Kapitalismus-Kritik ist das noch lange nicht!

von Martin Scheuringer

Das menschliche Gehirn hat nur eine begrenzte Kapazität, Information aufzunehmen. Ist sie zuviel, so kann der Verstand keine Begriffe mehr bilden, die das Mannigfaltige sinnvoll zusammenfassen. In der „Kapitalismusdebatte“ wird nun der ultimative Versuch gestartet, die Ordnungsleitung des Denkens mit Worthülsen ins Wanken zu bringen. Das Feuilleton ist bloß fähig, Kapitalismus, Nationalismus und soziale Marktwirtschaft als vollkommen verschiedene Dinge zu betrachten, und die Politik projiziert alles Böse auf bestimmte Investoren. Die solcherart beschuldigten Manager wiederum bescheiden ihren Kritikern „Realitätsferne“ und preisen unsere Welt als die beste aller möglichen.

Die gängigste Differenzierung ist die gefährlichste: „Soziale Marktwirtschaft“ sei etwas anderes als „Kapitalismus“. Worin der Unterschied in der Substanz zu finden ist, bleibt schleierhaft, gestritten wird um Akzidenzien: das situationsbedingte Anhängsel der unveränderlichen Substanz. Wird über die Akzidenzien gestritten, so setzen die Diskutanten die Substanz als notwendig Seiendes voraus.

In jener Form des Kapitalismus, die „soziale Marktwirtschaft“ genannt wird, hat eine Volkswirtschaft das Glück, so viel Profit zu erwirtschaften, dass der Staat einen Teil davon umverteilen kann. Dieser historisch einmalige Zustand dauerte wenige Jahre und wird in Österreich „Austrokeynesianimsus“ genannt – in Deutschland gar „Wirtschaftswunder“.

Somit ist die Einmaligkeit dieser Epoche schon im Begriff angedeutet. Die Annahme, dass damals Wohlstand für alle herrschte, ist nur aus unserer relativ schlechteren Situation heraus zu verstehen. Das heißt nur, dass es damals vielen besser ging, aber noch lange nicht, dass es allen gut ging.

Ein erster Versuch, die zu Grunde liegende Substanz des Kapitalismus begreiflich zu machen, könnte so aussehen: Marx hat seinem 3 bändigen Hauptwerk „Das Kapital“ auch einen wenig bekannten Untertitel gegeben. Er will seinen Ansatz handele als eine „Kritik der politischen Ökonomie“ verstanden wissen. Beide Institutionen, die Politik wie auch die Ökonomie (Staat und Markt) werden von ihm als notwendig zusammengehörend gedacht. Die Stoßrichtung seiner Kritik geht gegen eine zu Grunde liegende gemeinsame Substanz, die eine Vergesellschaftung in diesen Formen erst möglich macht. Diese Art von Forschung wirkt in unserem positivistischen Zeitalter verstaubt, ist sie doch eine metaphysische.

Im Kapitalismus haben alle Dinge eine von ihren natürlichen Eigenschaften unabhängige zusätzliche Qualität, die für deren Verkehr in der Gesellschaft entscheidend ist. Zu den empirischen Qualitäten wird eine soziale – der Wert – hinzugedacht, die ihre allseitige Austauschbarkeit zum Ausdruck bringt. Denn der gerechte Tausch – Basisideologie des Markthandelns – braucht ein quantitatives Maß. Um Tauschen zu können, muss man von allen sinnlichen Qualitäten des Dings abstrahieren, und das Maß am Wert nehmen, der seine quantitative Bestimmung aus der für die Produktion des Dings in der Gesellschaft durchschnittlich notwendigen Zeit erhält. Das ist eine schwierige Prozedur, die viel Lebenszeit und eine komplexe gesellschaftliche Organisation erfordert: Das Zusammenspiel von Markt und Staat.

Fragt sich, warum wir den Austausch von Gütern durch einen so komplexen Mechanismus gestalten. Diese zusätzliche Qualität wird erst mit einem ontologiekritisch gerüsteten Denken als eine konstruierte erkennbar: Geschaffen wird sie durch die reale Abstraktion des Marktraumes: „Tauschhandlung und Gebrauchshandlung schließen einander in der Zeit aus.“ [.. ]“Indem die Tauschhandlung die Trennung vom Gebrauch, genauer: von Gebrauchshandlungen unterstellt, postuliert sie also den Markt als zeitlich und örtlich bemessenes Vakuum an menschlichem Stoffwechselprozess mit der Natur.“ . Daher meint Marx: „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, dass sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.“ .

Radikale Alternativen zu dieser Theologie und Ontologie der Ware sind folglich nur mit einem ontologiekritischen Denken und Handeln verwirklichbar.

