Vom Jammern

Über notwendige Differenzierungen

von Franz Schandl

Angeblich jammern die Leute, insbesondere die Deutschen, zuviel. Das ist Unsinn. Wo die Welt ein Jammertal ist, kann gar nicht genug gejammert werden. Wer nicht jammert, das gilt es ganz kategorisch festzuhalten, ist krank. Der Jammer ist zu bejammern, was denn sonst. Das Problem ist also überhaupt nicht, dass gejammert wird, sondern lediglich, dass erstens das Jammern beim Jammern verbleibt, Ventil ist, selbst nicht zum Zündfunken von Reflexion und Kritik wird. Und zweitens, wie gejammert wird: Das Jammern ist in der Unart seines Gegenstands befangen. Schon aus diesem Grund hat es nichts Befreiendens an sich, wirkt selbst beklemmend, mehr als eigene Störung denn als Störung des Störenden.

Die Aufgabe der Kulturindustrie und aller sonstigen Ideologie-Regimenter besteht darin, uns das Jammern auszutreiben. „Nur nicht jammern“, wer kennt ihn nicht, diesen Satz. „Bloß nicht lamentieren! „, verkündet auch das positive Denken, das nichts anderes will als das Negative positiv deuten und ja keine weiter gehenden Überlegungen anstellen. Positiv denken meint das Negative gut zu heißen. Die Allmacht der Affirmation liegt darin, dass tagtäglich von allen Gesellschaftsmitgliedern positiv, d. h. ganz im Sinne der herrschenden Matrix und ihrer Vorgaben, gehandelt werden muss. Die Analogisierung funktioniert auf der Ebene, dass das, was geschieht, wohl schon seinen Sinn haben muss, denn sonst würde es ja nicht passieren. Positives Denken regiert auch die Köpfe der Kritiker.

Schon von Kindesbeinen werden wir trainiert, nicht nur etwas auszuhalten (das ist durchaus sinnvoll), sondern alles durchzuhalten. Das Leben gilt es nicht zu leben, sondern die Zumutungen zu überstehen. Man denke bloß an Dummsprüche wie: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Keinen Schmerz kennen zu wollen, bedeutet auch, ihn ungehemmt verbreiten zu dürfen, da man ja den anderen ebenso zumutet, was einem zugemutet wird. Das Unzumutbare sich und anderen anzutun ist ein bürgerlicher Imperativ. Wir müssen uns zusammenreißen. In doppeltem Wortsinn. Wir sind abgestumpfte Unwesen sondergleichen. Das ist freilich unerträglich und darf auch nicht akzeptiert werden. Der Mensch ist nicht so, aber er wurde so abgerichtet.

Wenn es dem bürgerlichen Subjekt schlecht geht, dann hat es gelernt, dieses Gefühl entweder umzuinterpretieren oder zu verdrängen. Es darf nicht sein. Schon die Alltagsfrage „Wie geht es dir? “ funktioniert als rhetorische Frage, die nur eine Antwort zulässt: Gut hat es einem zu gehen, was denn sonst. Die Erkundigung nach dem Befinden ist keine nach der Befindlichkeit, sondern eine Kontrollfrage die gesellschaftliche Rolle betreffend. Eine Floskel, die schon die Antwort vorwegnimmt.

In einer falschen Gesellschaft wird auch falsch gelitten. Es gilt, das Leiden an sich heranzulassen (es ist ja auch da! ), sich ihm aber nicht zu überlassen. Das Leid akzeptieren und das Leiden zu bekämpfen. Nur das Anerkannte kann negiert werden, nicht das Verleugnete. Den Jammer ernst nehmen, sich aber nicht ihm hinzugeben, das ist keineswegs eine leichte Aufgabe. Da mag die Verdrängung näherliegend sein. Wir sind konditioniert den Jammer zu ertragen, aber das Jammern nicht ertragen zu wollen. Umgekehrt wäre besser: Die Leute sollen also nicht einfach mit dem Jammern aufhören, sondern Zustände schaffen, damit sie mit dem Jammern aufhören können, Wer dialektisch denkt, denkt heute so: Nein zum Jammer, ja zum Jammern!