Fortschritt

Streifzüge 58/2013

von Roger Behrens

Die vollends zur Ideologie geronnene Idee des Fortschritts hat in jener Phase des bürgerlichen Zeitalters ihren Ursprung, in der es dem Bürgertum selbst noch möglich schien, das historische Projekt einer universalen Humanisierung der Welt in seiner Fassung – eben der bürgerlichen – realisieren zu können. Der Begriff des Fortschritts bezieht sich dabei auf ein Modell von Geschichte, die insofern modern verstanden wird, als dass sie in einem kontinuierlich die Gegenwart aktualisierenden Bewusstsein auf die Zukunft hinsteuert: Die Vergangenheit zählt nur im geschichtslogisch erkannten Verhältnis zur fortschreitenden Gegenwart, in der sich das zukünftige Ziel der Geschichte immer mehr ankündigt. In der Geschichtsphilosophie Hegels wird das als Teleologie dargestellt: eine historische Zielrichtung, nach welcher – in dialektischen Sprüngen – die Gesellschaft notwendig, weil logisch, orientiert ist. Insofern war das bürgerliche Zeitalter revolutionär: weil in der revolutionären Idee des Fortschritts die radikale Weltveränderung zugleich mit der Erneuerung verbunden wurde. Anders gesagt: Historischer Fortschritt ist jene Veränderung, bei der in der Geschichte etwas Neues eintritt.

Mit Marx wird das Neue im Geschichtsbegriff selbst progressiv durch die materialistische Aufhebung der idealistischen Philosophie eingeschrieben: die Revolution wird zur wirklichen Bewegung, zur Praxis, der gegenüber alle bisherige Geschichte, weil sie eben nicht wirkliche Bewegung ist, als Vorgeschichte erkennbar wird; und das Neue ist dann die Geschichte selbst. Sie ist nicht nur Kommunismus, weil der Mensch sie selbst bewusst und selbstbewusst macht, sondern weil mit ihr und durch sie der Mensch überhaupt erst als Mensch hervortritt. Marx‘ historischer Materialismus zeigt indes aber auch, weshalb die bürgerliche Gesellschaft aus sich heraus diesen realen Humanismus weder verwirklichen noch aufheben kann: weil nach einfacher materialistischer Einsicht die Welt eben nicht von guten Ideen abhängt, sondern von den schlechten Verhältnissen; und in diesen ist der Fortschritt von Anfang an gebrochen, nämlich bloß die Durchsetzung der Kapitallogik, nach der Fortschritt tatsächlich nur noch als Idee erkennbar beziehungsweise schließlich als Ideologie zu behaupten ist.

Die bürgerliche Gesellschaft, die schon im neunzehnten Jahrhundert ideologisch an ihrer eigenen Idee des Fortschritts scheitert (weil diese im fortschreitenden Kapitalismus gar nicht realisiert werden kann, wenngleich sich aber umgekehrt ohne Weiteres der Kapitalismus mit der Fortschrittsidee legitimieren lässt), versucht den gesamten Komplex der Ideen und Ideale des bürgerlichen Humanismus vor der Wirklichkeit zu retten: in einer von dieser Wirklichkeit abgehobenen Sphäre der Kultur – in einem Idealreich, in dem die bürgerlichen Werte samt ihrer revolutionären Radikalität ein Asyl finden. Der gesellschaftliche Fortschritt wird derart entmenschlicht auf den technischen Fortschritt reduziert, während die fortschreitende Humanisierung zur Idee und zum Ideal der Kultur und der Künste erhoben wird. Die progressiv-revolutionäre Kategorie des Neuen wird entweder verdinglicht zum Etikett für technische Errungenschaften des Kapitalismus, oder ästhetisiert zum Gütesiegel in den Künsten. Das spiegelt sich drastisch in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und dazu gehört, dass in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Idee des Fortschritts keineswegs durch den Vernichtungsterror desavouiert ist; nur die avancierten Künste, denen das Progressive ohnehin ideologisch verdächtig war, weshalb sie es als Avantgarde überholen wollten, reflektierten auf die Kapitulation des ästhetischen Materials. Nach Fünfundvierzig erfuhr der Fortschritt seine futurologische Wiederbelebung, die Moderne überhaupt eine Renaissance: „This is Tomorrow“ hieß 1956 eine Londoner Kunstausstellung, nach der sich der Begriff „Pop“ etablierte; und mit „Roll over Beethoven“ wurde zur selben Zeit der neue Takt historischer Zeit vorgegeben: Rock ’n‘ Roll. Maßstab des Fortschritts war nun endgültig die technologische Rationalität; Fortschritt selbst ein terminus technicus, der nicht nur von der Gesellschaft abgelöst wurde, sondern auch von der Geschichte: Begriffe wie Revolution oder „das Neue“ haben seither ideologisch nur noch eine ästhetisch-technische Bedeutung. Fortschritt wurde von jeder Teleologie abgelöst und stattdessen zum Rhythmus der Mode. Wenn Walter Benjamin einmal notierte, die Mode ist die ewige Wiederkehr des Neuen, dann bezeichnet das exakt diesen progressiven Rhythmus der Epoche, der sich kulturell im Pop manifestiert. Es kommt nicht von ungefähr, dass im Namen dieses Fortschritts zwei Begriffe gleichzeitig entstehen, nämlich der Modernismus und die Postmoderne.

