Von Mieterrevolten zum freien Markt

von Günter Schneider

Am 7.11.1911 versammeln sich etwa 2000 Demonstrant/inn/en vor dem Haus Herthergasse 26 in Meidling, um gegen ungerechtfertigte Kündigungen zu protestieren. „Die Menge warf Steine gegen das Haus, und einige Fensterscheiben wurden durch Steinwürfe zertrümmert“, schreibt die Arbeiterzeitung. Die Sicherheitswache löst die Versammlung gewaltsam auf. Aber auch an den nächsten zwei Tagen kommen jeweils an die 1200 Personen, um ihren Unmut über die Willkür der Hausherren kundzutun. Solche Mieterrevolten und auch Mieterstreiks waren um 1910 in Wien und Budapest, den Hauptstädten der österreichisch-ungarischen Monarchie, an der Tagesordnung. Das damals für Mietwohnungen gültige Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) sicherte den Hausherren Vertragsfreiheit zu. So konnten innerhalb kurzer Zeit Kündigungen und Mietzinserhöhungen ohne Begründung ausgesprochen werden.

Mieterschutz und Rotes Wien

Im Jänner 1917 erließ das österreichische Gesamtministerium die erste Mieterschutzverordnung, sozusagen eine Vorläuferin des Mietengesetzes. Grund dafür war die Angst, dass in den schlechter werdenden Zeiten des 1. Weltkriegs die Mieterproteste noch stärker werden. Es sollte damit im Hinterland Ruhe geschaffen werden. Weitere Verordnungen folgten im Jänner und Oktober 1918. Alle enthielten neben dem Verbot einer nicht gerechtfertigten Erhöhung des Mietzinses Bestimmungen, die das freie Kündigungsrecht des Vermieters auf wichtige Gründe einschränkten. Erst im Jahr 1922 wurden diese Verordnungen vom Mietengesetz abgelöst, das von da an über die Zeit der Ersten Republik, des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus hinaus bis 1981 gültig war.

Das Mietengesetz regelte den Markt mehr oder weniger restriktiv. Auf der anderen Seite stellte die öffentliche Hand billigen Wohnraum durch den sozialen Wohnbau zur Verfügung (Gemeindebau im Roten Wien). Für das private Kapital war es dadurch alles in allem wenig lukrativ, in den Wohnungsbau zu investieren. Trotz der Aufhebung der Mietzinsobergrenzen (Friedenskronenzins) durch die ÖVP-Alleinregierung ab Jänner 1968 kam es zu keinem drastischen Anstieg der Wohnungspreise in Österreich. Erst Mitte der 80er Jahre wurde der Immobiliensektor für die Anleger interessant – ausgelöst durch weitere Lockerungen in der Mietengesetzgebung, vor allem durch das Mietrechtsgesetz (MRG) von 1982 und die Freigabe der Kategorie A aus den damals gültigen Mietzinsobergrenzen ab 1986.

Die strengen Regelungen des Mietengesetzes waren auch maßgeblich daran beteiligt, dass die Wiener Stadtstruktur bis Anfang der 1980er Jahre mehr oder weniger stabil geblieben ist. Sie bremsten Polarisierungs- und Entflechtungstendenzen der Bevölkerung und städtischen Funktionen und verhinderten die Bildung regelrechter Slums. Diese positive Wirkung erkannte der leider viel zu früh verstorbene Stadtplaner Willi Kainrath 1982 in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (82/4) ausdrücklich und sah sie im Angesicht des neu in Kraft getretenen Mietrechtsgesetzes zu Recht als gefährdet an.

Der Abriss…

In den letzten 25 Jahren blieb denn auch mit der Liberalisierung des Mietrechts im Wohnungssektor kein Stein auf dem anderen, sowohl den Wohnungsmarkt als auch die Stadtentwicklung betreffend. Die Mietpreise haben sich vervielfacht, der Wohnungsaufwand beträgt heute oft mehr als die Hälfte des Familieneinkommens. Die Stadt hat sich durch soziale Entflechtung und Bildung von Ausländergettos gravierend verändert.

