Mythos Bildung

Eines darf man in der Unterschichtdebatte nicht vergessen: Auch Bildung schützt nicht mehr vor Arbeitslosigkeit

Kommentar im „Falter“ Nr. 45/06

von Maria Wölflingseder

Dass Arbeitslosigkeit vor allem die Ungebildeten treffe, ist ein hartnäckiger Mythos. Auch Robert Misik schreibt in seinem Kommentar Diagnose: Asozialität (Falter 43) bezüglich der Unterschicht-Debatte in Deutschland: „Bildungspolitik ist das Wichtigste, um die Fatalität der negativen Sozialvererbung zu unterbrechen.“ Sicher gibt es dieses Phänomen, aber auch eine gute Bildung schützt schon lange nicht mehr vor Arbeitslosigkeit. Spätestens seit Barbara Ehrenreichs Buch „qualifiziert und arbeitslos“ sollte dieser Mythos erledigt sein.

Es sind also bei weitem nicht nur – wie Misik meint – die ohne Chancen, die am falschen Ort lebten, in die falsche Schule gingen, die falsche Muttersprache hätten, oder in die falsche Familie hineingeboren wären. Auch für jene, bei denen sehr wohl alles „richtig“ ist, sind die Aussichten oft nicht rosig. – Hier einige Vermutungen, was das Bild von der Unterqualifiziertheit der Chancenlosen, nährt.

Arbeitslose Akademiker sind „unsichtbar“, sie verstecken sich regelrecht. Viele melden sich gar nicht arbeitslos, weil sie sich den Schikanen am AMS nicht aussetzen wollen. Sie leben oft von Erspartem, Geerbtem, einer vermieteten Wohnung oder vom Partner, der noch gut oder halbwegs gut verdient. Gerade unter den Jungakademiker ist zwar die Arbeitslosigkeit sehr hoch, aber diese scheinen in der Statistik immer seltener auf. Um in den Genuss einer Unterstützung zu kommen, müssten sie nämlich erst ein Jahr lang fix angestellt, also arbeitslosenversichert, gearbeitet haben – was immer seltener der Fall ist. Sie könnten sich zwar auch ohne Bezugsberechtigung arbeitslos melden, aber das macht selten jemand. Am AMS erwarten einen ja anstatt Hilfe meist Schikanen: sinnlose Kurse, zweiwöchiges „Stempeln-Gehen“, keine Urlaubsmöglichkeit, nicht ins Ausland fahren dürfen, und vor allem so behandelt werden, als hätte man etwas verbrochen.

Überdies sprechen arbeitslose Akademiker selten über ihre soziale Lage – weder privat noch gar öffentlich. Jörg Becker, ein deutscher Politikwissenschaftler, ist eine rare Ausnahme. Er äußert sich zumindest über seine arbeitslosen Bekannten: dreißig, vierzig hochqualifizierte Wissenschaftler seien darunter, die außer gelegentlicher kleiner Aufträge mit sehr geringem Stundenlohn, keinerlei Verdienstmöglichkeiten hätten. Sie alle seien letztlich auf das Einkommen ihrer Partnerinnen angewiesen – zumeist verbeamtete Lehrerinnen. Becker fragt, was denn das Gerede von der Elitenförderung solle, wenn man die wissenschaftliche Elite jetzt schon sozial und finanziell verbluten lässt. Man könne die deutsche Republik bereits mit solchen „freiberuflich“ tätigen Spitzenkräften zupflastern! Und das seien nicht nur Geistes- und Sozialwissenschaftler, also nicht nur „Pinscher“ und „Schwätz-Wissenschaftler“, wie sie von Politikern gern genannt werden, sondern genauso Ingenieure, Informatiker, Betriebswirte und Bankfachleute. In Österreich sieht es da sicher nicht viel anders aus.

Aus der Unterschicht-Debatte darf also keineswegs abgeleitet werden, die Zugehörigkeit zur Mittelschicht schütze vor Chancenlosigkeit! Das Klima der Aussichtslosigkeit, von der Misik schreibt, ist folglich von viel größerer Tragweite. Was aber macht den Mythos von der Wichtigkeit der Bildung so unerschütterlich? Warum wird uns ständig eingebläut, wir hätten gefälligst lebenslänglich zu lernen, ansonsten wir zum alten Eisen kämen, und die ganze Nation ins Hintertreffen? Die Erfolgsstory der allerorts geforderten Bildung sehen die Münchner Pädagogikprofessoren Karlheinz Geißler und Frank Michael Orthey in ihrer Tradition von Aufklärung und Emanzipation. Aber was ist heute daran noch emanzipatorisch? Gelehrt, gelernt und geforscht wird doch nur mehr, was verkäuflich ist, was sich am besten verwerten lässt. Es geht also um pure Nützlichkeit und Anpassung an die Vorgaben einer in vielem fragwürdigen Wirtschaft. Und gelernt soll werden, was einem angeblich beruflich nützt. Es wird suggeriert, Arbeitslosigkeit sei nur eine Frage der Behebung individueller Defizite. Wenn der Erfolg trotz Bildung ausbleibt, habe ich das Falsche gelernt. Zurück an den Start!

Aber das Heer der Arbeitslosen erhofft sich von Bildung nicht nur eine Jobchance, sondern all die Aus- und Weiterbildungen dienen oft schlicht ihrer Existenzberechtigung. Diese wird ja Arbeitslosen als nicht vollwertige Mitglieder der Gesellschaft abgesprochen. Positiver Nebeneffekt dieser Pflichtübung: die eine Hälfte ansonst Arbeitsloser schult die andere Hälfte. Es lebe das potemkinsche Dorf! Wir simulieren Vollbeschäftgung!

So wird Bildung zur Fortsetzung der sinnlosen Lohnarbeitstretmühle mit anderen Mitteln degradiert. Geißler bringt es auf den Punkt: „Das lebenslange Lernen ist eine Form, das Leben zu umgehen.“ Der Bildungswahn entpuppt sich somit als die Kehrseite des Arbeitswahns. Aber war es nicht ein uralter Menschheitstraum, weniger arbeiten zu müssen? Haben wir das nicht mit all den Rationalisierungen angestrebt? Da sich die Reichtumsproduktion längst von der Arbeit entkoppelt hat, ist es höchst an der Zeit, unsere Reproduktion, unser Auskommen völlig neu zu gestalten.

Maria Wölflingseder ist Pädagogin. , seit sechs Jahren brotjoblos; Redakteurin in der wertkritischen Zeitschrift Streifzüge, Mitherausgeberin des Buches „Dead Men Working“ (Unrast Verlag).