Garantie der Notdurft

Ab 2009 soll in Österreich ein gesetzlicher Mindestlohn gelten

von Franz Schandl

Bereits im Regierungsprogramm der Großen Koalition war ein Mindestlohn von monatlich 1000 Euro brutto (ca. 6 Euro Stundenlohn) in Form eines Generalkollektivvertrags angekündigt worden. Dem sind nun die Sozialpartner zuvorgekommen. Gewerkschaft und Bundeswirtschaftskammer haben sich Anfang Juli in einer Grundsatzvereinbarung darauf verständigt, in Etappen bis Januar 2009 einen Mindestlohn zu verwirklichen.

Diese schnelle Einigung hat auch Gründe, die weniger in der Sache liegen als im Eigeninteresse der Interessensvertretungen zu suchen sind. Man möchte sich auf keinen Fall von der Regierung das Tarifrecht streitig machen lassen. Weder Gewerkschaft noch Wirtschaft wollen das. In ihrer Grundsatzvereinbarung weisen sie ausdrücklich darauf hin, „dass ein gesetzlicher Mindestlohn keine Alternative zu der bisher geübten Praxis ist und dass aus ihrer Sicht weiterhin Mindestlöhne zwischen den Sozialpartnern auszuhandeln sind.“ Die nunmehr kooperatistisch verfügte Regelung wird also nicht durch einen Generalkollektivvertrag abgesichert werden. Die Sozialpartner gehen davon aus, dass Branchenkollektivverträge der optimale Weg sind. In dem zitierten Papier heißt es weiter, der Mindestlohn werde sich in der Höhe von der von der Regierung beschlossenen Mindestsicherung (726 Euro) deutlich abheben, gleichzeitig aber die betroffenen Branchen und Bereiche nicht überfordern. Die Spanne zwischen durchschnittlichen Transferzahlungen und den untersten Arbeitseinkommen soll wohl etwas ausgedehnt werden, vor allem auch, um Fluchten in die Arbeitslosigkeit zu verhindern.

Dieses Lebenszeichen aktiver Sozialpartnerschaft war durchaus notwendig. Die österreichische Sozialpartnerschaft ist mehr als ein bloß informelles Instrument, sie ist hierzulande institutionalisiert in der „Paritätischen Kommission für Lohn- und Preisfragen“ (siehe Kasten). Als Nebenregierung ist sie in den letzten Jahren stark ins Gerede gekommen, selbst in den Regierungsparteien sinkt die Sympathie. Ihre einstige Allmacht hat sie eingebüßt, vor allem was den Einfluss auf die Preisbildung betrifft. Die jetzige Abmachung ist der Versuch, wieder Terrain zu gewinnen, insbesondere auch seitens der Gewerkschaften, die durch die Affäre um die ehemals ÖGB-eigene Bank für Arbeit und Wirtschaft (BAWAG) erheblich geschwächt worden sind.

Die vereinbarte Maßnahme bezieht sich freilich nur auf Vollzeitarbeitskräfte. Sie ist also eine Verbesserung für ein spezifisches unteres Kernsegment, die Working-poor-Arbeitskräfte, zum Großteil Frauen. Nicht gewährleistet ist die Einbeziehung der freien Berufe, da sie von der Wirtschaftskammer nicht vertreten werden. Dazu zählen Assistenten bei Zahnärzten oder Rechtsanwälten, freie Programmierer, Callcentermitarbeiter oder Lehrpersonal in der Erwachsenenbildung. Hinsichtlich dieser Berufsgruppen gibt es nur Absichtserklärungen ohne verbindlichen Charakter.

Paritätische Kommission

Die „Paritätische Kommission für Lohn- und Preisfragen“ wurde 1957 ins Leben gerufen. Vorerst nur als befristetes Kooperationsinstrument zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden gedacht entwickelte sie sich zur zentralen Instanz der österreichischen Sozialpartnerschaft. Der Vollversammlung der Paritätischen Kommission gehören der Bundeskanzler, drei Bundesminister, die Präsidenten der vier Interessenvertretungen (Arbeiterkammer, Gewerkschaftsbund, Wirtschaftskammer, Landwirtschaftskammer), ihre Stellvertreter und Beamten an. Stimmberechtigt sind aber nur die vier Interessenorganisationen. Zu den Strukturelementen der Paritätischen Kommission zählen Parität der Interessensverbände, Einstimmigkeit und Nichtöffentlichkeit. Man weiß zwar nicht, wie die Entscheidungen zustande kommen, die dort gefassten Beschlüsse haben aber de facto gesetzgeberische Potenz. Die Paritätische Kommission basiert nicht auf einer gesetzlichen Regelung, sondern auf der freien Übereinkunft der Beteiligten, sie hat sich als fester Bestandteil der österreichischen Realverfassung etabliert.

Nichtintendierte Effekte sind ebenfalls nicht auszuschließen, etwa dass Niedriglöhner gerade aufgrund der Einführung des Mindestlohns diesen nicht bekommen, weil sie ihrer Fulltimejobs verlustig gehen. Dass gerade jene Jobs abgeschafft werden, die aufgewertet werden sollen. Man ist imstande, Unternehmen zu zwingen, 1000 Euro für Vollzeitarbeitsplätze zu zahlen, aber man kann sie nicht zwingen, diese zur Verfügung zu stellen. Man kann jene auch durch andere Beschäftigungsmodelle ersetzen. Schon jetzt sind immer mehr Menschen prekären Arbeitsverhältnissen ausgeliefert, d. h. ein Vollzeitarbeitplatz ist für sie nicht in Reichweite bzw. erlauben es ihre Lebensumstände (z. B. Alleinerziehende) ohnehin nicht, einen solchen anzustreben.

Trotzdem ist gegen die Verankerung des Mindestlohns wenig einzuwenden. In den meisten europäischen Ländern gibt es ihn bereits. Italien, Deutschland und Österreich sind die Nachzügler. Der Mindestlohn ist aber auch ein politischer Gnadenakt, den man nicht unbedingt bejubeln muss. Er gleicht dem Einziehen eines unteren Levels, um zumindest eine magere Existenz zu gewährleisten. Mit einem Mindesteinkommen lässt sich lediglich überleben, aber kaum leben und schon gar nicht gut leben. Er ist Garantie der Notdurft.

Klar müsste auf jeden Fall sein, dass der Markt punkto sozialer Absicherung absolut nicht funktioniert, wenn selbst Vollzeitarbeitskräfte finanziell nicht über die Runden kommen. Wer jedoch an die Segnungen des Marktes glaubt, kann das nicht als Skandal erkennen. Die Politik hat nur erkannt, dass die Leute nicht gänzlich rausfallen dürfen, dass sie weiter am Rand der Gesellschaft stehen, ist ihr kein Problem. Das Vorhaben ist eine Mischung aus restriktiver Fürsorge und paternalistischem Gebot: Schlecht gehen darf es jedem, aber verhungern lassen wir euch nicht!

Aus: „Freitag“, 3. August 2007