Rasanz der Politik

Wahlkämpfe werden zunehmend zu einem Flächenbombardement auf den menschlichen Geist

von Franz Schandl

Wenn zwei Nationalratswahlkämpfe so knapp hintereinander stattfinden, weiß man direkt, was man unbedingt versäumen sollte.

Die Alpenrepublik galt lange Zeit als Hort eines unbeweglichen Parteienspektrums. Christlichsoziale und Sozialdemokraten teilten sich das Land, sonst tat sich wenig. Doch diese Stabilität ist im Schwinden, ja Verschwinden begriffen. Holten SPÖ und ÖVP bis Ende der Siebzigerjahre stets um die 90 Prozent der Stimmen, so müssen sie diesmal froh sein, wenn sie an der 60 Prozent-Marke kratzen. Dieser Abstieg ist ein langfristiger Trend, mag er auch gelegentlich unterbrochen werden.

So treten jetzt auch über zehn Parteien zu den Wahlen an. Neben den fünf im Parlament vertretenen haben noch das Liberale Forum (LIF) und die Liste Dinkhauser (eine Tiroler ÖVP-Abspaltung) Chancen auf den Einzug in den Nationalrat. Der Listen werden viele. Eintagsfliegen und Unverdrossene, Juxlisten und Obskuranten versuchen ihr Glück. Müssten nicht formale Hürden bei der Einreichung (amtlich bestätigte Unterstützungserklärungen) überwunden werden, wären es noch viel mehr.

Etliche Kommentatoren sprechen schon vom Ende der Zweiten Republik. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Andererseits ist kein Anfang geschweige denn ein Aufbruch festzustellen. Nirgendwo. So ist es weniger ein Ende als ein Auslaufen, das nicht und nicht zu Ende kommen kann. Es ist also keine Dritte Republik in Sicht, weder eine Haidersche, der diesen Begriff früher für sich reklamierte, noch eine andere. Dass es so nicht mehr weiter geht, ist ein Gefühl, dass zwar des Öfteren aufkommen mag, es ist aber eine Frage, ob es die ihm zugesprochene Relevanz hat und man sich nicht umgekehrt mit dem Dahinwursteln abgefunden hat. So wird es weitergehen, auch wenn nichts mehr weitergeht. Vorerst.

Event statt Interesse

Machen wir uns nichts vor: An Wahlen interessiert weniger das inhaltliche Angebot als das formale Aufgebot. Mehrwöchige Aufführungen sind die Folge. Entscheidend für das Wahlverhalten vieler sind nicht mehr profane Interessen, sondern unmittelbare Stimmungen, die oft von beiläufigen Nuancen und Akzenten abhängen, in etwa, dass Werner Faymann um einiges hübscher ist als Alfred Gusenbauer, der noch dazu vor der Studiokamera zu schwitzen begonnen hat.

Nicht was man sagt, hat Vorrang, sondern wie man es sagt, nicht was man vorhat, sondern wie es rüberkommt. Ansage geht vor Aussage. Natürlich soll hier nicht ein hehrer politischer Inhalt gegen eine hinterhältige Form rehabilitiert werden, doch typisch ist dieses Versickern des Inhalts in einer bestimmten Form. Form und Inhalt tauschen Plätze. Das Verhältnis hat sich umgekehrt. Nicht Politik macht Reklame, sondern Reklame macht Politik. Die Autonomie der Politik gegenüber der Kulturindustrie ist kaum noch gegeben. Ihre Funktionsweisen sind identisch.

Mediale Einwände äußern sich zusehends weniger an Vorhaben, Konzepten oder gar Programmatiken als an den Verkaufsleistungen der Politiker. Werbung wird daher nicht prinzipiell kritisiert, sondern nur taktisch bekrittelt. Anmache selbst ist sakrosankt genauso wie die Behauptung, dass das Publikum eigentlich mündig sei. Ein Irrtum führt in den nächsten, aber solange fast alle an dieses schräge Gedankengebäude glauben, fällt das als Problem nicht auf. Wahlkämpfe werden zunehmend zu einem Flächenbombardement auf den menschlichen Geist.

Zu konstatieren ist auch eine Rasanz der Politik, sowohl was Ansagen als auch was Bezichtigungen betrifft. Nicht nur, dass schneller geschossen als gedacht wird, ist der Fall, es wird auch rascher vergessen als angenommen. Die Ablaufzeit der Eindrücke verkürzt sich. Die Meldung von gestern kennt morgen schon niemand mehr, was aber nicht heißt, dass sie im Augenblick ihres Erscheinens nicht doch Spuren in den Gemütern und Haltungen hinterlassen hat.

