Leserbrief an die SZ

zu: Tobias Moorstedt: „Wir müssen die Systemfrage stellen. Über die Hilflosigkeit der Moral: Der Attac-Kongress in Berlin“, SZ vom 9.3.2009

von Hermann Engster

Herrn
Tobias Moorstedt
c/o Süddeutsche Zeitung
Hultschiner Straße
München

Tobias Moorstedt: „Wir müssen die Systemfrage stellen. Über die Hilflosigkeit der Moral: Der Attac-Kongress in Berlin“, SZ vom 9.3.2009
http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/467716

Sehr geehrter Herr Moorstedt,
es ist erfreulich, dass die SZ durch Sie den Lesern in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat, dass der Kapitalismus ein Naturgesetz, vergleichbar der Gravitation, ist und dass deshalb ein Leben jenseits des Kapitalismus genauso wenig möglich ist wie ein solches jenseits der Schwerkraft. Denn seit dem Auftreten der ersten Hominiden vor Millionen von Jahren lebt die Menschheit unterm Gesetz des Kapitalismus, sie wusste es bloß lange Zeit nicht, bis sie von Adam Smith im 18. Jahrhundert darüber aufgeklärt wurde. Zwar haben wir geglaubt, uns durch viele Übung an das Gesetz des Kapitalismus perfekt angepasst zu haben – „survival of the profittest“ (haha, kleiner Scherz anlässlich des Darwin-Jubiläums) -, doch erwies sich das als ein Irrtum, den wir freilich bald korrigiert haben werden. Jede Krise bietet ja bekanntlich auch eine Chance.
Deshalb lautet Ihre Botschaft an die Opelaner zu Recht, dass keineswegs der Kapitalismus selbst an deren Misere schuld sei, sondern vielmehr die Kapitalismuskritiker, die zu allem Überfluss durch ihr Gerede alles noch viel schlimmer machen und die obendrein schon gar nicht in der Lage sind, den Opel-Arbeitern zu helfen, wohingegen diese bei den Politikern, Bankern und Wirtschaftsweisen entschieden besser aufgehoben sind, wie beinahe täglich eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird.
Und dass jene schnöden Kritiker „hilflos“ in ihrer Moral sind, wie Sie entlarvend feststellen – wie wahr! Richtig starke, hilfreiche und die Wirklichkeit durchdringende Moral finden wir hingegen, und in der SZ ist es oft genug zu lesen gewesen, beim Papst und Dalai Lama. Im Angesicht von deren moralischer Stärke wird die Krise mit einem Winseln klein beigeben. Maßlose Gier, keineswegs ein Strukturmerkmal des Kapitalismus, wie verleumderisch behauptet wird, sondern ein moralischer Defekt des Menschen, wird es dann nicht mehr geben. Was Karl Marx, der Miesmacher und kaltherzige Theoretiker niedergedrückt hat, wird Reinhard Marx, der Frohmacher und Kardinal, wieder aufrichten: Alles wird gut, und wir werden in der besten aller Welten leben.
Sie, verehrter Herr Moorstedt, werden dann im Feuilleton der SZ den krönenden Jubelartikel schreiben dürfen mit dem Titel „Des Kapitalismus Sieg und Verklärung. Über die Stärke des Glaubens an Konkurrenz, Konsum und ewige Geldvermehrung“. Und wenn Sie Ihre Eloge noch mit ein paar ökonomischen Kategorien dekorieren, kommen Sie vielleicht damit sogar in den Wirtschaftsteil hinein, dorthin, wo die wirklich ernsten Dinge des Lebens verhandelt werden.