Die Mietengesetzgebung, die gerade in Wien durch seinen großen Althausbestand von etwa noch 35.000 Gründerzeithäusern – „Neu“bauten ab 1945 sind von den meisten Bestimmungen ausgenommen – von größter Bedeutung ist, fußt auf drei tragenden Säulen: dem Kündigungsschutz, den Mietzinsregelungen und der Erhaltungspflicht der Häuser durch die Hauseigentümer. Dazu kommt noch ein Rechtsinstrumentarium, das den Mieter/innen auch die Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Rechte gibt.

Nur im Zusammenwirken aller dieser Punkte ist Mieterschutz gewährleistet, soweit dieses überhaupt durch Gesetze bzw. Gerichte möglich ist. Gibt es keinen Kündigungsschutz, sind Mietzinsbegrenzungen sinnlos, denn die Mieter/innen sind bei einem etwaigen Gang zum Gericht der Gefahr der Kündigung ausgesetzt. Gibt es keine Mietzinsbegrenzungen, ist der Kündigungsschutz unnötig, da sich die Wohnungssuchenden die Wohnungen nicht leisten können. Gibt es schließlich keine Erhaltungspflicht, sind beide anderen Bestimmungen überflüssig, denn die Häuser brechen über den Köpfen der Mieter/innen zusammen, was ja in der Realität auch tatsächlich manchmal passiert. Und wird das Rechtsinstrumentarium unbrauchbar, nützt das ganze Mietrecht nichts, denn es ist nicht durchsetzbar.

Erster großer Einschnitt im Prozess der Liberalisierung und marktgerechten Zurichtung des Mietrechts war 1986 die Herausnahme der Kategorie-A-Wohnungen aus der Mietzinsbegrenzung. Der darauffolgenden Entwicklung, dass binnen weniger Jahre fast nur mehr teure A-Wohnungen am Markt zu finden waren, sollte mit der Einführung des Richtwert-Mietzinses ab 1994 begegnet werden. Dieser Zins, ein Mittelding zwischen Kategorie- und Marktmiete, bewirkte, dass bis heute das Mietenniveau in Wien auf Werte bis 12,44 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete (Hauptmietzins + Betriebskosten + Steuer) gestiegen ist. Sogar bei den durch die Stadt Wien geförderten Sanierungen sind oft Mietpreise über 10 Euro pro Quadratmeter üblich. Der Gemeindewohnungsbau wurde bereits vor Jahren eingestellt. Auch das Steuerungsinstrument der weit niedrigeren Mieten für die Gemeindewohnungen wurde von der Stadtverwaltung dadurch aus der Hand gegeben, dass jene bei Wiedervermietung an den privaten Sektor angeglichen wurden.

Die Kündigungsbestimmungen wurden zwar nicht aufgehoben oder reduziert, sind aber nur für Mieter/innen mit einem unbefristeten Mietvertrag wirksam. Mit dem ab März 1994 in Kraft getretenen 3. Wohnrechtsänderungsgesetz wurde jedoch der befristete Mietvertrag eingeführt. Mit einer Mindestdauer von drei Jahren kann ein Mietvertrag mittlerweile beliebig oft verlängert werden. Damit werden die Mieter/innen natürlich genötigt, sich unauffällig zu verhalten. Streben sie z.B. eine gerichtliche Überprüfung des Mietzinses an, ist eine Verlängerung des Mietvertrages praktisch ausgeschlossen. Einer Studie nach wurden im Jahr 2002 nahezu 40 Prozent aller neuen Mietverträge befristet abgeschlossen. Viele, vor allem Zuwanderer/innen, sind daher gezwungen, Nomaden gleich, alle paar Jahre umzuziehen. Erst in den letzten Jahren hat sich diese Situation durch den Zugang von Ausländer/innen zu Gemeindewohnungen etwas entspannt.

Auch Verfahren wegen notwendiger Erhaltungsarbeiten (etwa Reparatur von Fenstern) sind bei befristeten Mietverträgen sinnlos. Die Vermieterseite kann durch den gesetzlich vorgesehenen Instanzenzug das Verfahren in den meisten Fällen hinauszögern, bis der Vertrag ausläuft. Die Langsamkeit der Gerichte tut ihr Übriges.

