Vorneweg oder hintennach?

Österreich als Modell marktradikaler Projektionen

von Franz Schandl

Die Deutschen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Galten sie einst als die beneidenswerten und reichen Geschwister, so nimmt man sie in Österreich zusehends als arme Verwandtschaft wahr. Anstatt dass die Österreicher nach Deutschland schauen, blicken nun die Deutschen nach Österreich. Österreich ist in. Galt das Land in Zeiten der Sanktionen als der letzte Dreck, so gilt es fünf Jahre später als das Vorbild schlechthin. Schnell ist das gegangen. Was ist geschehen? Nicht einmal die Regierung wurde ausgetauscht. Oder ist das alles auch gar nicht so wichtig? Geht’s vielleicht um was anderes?

Wenn Ideologen des Kapitals Lunte riechen, geraten sie ins Schwärmen: „Gerade die Stimmungslage unterscheidet die beiden deutschsprachigen Nachbarländer. Vom bundesrepublikanischen Post-Milleniums-Fatalismus ist südlich der Alpen nichts zu spüren“ schreibt Henrik Müller im Manager-Magazin. „Österreich empfindet sich als eine Nation im Aufbruch. Als sich 1989/90 die Grenzen nach Osten öffneten, konnte sich das Land aus seiner Lage am äußersten Ostrand der westlichen Hemisphäre – politisch eingeklemmt zwischen den militärischen Blöcken, ökonomisch fest im Schlepptau Deutschlands – befreien.“

Abgesehen davon, dass die meisten Österreicher nicht südlich, sondern nördlich und östlich des Alpenhauptkamms wohnen, sind auch hierzulande mehr die sozialen Einbrüche als die wirtschaftlichen Aufbrüche zu spüren. Da werden jedenfalls Gefühlslagen halluziniert, die den mutmaßlichen Trägern gar nicht erst bekannt sind. Für seine geopolitische Lage, die günstiger nicht sein könnte, kann Österreich auch nicht viel, auf jeden Fall war das kein Akt der Selbstbefreiung. Aus einer Randlage ist man nach 1989 ins Zentrum des Kontinents gerutscht. Das hat man nicht bewerkstelligt, es ist einem in den Schoß gefallen. So wurde Österreich en passant zum ersten Kriegsgewinnler der Umbrüche in Osteuropa.

Zu einer europäischen Drehscheibe wurde Wien (und Umgebung) auch aufgrund infrastruktureller Vorzüge, die dem Markt mehr nützen als er ihnen. Wien, das ist der in den Osten am weitesten vorgeschobene Teil des Westens. Im Krieg der Standorte liegt Österreich also ganz gut im Rennen. Vor allem eins ist von ganz entscheidender Bedeutung: Österreich hat keine DDR geschluckt. In einer Welt, wo die Siegerregionen sich zusammenzoomen, war die territoriale Einverleibung des zweiten deutschen Staates durch die Bundesrepublik Deutschland ökonomisch betrachtet ein schwer verdaulicher Brocken.

Nicht nur in Geographie und Psychologie, sondern auch in Geschichte demonstrieren die neoliberalen Apologeten der Alpenrepublik ihre Unkenntnis. Aber das macht nichts, dafür versetzen sie Berge, Stimmungen und Zusammenhänge. Denn von Public Relations verstehen sie eine Menge. Das ist ihr Terrain und Geld haben sie genug. Es ist offensichtlich, dass es hier mehr um Ideologie als um Realität geht. Österreich ist ein Argument, das besticht, weil die Leute bestechlich sind. Das Kampagnen-Österreich ist ein Land, das in diversen Werbeagenturen entstanden ist, und dem dann im medialen Realszenario Leben eingehaucht wurde. Worauf man blickt, ist das Bild, das einem vorgehalten wird. Wichtig ist nicht, was ist, wichtig ist, was die Leute glauben.

In Österreich wurde das, was heute unter dem Begriff „Sozialreformen“ firmiert keineswegs schneller und effizienter durchgezogen, nimmt man die marktradikalen Ansprüche als Richtschnur. Die Einschnitte fielen im Vergleich zu Deutschland sogar um einiges moderater aus. Allerdings war die Ausgangslage eine andere. Österreich ist nicht vorneweg, sondern hintennach. Was sein Nachteil nicht ist. Der soziale Kahlschlag ist bisher deswegen weniger drastisch ausgefallen, weil der Handlungsbedarf geringer gewesen ist. Schwarz-blau-orange war nicht erfolgreicher als rot-grün, es agierte unter anderen Bedingungen. Vor allem ist die Finanzkraft von Bund, Länder und Gemeinden noch nicht so erschöpft wie beim Nachbarn. Was das Verhältnis von Markt und Staat betrifft, ist dieses in Österreich auf jeden Fall ausbalancierter als in Deutschland. Das hat sich allem ideologischen Getöse zum Trotz auch unter der Regierung Schüssel nicht entscheidend verändert, wenngleich die Privatisierer und Outsourcer Oberwasser haben.

Festzuhalten bleibt, dass die Verwertungskrise des Kapitals das Land weniger stark getroffen hat als Deutschland. Das ist ein gradueller Unterschied, kein prinzipieller. Die in der marktliberalen Propaganda ausgeschlachtete empirische Differenz ist Voraussetzung nicht Folge. Mitnichten eine, die sich auf eine richtige oder falsche Politik zurückführen ließe. Schüssel hat nichts besser gemacht als Schröder. Entwicklungen und Maßnahmen weisen in Österreich und Deutschland wie überhaupt in Europa in die gleiche Richtung. Die Arbeitslosenzahlen steigen, das Gesundheits- und das Bildungswesen geraten aus den Fugen, eine Pensionsreform jagt die nächste, Sozialleistungen werden gekürzt. Das Modell Österreich gibt es nicht.

Vergessen wir auch nicht, dass 1999, als erstmals die österreichische Wirtschaftsleistung pro Kopf die der Deutschen überstieg, noch die Große Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Viktor Klima regierte. Auch die geringere Arbeitslosigkeit ist nicht eine Kreation jüngsten Datums. Aber um das alles geht es nicht, es geht vielmehr darum, dass die neoliberale Front in Deutschland ein Instrument gefunden hat, mit dem sie aggressiv aufzutrumpfen versteht. Die Wiener Regierung klatscht dem – wie könnte es anders sein – Beifall. Österreich ist der Popanz einer deutschen Kampagne. „Deutschland kann mehr“ heißt es in einem Inserat der berüchtigten „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, in der ZEIT vom 17. November. Und wie positioniert man solch ganzseitige Anzeige? Am besten direkt neben den vor einigen Wochen eingerichteten Sonderseiten zu Österreich. Zufall?