Mit Gemüse gegen Ford & Co.

von Andreas Exner

Detroit, einstiges Zentrum der US-Autoindustrie, ist heute eine Metropole des Verfalls. Der industrielle „Fortschritt“ ist am Ende, die Stadt versinkt in Elend und Gewalt. Doch nach jedem Winter kommt ein Sommer: Detroit Summer.

Wo die wirtschaftliche Peristaltik kollabiert und sich der industrielle Arbeitsmagen übergibt, da entlässt er die Menschen in eine Welt der Kälte. Der verheißungsvolle Warenglanz der Geschäftsregale entpuppt sich als die Kehrseite einer unbeschreiblichen sozialen Ödnis. Sie ist die „Gefangenenkolonie“ all jener, die nicht mehr in der Lage sind, die Geld-Ware-Schranke zu passieren, und doch in Abhängigkeit vom Ressourcen-Monopolisten namens „Markt“ verbleiben. Die Kassa ist ein Richterstuhl, der keine Berufung kennt.

Ganze Regionen verlieren im Zuge der globalen Standortkonkurrenz ihre „systemische Wettbewerbsfähigkeit“: Lohnkosten und Steuern sind „zu hoch“, die Gewerkschaften „zu stark“. Ehemals geschlossene Produktionsstätten zergliedern sich im Kampf um das rückläufige Marktwachstum und werden schlank und schlanker. Wandern die Betriebe in billigere Regionen ab, dann hinterlassen sie einen „sozialen Körper“, dem buchstäblich die „Lebensenergie“ abhanden kommt. Denn bis in ihr Innerstes hängt die moderne Lebensweise von Profitproduktion und Wachstum ab.

Von Marx zu Boggs? Vor uns sitzt Grace Lee Boggs. Vor uns, das heißt vor der kleine Runde einer Tagung zu „Prozessen sozialer Selbstorganisation“ im herbstlich trüben Köln. Boggs spricht über Detroit, wo die Neunzigjährige seit mehr als 50 Jahre wohnt. „Marx hatte ein Konzept für seine Zeit, und ich habe eines für die unsere“, so zitierte sie „Die Tageszeitung“.

Detroit ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn eine Industrieregion im globalen Wettbewerb den Kürzeren zieht. In den 1950ern lebten in Detroit zwei Millionen Menschen. Heute sind es weniger als eine. Shea Howell, eine Mitstreiterin von Boggs, erzählt: „In einigen Stadtteilen musst Du aufpassen, dass Du keine Wildtiere überfährst“. Tausende Häuser stehen leer, der öffentliche Raum verfällt. Von den rund 5000 Obdachlosen haben etwa 1000 Aids. Detroit, das ist beinahe ein Synonym für Depression und Gewalt, „the first domino to fall“, wie ABC-Reporterin Diane Sawyer 1990 für die Zukunft US-amerikanischer Städte prognostizierte.

Detroit irritiert. Jemand aus der Runde fragt nach „den Möglichkeiten im Dienstleistungssektor“ – es gäbe doch ein Automobilmuseum… Howell lacht: „Ja, es ging gerade Bankrott.“ Die Stadt ist verschuldet bis über beide Ohren, ebenso der Bundesstaat. Bush hat die spärlichen Sozialleistungen noch einmal radikal gekürzt. „Die Menschen stehen vor dem Nichts“, so Boggs.

Enttäuschung. In der ersten Jahrhunderthälfte war Detroit gewissermaßen ein Schrittmacher des Kapitals. 1915 hatte Henry Ford ihm in River Rouge eine Kathedrale erbaut: Die teuerste Fabrik für das billigste Auto. Seine eigenen Arbeiter sollten es sich leisten können – eine simple Formel, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Kern des „Wohlfahrtskapitalismus“ bildete. In River Rouge arbeiteten auf 1.115 Hektar bis zu 105.000 Menschen. Wie so viele glaubte auch Grace Lee Boggs daran, dass die Arbeiterklasse beständig wachsen würde – vereint durch die Fabriksarbeit, unaufhaltsam auf dem Weg zum Sozialismus. „Ich wollte Teil einer amerikanischen Revolution sein“, sagt Boggs, „einer Revolution, in der die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Autofabriken die Kämpfe der 1930er Jahre auf eine höhere Ebene heben würden: im Kampf um eine Kontrolle der Produktion.“ Gemeinsam mit dem Arbeiteraktivisten Jimmy Boggs engagierte sie sich im Black Power-Movement. 1967 erlebte sie die Rebellion der Schwarzen in Detroit, und deren Niederschlagung durch die Armee.