Auch wenn sich substanziell wenig tut, reell herrscht höchste Betriebsamkeit. Die Dynamik des politischen Spektakels ist weder von ihren Akteuren noch vom Publikum her reflektierbar und auch immer weniger beherrschbar. Veränderungen verlaufen schneller als das Bewusstsein folgen kann. Es kommt nicht mehr mit, es ist einfach zu langsam. Und wenn, dann gilt es sich flott das Wissen anzueignen, wie etwas funktioniert; zu fragen, was dieses etwas ist, das wäre wahrlich ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Den Großteil unserer Zeit opfern wir alltagspraktischen Anpassungen. Ob es möchte, fragt das freie Individuum niemand, es muss. Und es tut.

Es ist eine Konkurrenz der medialen Reize, die in ihrem Ensemble für das Wahlergebnis ausschlaggebend sein dürften, obgleich gerade diese Momente in ein paar Wochen schon wieder verflogen, weil ersetzt worden sind. Das Wahlverhalten orientiert sich immer mehr an Nichtigkeiten. Die obligaten Fernsehduelle etwa gleichen einem Jahrmarkt für die Phrasen der Verbalschläger. Dass Strache (FPÖ) nicht nur Faymann (SPÖ) ankübelt, sondern der auch kräftig zurückpöbelt, mögen jene für einen Fortschritt halten, die den Schlagabtausch als die Königsdisziplin der politischen Debatte betrachten. Im Prinzip zeigt es nur an, wie sehr sich der Populismus aller politischer Felder bemächtigt. Im ORF sitzen dann ein Politikwissenschafter und eine Motivforscherin, die dem Publikum erklären, wie das Match ausgegangen ist. Es ist wie in den Hitparaden.

Dumm statt dümmer

Parteien sind Unternehmen mit dem Ziel der Wählerstimmenmaximierung. Dazu ist jedes Mittel recht. Die dümmsten sind dabei oft die besten. Wahlkämpfe sind „Zeiten der Volksverdummung – und ich weiß, wovon ich spreche“, sagt der ehemalige Wahlkampfmanager und Landesrat der steirischen Volkspartei, Gerhard Hirschmann. Die einstige Zukunftshoffnung der ÖVP ist inzwischen zum Zyniker geworden, was aber nicht heißt, dass er unrecht hat. Freilich sollte man sich dann doch fragen, wie die Mentalitäten einer Gesellschaft beschaffen sind, wo solcherlei reingeht und den Ausschlag gibt.

Zweifellos, der Wahlkampf gleicht einer Hochzeit der Schwachsinnigkeiten. Wir werden regelrecht zugemüllt. Infotainment ist nichts anderes als Sondermüll für die Köpfe. Wir sind Gefangene in den Irrgärten der Public Relations. Dass Wähler in Wahlkämpfen für dumm verkauft werden, ist so. Nur, werden sie für dümmer verkauft als sie sind? Wohl kaum. Man wird das bescheidene Gefühl nicht los, dass hier welche genau das serviert bekommen, was sie brauchen, auch wenn es ihnen nachher wiederum nicht geschmeckt haben will. Die Aufgabe erfolgreicher Kampagnen besteht dezidiert darin, die Leute für dumm zu verkaufen, aber eben nicht für dümmer als sie sind.

Narkotisierungen, die fehlschlagen, sind tunlichst zu vermeiden, sie wirken wie Schläge auf den Kopf, die aber als solche wahrgenommen werden. Versprechen muss man geschickt benennen und intelligent brechen, nicht so wie Alfred Gusenbauer, der seine Umfaller nicht kaschieren konnte und sich so durch seine Kompromisse kompromittierte. Die Leute wollen ja getäuscht, aber nicht offen belogen werden. Prinzipiell gilt in der Politik dasselbe wie in der Werbung: Eine Lüge ist nur schlecht, wenn sie schlecht ist. Kluge Politik versteht das, was wiederum einiges über die Politik insgesamt aussagt.

Und die Politiker haben diesbezüglich durchaus ihre Fähigkeiten entwickelt, sie intervenieren und intrigieren, taktieren und tricksen, fast alle halten einiges aus, nicht wenige sind schlau und manche sogar schlagfertig. Der aktuelle Typus des Spitzenpolitikers verfügt schon über einen dicken Panzer, um Attacken und Übergriffe zu überstehen. Im Gegensatz zu den Business-Kapitänen, sind die Politiker stets der Öffentlichkeit ausgesetzt. Die Gefahr zur Schnecke gemacht zu werden, ist omnipräsent, und den Opponenten in Politik und Medium geht es um nichts anderes als darum. Was Politiker sich ausrichten oder ausrichten lassen, ist für das Publikum gedacht, weniger für den jeweiligen Adressaten bestimmt. Die Kehrseite der Verunglimpfung ist die Verhaberung. Man klopft sich gegenseitig auf die Schulter und sagt: Nimm’s nicht persönlich, Arschloch!