Von diesem Niveau der Kapitalismusanalyse sind viele Feuilletonisten und Soziologen weit entfernt. Ihr positivistischer Denkstil kappt genau diese Verbindung zum dem Grund, der die Vergesellschaftung in den Formen Markt und Staat erst nötig macht. Sie sind abhängig vom Wert. Ohne diese Grundlegung zerfällt daher die Gesellschaft in widerstreitende Institutionen, deren Zusammenwirken nur hilflos mit oft mystisch anmutenden Motiven erklärt wird: „Wertekonsens“, …

Auch Münte bewegt sich, wenn er Investoren angreift, argumentativ unterhalb des philosophischen Reflexionsniveaus. Er müsste viel präziser argumentieren, um wirklich eine Kritik an der Substanz leisten zu können. Vergleicht man ihn mit Wilhelm Tell und den Kapitalismus mit dem Apfel, so zielt er nicht auf den Apfel, sondern auf den Kopf des Wilhelm Tell.

Der nostalgische Politiker versucht mit einem pseudokämpferischen Auftreten vorwärts in die verklärte Vergangenheit zu kommen, indem er Manager mit niederen Tieren vergleicht, die vom Volk als „Ungeziefer“ empfunden werden. Aus einer substanziell kapitalismuskritischen Perspektive betrachtet kritisiert Münte bloß das flüchtige Kapital, das Marx mit einem scheuen Reh verglich. Der Antisemitismus vergleicht es mit den Juden. Ob Münte weiß, wie seine personalisierende Kritik von der Rechten gedreht werden wird?

Vermutlich nicht, denn er hat eine Liste erstellt: Was damit tun? Will die SPD und ihre außerparlamentarische ATTAC – Fraktion diese Leute nun an den Pranger stellen, lynchen, steinigen… ? Werden dann die Manager von Heuschrecken zu Schafen, die aus Angst vor dem Staat mit ihrer Wiese – den Arbeitern – ordentlicher „haushalten“? Solche sozialistischen Utopien werden zu Recht zurückgewiesen. Eine Moral, die sich aus Angst vor angedrohter Gewalt erhält, hat mit Freiheit wenig zu tun.

Von den Niederungen der sich als Kritik tarnenden Heilkur für die SPD-Seele wollen wir nun noch mal in die Schwindel erregenden Höhen der „Realmetaphysik“ (Sohn-Rethel) steigen und sehen, was Marx sagen würde, wenn Personen mit der abstrakten Substanz der Gesellschaft identifiziert werden.

„Die Gestalten von Grundeigentümer und Kapitalist zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen.“ „Als bewusster Träger dieser Bewegung [der Akkumulation von Kapital] wird der Geldbesitzer Kapitalist. Seine Person, oder vielmehr seine Tasche, ist der Ausgangspunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. Der objektive Inhalt jener Zirkulation – die Verwertung des Wertes – ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Verrichtungen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital.“

Wer Personen angreift, ist niveaulos, weil er die Menschen mit den Strukturen identifiziert. Er greift nicht den Wert, den Grund und zugleich Zweck des Kapitalismus an, sondern seine Mittel – die Träger des Wertes. Die Individuen gehen in ihrer Besonderheit immer über die abstrakten Strukturen des Kapitalismus hinaus, sie sind nicht nur verallgemeinerte und abstrahierte Ausführende der Verwertung des Wertes. Daher wird die Anpassung an Markt und Staat als Einengung der Individualität erlebt und muss auch so gedacht werden.

Auf die „Kritiker“ antworten die „Realisten“, also jene, die die Identifikation mit diesem Realitätsprinzip sowie dessen Ordnung gut heißen. Auch sie machen uns ein Angebot: die „Chancengleichheit“. Nicht jeder soll in Wohlstand leben und glücklich werden. Aber jeder darf das hoffen. Sofern er reiche und aufopferungswillige Eltern hat, die ihm eine teure Ausbildung finanzieren, nie gegen seinen Chef aufbegehrt, sein Leben der Arbeit hingibt, das Glück hat, nicht gekündigt zu werden, und dann über ausreichend Geld verfügt, um sich ein teures Haus als Schlafstatt nach der Arbeit und einen Urlaub leisten zu können, in dem sich die aufgeschobenen Streitereien der Beziehung entladen können. Eine Familie gründen und seine Persönlichkeit entfalten, das kann man auch noch in der Pension, nachdem man sie sich 45 Jahre lang vom Mund abgespart hat. Ja, dies ist eine „zutiefst menschliche Ordnung“ (SZ vom 6. Mai 2005), wie Jürgen Hambrecht richtig sagt. Realmetaphysik forever!