen Produktionsweise interessiert ist, wird gut daran tun, sich nicht von Herrschaftsinteressen instrumentalisieren zu lassen, sondern die Kritik zu schärfen.