Ein Problem indes haben die meisten Politiker nicht (mehr), nämlich dass sie zu intelligent sein könnten. Was übrigens keine Frage der ursprünglichen Disposition ist, sondern eine der permanenten Präsentation. Denn eigentlich wissen viele politische Frontkämpfer (die Offiziere mehr als das Fußvolk) vom Elend ihres Treibens, aber verdrängen es erfolgreich. Politiker müssen sich so lange blöd stellen, bis sie wirklich so blöd sind wie sie sich stellen. Politik idiotifiziert.

Last-minute-acts

Niemand kann sich seiner Wähler sicher sein. Diese sind inzwischen zu einer leicht verschiebbaren Masse geworden, die aber jedes Mal aufs Neue gewonnen werden muss. Auch das quantitative Verhältnis von Stammwählern, Wechselwählern und Nichtwählern hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Die Wahlentscheidung ist eine flexible, ja manchmal gar eine rein augenblickliche, denken wir nur an die Zunahme der Last-minute-Wähler, d. h. von Leuten, die sich erst direkt in der Wahlzelle entscheiden.

Wähler sind Kunden, nicht Akteure. Ihre Stimmen sind zum Abgeben da. Abhängig von diversen Beeindruckungen, geben sie mal diesem, mal jenem, mal keinem den Vorzug. Was für den Markt der Kauf, ist für die Politik die Wahl. Wahlakt ist Zahlakt: Die Stimmabgabe entspricht der Begleichung einer Rechnung. Stimmen werden nicht erhoben, sondern abgegeben, und sodann gezählt. Politik muss, um sich zu legitimieren, alles daran setzen, dass die Wahlbeteiligung hoch ist. Daher werden die Politikverdrossenen auch umworben und gelegentlich gescholten. Aber deren Zahl ist wachsend und zwar aus gutem Grund.

Stammwähler sind eine aussterbende Spezies. War früher das Wahlverhalten großteils von Interessen geprägt, fühlte man sich einer Weltanschauung verpflichtet, gar einer Klasse oder einem Stand zugehörig, so ist das heute nur noch in Ausnahmefällen so. Derlei gehört immer mehr zur Folklore einer Herkunft, zu einem wohligen Duft der Vergangenheit, den man gelegentlich braucht. Im Prinzip ist dieses Aroma nur noch in kleinsten Dosen einsetzbar. Es verleiht die Würze einer Identität, die längst abhanden gekommen ist, auch oder gerade wenn sie wieder einmal beschworen wird. Zu viel Stallgeruch verscheucht Wähler.

Als Problem kommt allerdings dazu, dass gerade diese schrumpfenden Bastionen für die Mobilisierung noch immer wichtig sind, weniger wegen der Stimmen, die sie bringen, als aufgrund der imposanten Selbstversicherung, die sie auf und durch Parteiveranstaltungen erwecken. Die Motivation der eigenen Kerntruppen ist nach wie vor eine Bedingung, Wahlkämpfe durchzustehen. Die aktuelle Mobilisierung der SPÖ ist eher eine Reaktion auf die Unzumutbarkeiten des Koalitionspartners, als dass sie eigenen Anstrengungen geschuldet wäre.

Aufgabe der Wahlkampagne ist es, Wähler richtig zu terminisieren. Das ist eine heikle Angelegenheit, darf man doch nicht zu früh und noch weniger zu spät kommen. Die frischesten Eindrücke sind dabei die wichtigsten, aber sie brauchen auch eine gewisse Zeit, um sich setzen zu können. Wahlen werden zusehends von Unentschlossenen in last-minute-acts entschieden. Das sind Wähler, die zwar beim Eintritt ins Wahllokal noch nicht wissen, wen sie wählen, sich aber beim Rausgehen wundern oder vielleicht sogar ärgern, wen sie gewählt haben. „Wen willst du eigentlich wählen? „, wird immer mehr zu einer geflügelten Frage, auf die man jedoch keine seriöse Antwort erwartet. Auch ich kann nicht mehr sagen, wen ich und warum in den letzten Jahren gewählt habe, eher noch warum ich jemanden nicht gewählt habe. Dies ist nicht Verdrängung, es ist einfach zu unbequem, die Erinnerung damit zu belasten.

Freitag, 26.9.08