Demokratieversessen

Über einige neue Gebetsbücher der Demokratie

Streifzüge 44/2008

von Franz Schandl

Dass mit der Demokratie etwas nicht stimmt, ist heute Konsens, dass sie jedoch das stimmige Konzept für alle Zukunft sei, ebenfalls. Prinzipielle Kritik an der Demokratie ist nicht erlaubt. Gerade deswegen findet sie sich in diesem Organ so oft. Diesmal demonstrieren wir unsere Kritik an drei aktuellen Publikationen, die zwar sehr unterschiedlich sind, aber doch ein Bekenntnis eint.

Originelles suchen wir in den aktuellen Debatten vergebens. Will einer mal besonders amüsant sein wie Florian Felix Weyh, geht das meistens völlig schief (vgl. Streifzüge 41, S. 40-41). Im Regelfall sind unsere Publizisten emsig und bieder wie der englische New-Labour-Ideologe Anthony Giddens (vgl. krisis 23, S. 150-154), bei dem man sich fragt, wie er jemals in den Ruf gekommen ist, ein renommierter Theoretiker zu sein. Giddens ist nicht einmal ein Blender, er ist bloß langweilig. Er hat nichts zu sagen und er sagt es nicht einmal geschickt.

Aber möglicherweise ist es so, dass Sozialwissenschaft ein selbstreferenzielles Spiel darstellt, das nur sich selbst und seinen akademischen Teilnehmern verpflichtet ist. Auch auf dem theoretischen Gebiet hat solch eine „scientific community“ eine riesige wissenschaftliche Blase gebildet, wo freilich von außen und wahrscheinlich noch weniger von innen her kaum jemand zu unterscheiden vermag, was denn da überhaupt Gehalt hat und was Luft ist. Ist eins irgendwo Prof, hat eins gar in Harvard oder Cambridge unterrichtet und dann noch bei Suhrkamp publiziert, muss das doch ein Kapazunder sein – und die Kritiker lediglich Neider und Nörgler.

Postanalytisch

Ähnliches gilt für Colin Crouch. Auch wenn sein Band sympathisch schmal ist, hat der in Warwick „Governance and Public Management“ Lehrende ein geschwätziges Buch veröffentlicht. Da wird immer um den Brei herumgeredet, nur selten kommt da einer auf den Punkt. Die Konturen verschwimmen, nichts prägt sich ein, kaum etwas bleibt hängen. Posttheorie ist postanalytisch. Sie gleicht einer Gallerte. Was lese ich da gerade? , frage ich mich des Öfteren und lese anderswo, dass es sich hier um ein Standardwerk politischer Theorie handelt. Sprachlos macht das nicht, eher sprachwütig. In der Politik geht es um das Verkaufen markttauglicher Markenprodukte, um die „perfekte Präsentation“ (S. 130), behauptet Crouch. In der Wissenschaft ist das wohl nicht anders.

„Auf Werbung kann man nicht antworten“, schreibt der Autor. „Ihr Ziel ist es nicht, jemanden in eine Diskussion zu verwickeln, sondern ihn zum Kauf zu überreden.“ (S. 38) Richtig, nur dann sollte man sofort weiterdenken und könnte entdecken, dass Werbung als Kommunikation eindimensional funktioniert, nur eine Richtung kennt, sich gar keine Fragen stellen lassen will, weil sie alle Antworten schlagfertig parat hält. Die Debatte ist ihre Sache nicht, sondern das Dekret. Reklame ist auch dazu da, jedes Registrieren auf einen Reflex zu minimieren, Denken als Reflexion gar nicht erst zuzulassen. Wenn sich Politik auf Sager, also „sound bites“ (S. 36) reduziert, dann ist genau dieser Zustand erreicht. Es ist schon richtig, dass der Politik das Selbstvertrauen abhanden gekommen ist (S. 57), nur was ist da weswegen abhanden gekommen? Und ist es irgendwo hingekommen oder ist es einfach untergegangen? So weit dringt Crouch nie vor.

Mit „Postdemokratie“ bezeichnet Colin Crouch „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (S. 10)

Die Vorsilbe „post“ indes ist heikel. Auch wenn man ihr nicht ganz entgehen kann, verweist sie stets auf ein analytisches Defizit, das sich darin ausdrückt, keine aussagekräftigen Begriffe zu finden, und diese daher durch eine zeitliche Bestimmung ersetzt. Das ist nicht falsch, aber es ist ziemlich dürftig. Crouch steht wie viele andere Autoren für dürftige Theorie in bedürftigen Zeiten.

