Es war an der Zeit

Ein Buch über die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg beleuchtet gleich mehrere dunkle Flecken in unserem Geschichtsbild.

von Lothar Galow-Bergemann

Man spricht mit Selbstverständlichkeit vom Weltkrieg, aber dass es wirklich einer war, bleibt weitgehend unbewusst. Mehr noch, die Rede legt unfreiwillig etwas von der Vorstellung offen, die man von der Welt hat. Schon die zeitliche Begrenzung auf die Jahre 39 bis 45 ist eurozentristisch, begann er doch in Afrika bereits 1935 mit Mussolinis Überfall auf Äthiopien und endete in China erst mit der Gründung der Volksrepublik 1949, während er in Vietnam mehr oder weniger nahtlos in einen 30jährigen antikolonialen Befreiungskrieg überging. Wenn Prinz Kum’a Ndumbe III, Professor an der Universität Jaunde in Kamerun im Vorwort des hier behandelten Bandes über die „Forscher aus den wohlhabenden Staaten“ schreibt, sie „unterliegen bewusst oder unbewusst einem stillen Rassismus, der sie dazu verführt, Geschehnisse außerhalb ihres eigenen `Wohlstandszentrums` als wenig relevant für ihre Arbeit zu betrachten“, so trifft das nicht nur auf die Historikerzunft zu. Er beschreibt nichts als den allgemeinen Bewusstseinsstand in der „ersten Welt“. Die VerfasserInnen der jüngst bei Assoziation A erschienenen Dokumentation „Unsere Opfer zählen nicht – Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ haben den Scheinwerferkegel nicht nur auf einen großen dunklen Fleck in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in den Köpfen fast aller politisch-historisch interessierten ZeitgenossInnen – jedenfalls in „unseren“ Regionen – gerichtet.

Birgit Morgenrath, Karl Rössel und ihre MitstreiterInnen vom Rheinischen JournalistInnenbüro haben in jahrelanger aufwendiger Recherche rund um den Globus sehr viel empirisches Material, Fotografien und Aussagen von Zeitzeugen aus Asien, Ozeanien, Lateinamerika, der Karibik und dem Nahen Osten zusammengetragen. Entstanden ist ein trotz seines Umfangs von über 400 Seiten gut lesbares, außerordentlich informatives, teilweise fesselndes Werk, das sehr nach Standardliteratur riecht, die schon bald als grundlegendes Muss für alle gelten könnte, die sich künftig nicht nur mit dem Thema Zweiter Weltkrieg, sondern generell mit der Geschichte der Globalisierung befassen wollen.

Hand aufs Herz – wem hierzulande ist bewusst, dass dieser Krieg 21 Millionen Chinesen den Tod brachte? Wer weiß, dass der 8. Mai 1945, der Tag der Befreiung in Europa, in Afrika ein Tag der Trauer ist: Tausende von Menschen wurden an jenem Tag in Algier durch die französische Armee massakriert, weil sie es wagten, auf die Straße zu gehen, um die von De Gaulle versprochene Freiheit einzufordern. Wer weiß von Giftgaseinsätzen der Italiener in Äthiopien, von koreanischen Kindersoldaten, von der Judenverfolgung durch das Vichy-Regime in den französischen Kolonien oder von der Vertuschung japanischer Biowaffenversuche an tausenden Chinesen durch die USA, weil diese nach dem Krieg möglichst geräuschlos in den Besitz dieser „Erkenntnisse“ gelangen wollten?

Das Buch ist im besten Sinne parteiisch. Es ist aus der Sicht der Menschen der so genannten Dritten Welt geschrieben, die als Arbeitssklaven, Zwangsprostituierte, billiges Kanonenfutter oder schlichtweg Opfer bestialischer Massaker herhalten mussten. Die AutorInnen haben gleichermaßen erschütterndes und erhellendes Material darüber zusammengetragen wie auch über den wenig aussichtsreichen Kampf der Überlebenden um Anerkennung ihrer Leiden, Entschuldigung und Entschädigung.

