Dogmatischer Pluralismus

von Franz Nahrada 

Wer von der Universität als Ort der Wissensproduktion vielleicht noch in Analogie zur Fabrik spricht, übersieht möglicherweise zweierlei:

Erstens den Umstand dass die endgültig und radikal vollzogene Trennung von Forschung und Lehre, wie sie der Bologna – Prozess vorsieht, die Universität primär als Funktionsträger der Produktion – oder sollte man besser sagen Selektion? – von qualifizierter Massenarbeitskraft bestimmt und die residualen Momente der Theorieproduktion bildungsökonomisch neu sortiert.
Zweitens aber, dass Wissen im eigentlichen Sinn nur im Bereich der Naturwissenschaften produziert und distributiert wird. Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften verfolgen das Ideal eines anwendbaren und womöglich noch in algometrisierbare Handlungsanweisungen übersetzbaren Wissens, sind aber genau deswegen und gerade darin funktional dass sie kein Wissen produzieren.

Diese beiden Punkte sind essentiell für die Strategiefindung einer sich politisierenden studentischen Bewegung und für die Begründung einer solidarischen Ökonomie der Universität. Im folgenden dazu einige thesenhafte Anmerkungen /Ableitungen.

1. Was fällt auf an der Uni? Das mehr oder weniger lieblos präsentierte Wissen ist gleichgültiges Material für Prüfungen, es wird nicht nach seiner Richtigkeit gefragt. Darüber wird anderswo entschieden. Der studentische Massengeschmack hat das längst akzeptiert und präferiert alles, was nicht nach Theorie riecht, sondern anwendbare Methoden offeriert, zum Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit genauso wie zum Erledigen der Berufspflichten. Darin ist praktisch wahr gemacht, dass Wissen zunehmend dieselben Funktionen erfüllt wie in der Schule: Versorgung mit einem Set von Verhaltensmaßregeln auf der einen Seite, Material der Aufteilung auf die Hierarchie der Berufe auf der andern Seite.

2. Und davon gibt es mehr als genug: es gehört geradezu zum Gütesiegel der GGW, dass über ein und denselben Gegenstand mehrere einander widersprechende Theorien existieren. Dies ist den Protagonisten kein zu beseitigendes Ärgernis, sondern Ansporn zur ständigen Erkundung dessen, was an Betrachtungsweisen noch möglich ist. Jeder Minimalisierungs- und Axiomatisierungsanspruch ist geschwunden. Stattdessen blüht ausgerechnet in der Wissenschaft ein Kult und Betrieb der Originalität, der Unaufhörlichkeit des gedanklichen Konstruierens und Dekonstruierens, des bemühten Vergleichens der Ergebnisse, der Neuerfindung von Aspekten und Perspektiven des Vergleichs usw – ohne dass jemals eine kleine Erkenntnis die ständig anwachsende Bibliothek verkehrter Deutungen überflüssig machen könnte.

3. Obwohl die Universität staatliche Veranstaltung ist, gibt es für deren Funktionäre keine prinzipiellen staatlichen Anweisungen zum Denken – auch wenn immer mehr die Auftragsforschung blüht. Doch wäre es verkehrt erst an diesem Punkt die Formbestimmung, die Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Zwecke zu entdecken. Denn die Freiheit der Wissenschaft selbst, in deren Auftrag der Staat die Universität unabhängig von einzelnen Drittmitteln am Leben erhält, ist die wesentliche Formbestimmung. Gerade in der Abtrennung von den gesellschaftlichen Zwecken liegt die Garantie, dass sich Wissenschaft als geistiges Zulieferunternehmen nützlich macht.

4. Das hat einerseits eine parodistische Seite, mit der auch nur bedingt Schluss gemacht wird, weil sie eben notwendig dazugehört. In ihren selbstgesetzten Aufgaben kennt die GGW noch nicht einmal die dem „normalen Menschenverstand“ geläufigen Kriterien des Wichtigen und Unwichtigen. So bot die Welt der Universitäten bislang das lächerliche, doch hoch in Ehren gehaltene Schauspiel zahlloser erwachsener Menschen, die Jahre ihres Lebens mit der erbittert verteidigten „Analyse“ einer Handvoll Gedichte verbringen; oder mit der Streitfrage, ob die Pyramide oder die Zwiebel das passendere Modell für eine „mobile Gesellschaft“ sei; oder mit mathematischen Formeln für ein ökonomisches Fließgleichgewichts, deren sämtliche „Faktoren“ sich einer Definition verdanken, die deren Tauglichkeit für die Erstellung einer mathematischen Theorie im Auge hat und sonst nichts; oder mit der Sammlung von Quellen zur mittelalterlichen Theologie des Schutzengels; oder … – dieser Betrieb soll nun nicht eingestellt, sondern „quantitative“ geregelt und einer verantwortungsvollen Elite vorbehalten bleiben.