Demokrat, der er ist, beschreibt er die Leute ausschließlich auf der Interessensebene ihrer Charaktermasken. Subjektkritik ist seine Sache nicht. Da haben Freiberufler und Manager dann gute Gründe „sich mit den politischen Interessen des Kapitals zu identifizieren“ (S. 78). Doch wer sagt, dass sie in ihrer Rolle aufgehen? Nicht selten mögen sie gar nicht, was sie tun. Ich kenne unzählige Freiberufler, ja sogar einige Manager, die sich alles andere als mit dem Kapital identifizieren. Und selbst viele, die es tun, empfinden es eher als Unterwerfung denn als Selbstbestimmung.

Böse Unternehmen

Da ist viel abgeschmackte Litanei: Der Markt darf zwar „keinen Zweck an sich“ (S. 108) darstellen, aber der Zweck für sich ist schon in Ordnung, denn „ganz offensichtlich wären Kaufleute nicht bereit, Läden aufzumachen, wenn wir die Kassen und die Prozedur, Ware gegen Geld zu tauschen, nicht akzeptieren würden“. (S. 110) Als Warenhändler zweifellos nicht, denn als solche definieren sie sich über ihre Geschäfte. Aber wozu benötigt man Kauf und Geschäft? Für den gesellschaftlichen Stoffwechsel oder für den Geldkreislauf? Die Frage stellt sich doch anders: Würden wir Mehl und Stiefel nicht nehmen, wenn sie nichts kosten? Und würden die Produzenten sie behalten, wenn sie kein Geld dafür bekämen?

Abwegige Gedanken sind des Autors Stärke nicht, im Gegenteil, er ist geradezu beseelt von einer alten Idee: „Ich habe in diesem Buch zu zeigen versucht, dass die wichtigste Ursache für den Niedergang der Demokratie heute in dem Ungleichgewicht zwischen der Rolle der Interessen der Unternehmen und denen aller übrigen Gruppen der Gesellschaft besteht.“ (S. 133) Das Problem ist ihm also die Überwertigkeit der Unternehmer, nicht die Strukturierung der Gesellschaft nach Wert und Arbeit, Tausch und Profit.

Unternehmer und Manager haben zu viel Macht, ja Crouch sieht sogar eine „postdemokratische Verschwörung“ (S. 141). Daher: Lasset uns „reglementieren“ (S. 139)! Doch nicht Behörden und private Beratungsfirmen sollen das machen, sondern – dreimal darf man raten – die aktiven und interessierten Bürger sollen ran. „Wir müssen daher diese beiden auf den ersten Blick unvereinbaren Formen des politischen Engagements – soziale Bewegungen und Parteien – miteinander kombinieren.“ (S. 142) GO und NGO schlagen Unternehmer k. o. Zweifellos, solcherlei bahnbrechende Erkenntnis ist in den letzten hundert Jahren tatsächlich niemandem eingefallen. Das ist so originell wie ein abgetragener Socken in der Schmutzwäsche.

Was ein echter Sozialdemokrat ist, der bezweifelt natürlich nicht, dass jemand schuld sein muss. Aber eben nicht die Immigranten, auch nicht die Politiker und Beamten, sondern die großen Unternehmen, die seien die „wahre Ursache dieser Probleme“. (S. 151) Wahrlich, es ist ein Abgesang: „Für frühere Generationen radikaler politischer Denker wäre diese Aussage der Anlass gewesen, die Abschaffung des Kapitalismus zu fordern. Diese Option steht heute nicht länger offen“ (S. 133), resümiert ein Autor, der seine Illusionslosigkeit mit einer Perspektive verwechselt. Der Kapitalismus muss hingegen gefesselt werden, das ist die sexuelle Phantasie, die alle reformistischen Sadisten aus- und erleben wollen. Utensilien werden bereits gesucht. „Daher muss es darum gehen, Instrumente zu finden, die die Dynamik und den Unternehmensgeist des Kapitalismus bewahren und zugleich die Firmen und ihre Spitzenmanager daran hindern, in einem Ausmaß politische Macht auszuüben, das nicht mit demokratischen Prinzipien vereinbar ist.“ (S. 134)

Einmal mehr soll die Politik den Markt vor seinen Konsequenzen retten. Es ist ein Aufruf, ja ein Gebet, doch die alten sozialdemokratisch-keynesianischen Strukturen wieder herzustellen. Alles läuft auf die grandiose Banalität hinaus, dass da eine falsche Politik gemacht wird. Seichtester Sozialdemokratismus inszeniert sich als Alternative zum Neoliberalismus. Man ist bei der Lektüre nicht nur ungeduldig, man wird zusehends unlustig. Muss man Colin Crouch gelesen haben? – Nein, diese Rezension reicht.