Zum weißen, patriarchalen Arbeitermarxismus behielten beide Boggs Distanz: Ohne den Kampf der Schwarzen, der Frauen und der Jugendlichen war für sie an Emanzipation nicht zu denken. Doch schon Anfang der 1970er Jahre wurde den beiden klar, dass ihre Idee von Revolution nichts mit der Realität zu tun hatte. Grace Lee Boggs erinnert sich: „Anstatt mehr zu werden, wurden die Arbeiter weniger. Anstatt sich zu vereinen, individualisierten sie sich“. Sie wollten keine Revolution, sondern Autos.

Black Power? 1973 wurde der erste schwarze Bürgermeister gewählt, Coleman Young. Black Power zeigte Wirkung. Doch Youngs Karten waren schlecht, denn der Fordismus stand gerade am Anfang seines Abgesangs. Automatisierung, Marktsättigung und die internationale Konkurrenz bedeuteten einen Niedergang der „Motor City“, dem der soziale Verfall auf dem Fuße folgte. In den 1980ern startete Young Investitionsprogramme: Für ein General Motors-Werk, für den Aufbau einer Spielkasino-Branche. Doch diese Bemühungen scheiterten, nicht zuletzt am Widerstand der „Community Opposition“ – „ewige Neinsager“ nannte sie Coleman Young. „Was ist denn eure Alternative? „, fragte er. Doch Jimmy und Grace Lee Boggs wussten, was sie wollten: Gemeinschaften, die Entscheidungen nicht mehr länger der Politik oder dem Markt überlassen.

Blühende Gärten. In den letzten Jahren entstand im verwaisten Detroit eine Vielzahl an Projekten, die versuchen, eine solche Produktions- und Lebensweise zu entwickeln. Dazu zählt etwa Detroit Summer, ein „multikulturelles, intergenerationelles Jugendprogramm“, das seit 1992 existiert. Jugendliche arbeiten in Gemeinschaftsgärten, renovieren Häuser, nehmen den öffentlichen Raum wieder in Besitz und machen „Poetry for Social Change“. Hip-Hop spielt dabei eine große Rolle.

Der Boden für eine kulturelle Innovation sei gut in Detroit, meint Boggs, denn „die Verwüstung fordert uns nicht nur heraus“, sondern „gibt auch Raum für Neues“. Die Erfahrung jedoch zeige, „dass Antworten weder von Regierungsbeamten noch von Politikern kommen können.“ Eine breite Bewegung setzt sich deshalb für eine kollektive und regionale „Self Reliance“ in der Güterherstellung sowie für „Urban Agriculture“ ein. Mittlerweile werden in tausenden innerstädtischen Öko-Gärten Lebensmittel produziert. Für Grace Lee Boggs und Shea Howell geht es dabei allerdings nicht allein um Gemüse, sondern vor allem auch um den Aufbau von Gemeinschaft, Schritt für Schritt. Denn daran mangelt es in Detroit zuallererst.

Living for Change. Auf Grace Lee Boggs faltigem Gesicht liegt ein Hauch von Indian Summer, aus ihren Augen strahlt die Erfahrung eines beharrlichen Lebens für die Revolution. Höhepunkt und Fall des Arbeitermarxismus hat sie hautnah miterlebt. „Revolution der Arbeiterklasse! „, „Schwarze an die Macht! “ – das alles ist für sie Vergangenheit. „Wir sind an einem jener großen Wendepunkte der Geschichte“, sagt sie. Fortschritt, das sind für Boggs weder höhere Löhne noch größere Häuser. Für sie geht es vielmehr um ein „seelisches Wachstum“ via „Community Building“ und gemeinsamer Selbstversorgung. „Amerika muss einfacher leben, damit andere einfach leben können“, sagt Boggs – und lächelt.

erschienen in: Progress, ÖH-Bundeszeitung, 08/05, leicht veränderte Fassung