5. Das hat eben aber auch die ernste Seite, dass gerade darin die Wissenschaft gerade in dieser ihrer unmittelbaren Erscheinungsweise auf eine Gesellschaft verweist, die sich aus Wissen nicht bestimmt. Den Wissenschaften ist mit ihrer Festlegung auf das theoretische Reflektieren die Qualität entzogen, tatsächlich gesellschaftliches Handeln zu bestimmen. Darin können sie sich einer stolzen und langen Tradition rühmen: denn schon die christliche Tradition der Antike spaltete die Welt in Theologisches und Physikalisches. Was nicht der kirchlichen Autorität unterstehen will, konnte nicht eine Norm oder menschliches Gesetz sein, sondern allerhöchstens Natur. Die späte Säkularisierung oder Aufklärung hat mit diesem Prinzip keineswegs gebrochen, sondern Normativität entweder der Willkür überantwortet oder eben wiederum der Natur, wie man schon an der aberwitzigen Konstruktion des Naturrechts sieht. Das eine Mal hat die Wissenschaft schlicht nichts zu sagen, sondern höchstens methodisch kontrolliert zu dienen, dafür darf sie beim andern mal umso mehr ihren Finger erheben und eine außermenschliche Autorität postulieren, als deren Interpret sie sich aufführt. Was früher der liebe Gott war, ist jetzt die Normalität, Wesensgemäßheit.

6. Innerhalb der Wissenschaft(-sethik) gilt so einerseits die Enthaltsamkeit in Sachen Einmischung geradezu als Tugendbeweis und besitzt den Charakter einer innerwissenschaftlichen Vorschrift:

***Wertfrei*** muss Wissenschaft sein, wenn sie anerkannt sein will, lautet dieser Imperativ. Und gemeint ist mit dem Wertfreiheitspostulat nichts anderes als das Verbot, aus der Funktionalisierung per staatlichem Geistesghetto auszubrechen und aus wissenschaftlicher Erkenntnis heraus gesellschaftliche Zusammenhänge bestimmen zu wollen. Das korreliert mit dem ***Pluralismusgebot *** Denn jedes dieser Gedankengebäude bezieht seine Geltung nicht aus seiner Stimmigkeit, sondern aus seiner Freiheit, sprich: aus seiner potentiellen Brauchbarkeit für praktische oder ideologische Zwecke in der bürgerlichen Gesellschaft.

7. Auf der anderen Seite lebt gerade in dieser freien Sphäre des Geistes, die sich selbst gegen jeden Normativitätsanspruch geradezu hysterisch verteidigt, die Sucht nach der Entdeckung neuer, tieferer und unabweisbarerer Notwendigkeiten, denen der Mensch bei Strafe des Abnormen, Dysfunktionalen, Asozialen etc. nachzukommen hat. Die Konstruktion der Gegenstände der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften lebt vom erfinderischen Aufweis von Gesetzmäßigkeiten, die einem Naturgesetz gleich dem Blick des berufenen Interpreten zugänglich sind und unbedingt mehr Berücksichtigung, Würdigung und Dotierung von Seiten des Staates verdienen. Da geht es beim staatlichen Durchsetzen von Prioritäten immer gleich ums Problem der Ordnung und der Regeln schlechthin, der Psychologe entdeckt wieder den Menschen im Kampf um sein inneres Gleichgewicht, der Soziologe sorgt sich auch bei Tourismus und Fußballspiel um Balance und Orientierung der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang, der Historiker mahnt vor Nichtbeachtung der Geschichte, der Pädagoge sorgt sich um die Menschgemäßheit der Sortierung, Orchideenwissenschaften mahnen um den Wert des Nichtökonomisierten, und Philosophen schließlich weisen ständig die Untauglichkeit der Wissenschaft für die Beantwortung moralischer Fragen nach, um sich selbst, und zwar ganz gegenstandslos, in Szene zu setzen. Das alles ist ein Supermarkt, an dem sich jeder frei bedienen kann. Doch nur In den Händen der Macht, die es gibt, gewinnt solches Schein-Wissen überhaupt Wucht und Bedeutung, weil es ihren politischen Zwecken einen Schein von Notwendigkeit verleiht.

Wien, am 15.11.2009