Ontologische Fallen

Die Frage, ob die Menschen von Natur aus Freunde oder Feinde sind (S. 32), ist als Entscheidungsfrage eine falsch gestellte. Zu fragen wäre vielmehr, welche Bedingungen welche Dispositive begünstigen oder gar schaffen. Die Frage nach der Natur des Menschen ist kein zielführende. Sie will etwas finden, wo es nichts zu suchen gibt. Von einer Naturalisierung der Verhältnisse sprechen wir, wenn etwa Krieg, Geld, Tausch, Politik oder eben auch Demokratie als apriorische Bestimmungen des Menschseins angegeben werden. Wenn das, was sich gesellschaftlich konstituiert, als natürlich begriffen wird, das Gesetzte als Vorausgesetztes auftritt.

„Meistens zehrt die Plausibilität entsprechender Modelle von den Verhaltensweisen, die Menschen gegenwärtig zum Ausdruck bringen und die Rückschlüsse auf die allgemeinen menschlichen Charaktereigenschaften nahelegen“ (S. 32), schreibt auch Emanuel Richter, Professor für Politikwissenschaft in Aachen, der kein Vertreter einer „Fiktion eines Naturzustandes“ (S. 68) sein will. Umso erstaunlicher, dass er selbst vorsätzlich in die ontologische Falle tappt, indem er schlicht behauptet, dass Demokratie „dem grundlegenden menschlichen Selbstverständnis am ehesten entspricht“ (S. 14), und somit jede Historisierung der Demokratie strikt zurückweist.

Sind jene vordemokratischen Menschen also keine Menschen gewesen? Wahrscheinlich. Schon der auf die Natur verweisende Buchtitel „Wurzeln der Demokratie“ lässt ahnen, dass sie mehr als eine spezifische Kommunikationsform des Gesellschaftlichen sei: „Demokratie ist Bestandteil jener Sozialintegration, die unabkömmlich zum Menschen gehört, sie ist Teil unserer Identität. Demokratie ist also kein beliebiger Mechanismus der politischen Entscheidungsfindung, sondern eine dem Menschen angemessene Form der Selbstkonstituierung in kollektiven Lebenszusammenhängen.“ (S. 16)

Solche Formulierungen wiederholen sich andauernd, Demokratie gerät zur Anrufung, Postulat geht vor Analyse. Während draußen ein dezidierter, wenn auch unartikulierter Abgesang tönt, wird in den akademischen Hallen ein Heldenlied angestimmt. Der Autor kategorisiert Demokratie gar als „unendliches Projekt“ (S. 15). Gleich im Vorwort legt er ein umfassendes Bekenntnis zur „Demokratieversessenheit“ (S. 9) ab, die er ganz prononciert gegen die Demokratieverdrossenheit setzt, wobei er allerdings nicht sagt, worin denn nun diese „wurzelt“. Es geht ihm jedenfalls um die „Stärkung der Demokratie“ (S. 14), die Rekonstruktion derselben (S. 21), nicht deren Dekonstruktion ist seine Sache.

Sein Buch soll eines sein gegen „träge Akzeptanz oder ignorante Apathie“. Wichtig und notwendig sei eine aktive Bürgerschaft (S. 245 f. ). Demokratie hat in dieser Vorstellung nicht eine bloß teleologische Komponente, sie ist vielmehr Essenz des menschlichen Wesens, Richter spricht gar von einer „anthropologischen Verankerung“ (S. 15). Unter solchen Voraussetzungen wird jede grundsätzliche Kritik an der Demokratie nicht nur schwierig, sie wird unmöglich, ist gleichbedeutend mit einer Kritik der Verdauung.