Das Buch benennt ungeschminkt den Rassismus der Alliierten gegenüber den Millionen Nicht-Weißen, die in ihren Armeen und an ihrer Seite kämpften. Trotzdem bleibt es keineswegs „neutral“ gegenüber den Hauptkontrahenten dieses Krieges. So etwa, wenn es sich dem Umgang mit Schwarzen durch die Deutschen und durch die US-Armee widmen. In diese nämlich, so wird die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) resümierend zitiert, wurden „Afroamerikaner … einberufen, um als Soldaten zweiter Klasse ihre bürgerlichen Rechte zweiter Klasse im Namen der Demokratie gegen den Faschismus zu verteidigen“. Die Deutschen hielten ihre schwarzen Kriegsgefangenen prinzipiell getrennt von den weißen, behandelten sie noch wesentlich unmenschlicher, exekutierten viele von ihnen gleich an Ort und Stelle oder auch erst nach vielfältigen Demütigungen und Foltern. Etwa die Hälfte von ihnen kam in den deutschen Lagern ums Leben, ihre Todesrate lag deutlich über der der weißen Gefangenen. „Normaler“ Rassismus ist schlimm genug, aber wie groß war dennoch der Unterschied zum Nationalsozialismus, wo Schwarze von „bürgerlichen Rechten zweiter Klasse“ noch nicht einmal träumen konnten. Dass sich das bereits 1935 formulierte „Endziel“ der „Ausscheidung aller Personen artfremden Blutes aus dem deutschen Volk“ in der Nachkriegs-BRD ungebrochen großer Beliebtheit erfreute, verschweigen die AutorInnen ebenfalls nicht: 1950 diskutierte man im Bundesinnenministerium ernsthaft den Plan, die „Mischlingskinder“ schwarzer US-Soldaten und weißer deutscher Frauen „nach Afrika oder Amerika zu bringen“.

Historisch-politisches Neuland, wenn nicht die Untergrabung so mancher Gewissheit dürfte für nicht wenige das Kapitel „Naher Osten“ bereithalten. Das reichhaltige Material zur Vorkriegs- und Kriegsgeschichte Palästinas erschüttert so manchen antiimperialistischen und antizionistischen Mythos nachhaltig, der sich bis heute auch in der Linken hält. Die Bilder, die den religiösen und politischen Führer der Palästinenser der 30er und 40er Jahre, Hadji Assan el-Husseini, im gemütlichen Plausch mit Hitler oder mit deutschem Gruß beim Abschreiten einer Kompanie bosnischer SS-Soldaten zeigen, werden sicher so manchen überraschen. Genauso wie die Information, dass der Großmufti bis Anfang 45 in Berlin residierte und sich inklusive Beamtenapparat und Radiosender von den Nazis aushalten ließ. Auch sorgte er durch wiederholte persönliche Intervention bei führenden Nazigrößen dafür, dass zehntausende osteuropäische Juden nicht nach Palästina ausreisen konnten, sondern in die Vernichtungslager geschickt wurden. „Der Mufti war ein ausgemachter Feind der Juden und machte kein Hehl daraus, dass er sie am liebsten alle umgebracht hätte.“ Der spätere Präsident des Palästinensischen Nationalrates konnte sein antisemitisch inspiriertes Wirken bis zu seinem Tode 1974 ungehindert fortsetzen; Arafat bezog sich bis zuletzt positiv auf ihn.

Dass der afrikanische Kontinent eine weitaus größere Rolle im Krieg spielte, als sich hinter den Namen Rommel und El Alamein verbirgt, gehört ebenfalls zu den spannenden Entdeckungen, die das Buch bereithält. Afrikanische Bodenschätze waren heiß umkämpft – Industriediamanten, Kobalt, Blei, Uran, Chrom, Mangan, Vanadium, Platin und Kupfer. So hatten die Nazis sehr konkrete Pläne für ein deutsches Kolonialreich „Zentralafrika“ vom Atlantik bis zum Indik und bereits im Sommer 1940 hatten sie über 1000 Kolonialbeamte ausgebildet, um dieses binnen kürzester Zeit verwalten zu können. Die bis heute so katastrophale „Eingliederung“ Afrikas in die weltweite kapitalistische Ökonomie als Reservoir für die mächtigen Staaten wurde, mehr noch als durch die Kolonialgeschichte, durch diesen Krieg geprägt: Umstellung der landwirtschaftlichen Produktion auf den Export nach Europa, Vernachlässigung der Subsistenzwirtschaft mit der Folge von Nahrungsmittelknappheit und Landflucht.

Auch wer sich politisch und geschichtlich gebildet glaubt, wird in aller Regel nicht geringe Lücken bei sich selber bemerken, wenn er das Buch zur Hand nimmt. Seine Lektüre bietet die Chance für eine wirkliche Horizonterweiterung hin zu einem umfassenderen Verständnis des Zweiten Weltkriegs als eines globalgeschichtlichen Ereignisses, welches bis heute seine langen Schatten in praktisch jeden Winkel der Erde wirft und ohne dessen Berücksichtigung und Verarbeitung es keine emanzipatorische Praxis geben kann.

Rheinisches JournalistInnenbüro: „Unsere Opfer zählen nicht“. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg; herausgegeben von Recherche International e. V. , ISBN 3-935936-26-5, April 2005, Assoziation A, Berlin/Hamburg, 444 Seiten 29,50 Euro