Und schließlich wurde es den Mieter/innen in den letzten Jahren erschwert, ihre Rechte gerichtlich durchzusetzen. Im Jahr 2005 wurde nämlich das Gesetz derart geändert, dass die Mieter/innen im Fall, dass das Verfahren verloren wird, einen Kostenersatz für Vertretungskosten an die Vermieterseite zu zahlen haben. Da sich Vermieter mehrheitlich von Anwälten vertreten lassen, ist somit für antragstellende Mieter/innen ein großes Kostenrisiko gegeben, das natürlich viele davon abhält, zu Gericht zu gehen. Auch mit erhöhten Gebühren und sonstigen Gesetzesänderungen wird der Zugang zum Recht erschwert bzw. beschränkt. Die Anzahl der Mietenprozesse ist daher deutlich gesunken.

Dazu kommt noch, dass sich Mietervertreter/innen, Schlichtungsstellen, Gerichte etc. mittlerweile mit einem Gesetz herumzuschlagen haben, das immer weniger in der Lage ist, die Materie der Vermietung von Wohnraum zu regeln. Klare Bestimmungen werden vom Gesetzgeber zunehmend vermieden, Entscheidungen, die eigentlich die Politik treffen sollte, etwa die Festsetzung der Höhe des Mietzinses, werden den Gerichten bzw. „unabhängigen“ Sachverständigen, die ausschließlich aus dem Bereich der Immobilienwirtschaft kommen, überlassen.

…und die Folgen

Alles im allem hat sich die Wiener Stadtstruktur durch diese Entwicklungen zum Nachteil für die Bewohner/innen geändert. Die ab Mitte der 70er Jahre vor allem aus Jugoslawien und der Türkei zugewanderten Arbeiter/innen hatten lange Jahre keinen Zugang zu den Gemeindebauten. Sie haben sich daher nicht über das Stadtgebiet verteilt, was ihre Integration hätte fördern können, sondern haben sich großteils in den Gründerzeitvierteln außerhalb des Gürtels angesiedelt. Dort waren genügend schlecht ausgestattete Wohnungen vorhanden, die – meist nach Bezahlung einer saftigen Ablöse – um eine halbwegs erschwingliche Miete zu haben waren bzw. auch nicht gesetzeskonform Eingewanderten als Unterschlupf gegen oft enormen Aufpreis zur Verfügung standen. Hauptsächlich betroffen hievon waren und sind noch (Inner)Favoriten, Rudolfsheim/Fünfhaus, Ottakring und die Brigittenau, wo Spekulanten ihre Mieter/innen auspressen und zugleich kaum in die Häuser investieren.

Auch die Infrastruktur leidet in diesen Grätzln. Wettkaffees, Imbissshops und Billigläden herrschen im Straßenbild vor. Geschäfte, Wirtshäuser und Gewerbebetriebe sperren immer häufiger zu, sind zum Teil fast verschwunden. Auf der anderen Seite entsteht durch den Bauboom an den Stadträndern ein Einkaufszentrum und Bürobau nach dem anderen. Die Entflechtung städtischer Funktionen ist weit vorangeschritten, wodurch auch der Verkehr stark angestiegen ist. Maßnahmen zur Beseitigung dieser Entwicklung werden kaum ergriffen. Wenigstens zum Teil wird diese allerdings durch Neugründungen von Geschäften und Handwerksbetrieben durch die Zuwanderer und deren Nachkommen gemildert.

Vielleicht kommt aber auch anderes wieder in Gang. Junge Leute fangen mit Hausbesetzungen an, um darauf hinzuweisen, dass der Wohnungsmarkt für sie und eine andere Art zu leben als in der Welt von Geld und Arbeit vorgesehen keinen Raum bietet. Zuletzt wurde z.B. eine alte Schule, die als Amtshaus in einer Fernsehsatire bekannt wurde, besetzt. Diese Aktion wurde freilich genauso wie die Mieterrevolten vor 100 Jahren von der Polizei zunächst einmal gewaltsam beendet.