Kaprizierte Blicke

Entscheidungen statt Lebensumstände sollen das Leben prägen (S. 78): „Durch diese Wahlfreiheit wird das Individuum zugleich potenziell zu einem Akteur demokratischer Prozesse“ (S. 88), schreibt der Autor. Nur, ist dem so? Ist es mit der viel gelobten Autonomie wirklich so weit her? Ist diese Freiheit nicht (frei nach Hegel) allzu oft bloß Einsicht in die Notwendigkeit? Wäre es nicht naheliegend, sich insbesondere den Charakter unserer Möglichkeiten näher anzusehen? Nicht nur Mangel und Einschränkung der Freiheit sind zu betrachten, sondern auch deren spezifische Qualität. Denn wo oder was sind Freiheit und Demokratie in Büro oder Fabrik? Ist es nicht eher so, dass Freiheit und Unfreiheit mehr Identität aufweisen, als sie dürfen, und daher solche Aspekte einfach ausgeblendet werden? Hier herrscht Verdrängung. Auch unser Autor bewegt sich ganz in den konventionellen Bahnen seiner Wissenschaft. Er folgt einem stark kaprizierten Blick.

Es klingt ja sympathisch, wenn „möglichst alle Bürger in die Regelung ihrer demokratischen Belange integriert“ (S. 15) werden sollen. Doch überlegen wir, was das heißt, denn schon die Fragen, die den Bürgern gestellt werden, können nicht demokratisch entschieden werden, sondern sind vorentschiedene Angebote. Es gibt auch keine unendliche Partizipationskapazität, sondern eine begrenzte. Könnte es nicht sein, dass gerade in der Informationsgesellschaft zu viel statt zu wenig kommentiert und diskutiert wird? Und jetzt sage niemand, es kann gar nicht zu wenig debattiert werden. Es ist keine Frage der Quantitäten. Richters diesbezügliche Einwände gegen die elektronische Demokratie sind ja durchaus plausibel. (S. 160 ff. )

Auf jeden Fall ist es ein, wenn auch etwas mühsam zu lesendes, so doch materialreiches Buch. Verblüffend ist aber, dass Richter die inneren Probleme der Demokratie mit großer Akribie behandelt, nicht jedoch ihre äußeren gesellschaftlichen Bedingungen. So fehlt der Zusammenhang von Nationalstaat und Demokratie völlig. Nichts auch zum Verhältnis von Geld und Demokratie. Diese wird eher als Modell (siehe z. B. das Kapitel über „Deliberation“, S. 111 ff. ) denn als Wirklichkeit erörtert. Krisenerscheinungen der Demokratie werden bloß als konjunkturelle oder organisatorische suggeriert, nicht als strukturelle. Dass die Demokratie als Form an ihre Grenzen stößt, wie das etwa Jean-Marie Guéhenno in seinem aufschlussreichen Band „Das Ende der Demokratie“ (1993) beschrieben hat, solchen Erwägungen steht Richter nicht nur fern, er findet sie anscheinend nicht einmal diskussionswürdig. Guéhenno fehlt übrigens auch bei Crouch.

Lokführer der Demokratie

Wer es gerne primitiv hat, ist mit Robert Kagan gut bedient. Kagan zählt zu den bekanntesten US-amerikanischen Neokonservativen, er ist Mitbegründer der Denkfabrik „Project for the New American Century“ (PNAC) und schreibt eine monatliche Kolumne in der „Washington Post“. Der vorliegende Essay ist weder prägnant noch pointiert, ja nicht einmal besonders schrill, aber umso mehr ein lautes Inserat. Die Aufteilung in „Gut“ und „Böse“ setzt den Maßstab und sanktioniert die Abweichung. Was übrig bleibt, ist eine kleine Kampffibel, die allen analytischen Kriterien und Ansprüchen spottet. Es ist ein Band, der sich in demokratischen Beschwörungen und freiheitlichen Stoßgebeten ergeht.

Theoretische Dürftigkeit ist freilich kein Hindernis für überzeugte Dreistigkeit. Im Gegenteil, ohne jene könnte man diese kaum aufbringen. Abgespult wird das alles in einem selbstgefälligen Plauderton: „Bei Nationen, die miteinander Handel trieben, wäre die Gefahr gering, dass sie einander bekämpften“ (S. 12), behauptet er allen Ernstes. Oder Henry Kissinger zitierend: „Der internationale Wettbewerb sei Bestandteil der menschlichen Natur und werde früher oder später wieder ausbrechen.“ (S. 16) Russen als auch Chinesen lebten in anderen Jahrhunderten. (S. 24, 40) Sie sind hintennach, aber da alle Modernisierung sowieso Richtung Liberalismus laufe, ist das nicht so tragisch. Die USA hingegen werden vorgestellt als „Lokomotive an der Spitze der Menschheit“ (S. 13). Und Robert Kagan ist als Berater der gegenwärtigen US-Regierung wohl ein Lokführer derselben.