Das sind die Parameter, die zu berücksichtigen sind, wenn man erklären möchte, wieso Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre von der Entwicklung der avancierten Kunst völlig isoliert und ohnehin auch theoretisch-begrifflich gänzlich unbeholfen auf einmal wieder vom Fortschritt die Rede war, nämlich von „Progressive Rock Music“, oder kurz „Progrock“. Fortschrittlich sollte diese Musik gegenüber solcher Musik sein, die sich angeblich gar nicht bewegt; und das hieß, dass man sich Gedanken über den historischen Stellenwert der musikalischen Produktion machte – in einer Zeit, in der auch die musikalische Produktion schon der Geschichte enthoben war. Fortschritt wurde identifiziert mit „künstlerisch wertvoll“ – gelegentlich wurden die Begriffe Progrock und Art-Rock auch synonym benutzt -, hatte aber mit dem, was sich aktuell in der Gegenwartskunst vollzog, fast nichts zu tun: Zeitlich war die Idee des Fortschritts nämlich nicht auf die Zukunft orientiert, sondern auf die Vergangenheit: „Living in the Past“ (Jethro Tull, 1972). Fortschrittlich am Progrock war paradox der regressive Rückbezug auf Derivate ästhetischer Formen der Kunst- und Bildungsmusik jener Epoche, wo das Bürgertum noch affirmativ den Fortschritt verteidigte. Diese Idee des Fortschritts konnte aber auch deshalb um Neunzehnhundertsiebzig von Bands wie Yes oder Genesis proklamiert werden, weil das Kollektivbewusstsein selbst noch dieser Ideologie des Fortschritts verhaftet war – was etwa darin seinen Ausdruck findet, dass noch heute bürgerliche Kunstmusik pauschal als “ Klassik“ bezeichnet wird. Und „progressive“ war dann häufig nicht mehr als das Zitieren klassischer Musik, inhaltlich und formal, durch Floskeln oder in Formaten wie der Rock-Oper oder der Rock-Suite; adaptiert wurden kompositorische Elemente und Instrumente der großen sinfonischen Musik der Romantik; Klanggewalt und Illusionismus waren entscheidende Effekte des Progrock, die nur durch den Einsatz von fortgeschrittener Technik präsentiert werden konnten – allerdings zählte hier der technische Fortschritt nur in Hinblick auf eine mittlerweile ebenfalls antiquierte, regressive Ästhetik der Virtuosität, das heißt spieltechnische Beherrschung der Instrumentaltechnik. Der Progrock kulminierte im Kitsch, die von ihm musikalisch umgesetzte Idee des Fortschritts indes in einer kruden Mythologie: Rick Wakeman, Keyboarder der Gruppe Yes, trat als Magier und Lichtgestalt im silbernen Umhang auf die Bühne und regierte als „Tastengott“ eine ganze Burg an Instrumenten, vom Moog-Synthesizer über die Hammond-Orgel bis zum Mellotron. Bezeichnend ist, dass alles, was Wakeman jenseits seiner Fingerfertigkeit zu bieten hatte, von der technologischen Entwicklung der Instrumente selbst eingeholt wurde: Wofür um Neunzehnhundertsiebzig noch Können nötig war, reicht heute ein Knopfdruck (das betrifft auch die kurzen Passagen, wo bei Yes wirklich Fortschritt anklingt, etwa bei dem durch riesige Tonbandschleifen erzeugten Vogelgezwitscher zum Beginn und zum Schluss von „Close to the Edge“: heute ist das ein Preset-Sound in der sogenannten General-Midi-Datenbank, über die jedes Keyboard verfügt – und auch Yes benutzen natürlich dafür bei Konzerten schon seit Jahren einen Sampler).