„Indiens Diplomaten spielen die anderen Großmächte gern gegeneinander aus und erwärmen sich manchmal für Russland, manchmal für China.“ (S. 80) Zweifellos, geht es gegen China, ist man auch mal für Burma, geht es gegen Pakistan, ist man auch für die USA, wie die neuesten Annäherungen zeigen. Indes, machen die das nun, weil sie Inder oder weil sie Diplomaten sind? Und kommt so was in den USA gar nicht vor? Gehören solche Praktiken und Taktiken nicht zum ehernen Rüstzeug jedweder staatlichen Geopolitik? In Kagans „Konzert der Demokratien“ (S. 105) wird vergessen, dass diverse Schurken (Staaten wie Banden) eine durchaus positive Rolle spielen, wenn sie nur als , unsere Schurken‘ verwendbar sind. Und das kann wechseln, siehe Irak, dem daher Folgendes passieren musste: „Der Irak ist vom unversöhnlichen Anti-Amerikanismus unter Saddam Hussein zur Abhängigkeit von den USA übergegangen.“ (S. 98) Nicht anders kann dieser Prozess von der Erwärmung bis zur Entzündung eines Landes gedeutet werden.

DNA und USA

Aufgetischt wird einmal mehr das alte Märchen, dass der Liberalismus nicht autokratisch sei. Das geht deswegen rein, weil dessen primäre Zwänge derart in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass sie nicht als solche, sondern als unhintergehbar erscheinen. Indes hat bloß Selbstbeherrschung personale Herrschaft als erste Vollzugsinstanz ersetzt, wobei auch Letztere vorhanden ist. Die Marktgesetze reproduzieren sich in den westlichen Metropolen auf hohem Niveau durch die verinnerlichte Selbstläufigkeit menschlichen Handelns. Autokratische Systeme können dieses Niveau nicht halten und müssen es daher durch restriktive Politiken substituieren. Das ist ein Unterschied, aber er ist einer innerhalb des akkordierten Modus globaler Verwertung und Selbstverwertung.

Dass die Welt viel zu komplex ist, um sie in einem kruden Gegensatz Demokratie-Autokratie aufzulösen, dass vielleicht historische Entwicklungen, räumliche Gegebenheiten, politische, kulturelle und vor allem auch wirtschaftliche Verhältnisse als gewichtige Aspekte im Kontext zu berücksichtigen wären, derlei Gedanken will Kagan gar nicht erst zulassen. Die Welt ist für ihn sonnenklar, weil sonnenklar ist, wo er hingehört. Er ist ein schneidiger Offizier der Freiheit, ein entschlossener Propagandist der Demokratie. So legt die Position die Passion fest und jede differenzierte Beurteilung erstickt schon mal vorab im nationalen Interesse. Bevor er das Hirn einschaltet, hat er die Fahne schon geschwenkt.

Die Nation wiederum entwächst bei ihm den natürlichen Regungen, die da wären „Liebe, Hass, Ehrgeiz, Furcht, Ehre, Scham, Patriotismus, Ideologie und Glauben, lauter Dinge, für die Menschen kämpfen und um ihretwillen sie sterben, heute wie in den vergangenen Jahrtausenden“. (S. 80) Und in Ewigkeit, Amen! Die Natur hat es unserem Autor überhaupt angetan. Wo es kein Argument gibt, und das gibt es selten, ist jene stets parat. In einem Artikel für „Die Welt“ vom 28. Oktober 2006 heißt es: „Der Drang der Vereinigten Staaten zur Expansion ist weder neu noch ein Verrat an ihren Idealen. Er ist Teil von Amerikas DNA. Seit der erste Pilger seinen Fuß auf den Kontinent setzte, war Amerika eine expansive Macht.“ Und noch einmal, weil’s so schön ist: „Amerikas Expansionsdrang und sein Hang zur Dominanz sind kein Verrat an unserer wahren Natur – sie sind unsere Natur.“ – Sollte da wirklich nur noch Genmanipulation helfen?


Colin Crouch, Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 160 Seiten, 10 Euro.

Emanuel Richter, Die Wurzeln der Demokratie, Velbrück Wissenschaft, Weilerwist 2008, 342 Seiten, 39,90 Euro.

Robert Kagan, Die Demokratie und ihre Feinde. Wer gestaltet die neue Weltordnung? Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag, München 2008, 128 Seiten, 16,95 Euro.

1. November 2008