Nur für einen kurzen Augenblick schafften es Bands wie Emerson, Lake & Palmer, Pink Floyd, Gentle Giant, selbst Soft Machine modern im Sinne der Mode zu sein – weil das, was sie an progressivem Material zu bieten hatten, eben nur für einen kurzen Augenblick neu war. Genau in dem Moment, wo jedoch dieses Konzept auf den Begriff der „Progressive Rock Music“ fixiert wurde, regredierte der Progrock zur Unmode, wurde lächerlich und gerade in seinem zwanghaften Wunsch, „gute Musik“ sein zu wollen, bloß „schlechte Kunst“, banal und zeitlos: die ewige Wiederkehr des Alten. Mithin blieb Fortschritt eine rein ästhetische, ja ästhetizistische Kategorie, die gerade in der esoterischen wie unreflektierten Wiederholung eines l’art pour l’art alles andere als progressiv war; Progrock folgte damit einem falschen Formalismus, mit dem der Inhalt annulliert und die Form als Inhalt verwechselt wurde: Musik sollte um ihrer selbst willen legitimiert werden – als Kunst, der jede Relation zur Gesellschaft Anathema bleibt. Damit ist allerdings der Progrock schon in seinem Ursprung von jeder ernst zu nehmenden Debatte um das Problem des Fortschritts abgeschnitten: Nicht nur der allgemeine Bezug zur Geschichte fehlt, sondern auch jede Berührung mit einer Realität, die Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger auch die Kunst und die Künste mit ganz anderen Fragen konfrontierte als eben der, wie sich Rockmusik selbst aufwerten und gegen den Verdacht behaupten kann, bloß Schund zu sein: Aber auch auf diese, einem regressiven Kulturpessimismus entspringende Diskussion – „Ist Rockmusik Verdummung, Teufelswerk und Sittenverfall oder einfach nur schäbige Unterhaltung einer orientierungslosen Jugend? “ – sich eingelassen zu haben, führte schon im Ansatz die Idee des Fortschritts, wie der Progrock sie verteidigte, ad absurdum. Bemerkenswerterweise gelang dann auch nur denjenigen Bands eine progressive Entwicklung von Musik und Material, die offensiv das ästhetische Legitimationsproblem ignorierten und sich zur Gesellschaft kontextualisierten: Das unterscheidet etwa „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ der Beatles (1967) von Progrock-Konzeptalben von Yes oder Genesis und anderen.

Nachgerade ironisch ist es zudem, dass sich neben dem Progrock eine progressive Popmusik entfaltete, die gleichsam affirmativ sich auf die technischen Möglichkeiten, aber auch die ökonomischen Anforderungen an die Kunst konzentrierte: Während der Progrock mit allen Mitteln der längst obsoleten bürgerlichen Ästhetik sich als bürgerliche Kunst behaupten wollte (und damit dem Bürgertum kulturell einen Bärendienst erwies), operierte die Popmusik vom Jazz aus, über Soul, über Disco, schließlich bis zum Punk explizit modern, aber antibürgerlich – zumindest im Umgang mit dem ästhetischen Material: Fortschritt ist hier, dass die Ideologie des Fortschritts selbst infrage gestellt wurde; Fortschritt ist hier die destruktive Kraft, mit der den herrschenden Verhältnissen ihre eigene Melodie vorgesungen wurde: Fortschritt nicht als verkappter Rückschritt, sondern als nihilistischer Angriff auf die bestehende Ordnung – „No Future“ hieß das im Punk, und zwar gerade, weil es um die Definition der Zukunft ging beziehungsweise um die Gewissheit, dass die gegenwärtige Gesellschaft keine Zukunft hat, aber eben auch Erbe der Vergangenheit da ist, nach dem die Zukunft gestaltet werden könnte. Neu konnte einzig die radikale Ablehnung des Alten sein.

Die Entwicklung des Progrock ist dem diametral entgegengesetzt: Ende der Siebziger rekonstituierte sich diese Musik als Neoprog, behauptete also einen „neuen Fortschritt“, der allerdings faktisch eine nochmalige Wiederholung der alten Regression war: Bands wie Marillion oder IQ versuchten an frühe Yes und Genesis anzuschließen, während diese Bands erstmalig vom Erfolg des progressiven Mainstreams profitierten, von dem sie mitgerissen wurden: bei Yes war das die Zusammenarbeit mit Trevor Horn und das allein schon im Titel postmodernistische Album „90125“ mit dem Hit „Owner of a Lonely Heart“ (1983). Damit war Progrock das erste Mal Pop.

Aber wieder spalteten sich im Verlauf der achtziger Jahre die Linien, bis in den Neunzigern schließlich das Wort Progrock vollends zur abgeschmackten Warenmarke wird. Bezeichnend ist dabei, dass ausnahmslos alle Bands, die für sich das Label „Prog“ bemühten und reklamierten, an den frühen Sound der „Progressive Rock Music“ anzuschließen, kaum einen einzigen Ton so zu spielen vermochten wie dereinst die Vorreiter. Selbst Yes und Genesis gelang das nicht. Stattdessen kamen aus ganz anderen Ecken Bands, in deren Musik plötzlich wieder eine Idee von Fortschritt zu hören war: und zwar Fortschritt wieder als wirkliche Bewegung auf das gemeinsam menschlich gesetzte Ziel des realen Humanismus – im Sinne einer ästhetischen Dimension, glücklicherweise nicht als Politik: Wir reden immerhin über den Fortschritt in der Kunst!


Beispiele

Guapo, „Five Suns“ (2004); Jimi Tenor, „ReComposed“ (2006); Radiohead, „In Rainbows“ (2007); Vic Chesnutt, „North Star Deserter“ (2007); Justice, „+“ (2007); Theo Parrish, „Sound Sculptures Volume 1“ (2007); The Pineapple Thief, „Tightly Unwound“ (2008); Motorpsycho, „Little Lucid Moments“ (2008)

aus: Streifzüge 44/2008